Klimawissenschaft Text: jrm | Bild: Vera Diener

Wissenschaft und Politik – Weggefährtinnen oder Widerspruch?

Eine Debatte prägte das Wahljahr 2019 wie keine andere: Tausende Jugendliche nehmen sich die Strassen, politisieren, blockieren und rücken die drohende Klimakatastrophe ins politische Rampenlicht. Manchmal belächelt, oft kritisiert wurde diese neue Generation von Aktivist*innen. Nun, nach fast zwölf Monaten ist klar: diese Bewegung verschwindet nirgendwo hin.

Trotz kompromisslosem und zuweilen brutalem Vorgehen gegen Klima-Aktivist*innen – mensch denke an Repressalien gegen Aktivist*innen in Zürich, Basel -, die Klima-Bewegung erfährt breite Unterstützung. Nicht nur in der politischen Auseinandersetzung verkörpern die Aktivist*innen des Klimastreiks den Gegenpol zu Klimaleugnenden Wutbürger*innen. Stets schwingt das Credo mit: «Listen to the science.» – «Höre auf die Wissenschaft.» Wer auf die Geschichte der Umweltbewegung zurückschaut, mag wenig erstaunt sein: Seit Jahrzehnten kämpfen Klimawissenschaftler*innen an vorderster Front für die gesellschaftliche Anerkennung der bevorstehenden Katastrophe. Offen bleibt die Frage, welche Rolle die naturwissenschaftliche Gemeinschaft in politischen Kämpfen inne hat. Ein Gespräch mit Professor Thomas Stocker, Präsident des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung der Universität Bern.

m*: Herr Stocker, wie schätzen sie das diesjährige Wahlergebnis ein? Haben wir es hier mit einer Richtungswahl zu tun?

Stocker: Das ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls haben wir es mit einer grossen Veränderung zu tun. Das ist die Konsequenz des in den letzten zwölf Monaten erwachten Bewusstseins. Die Stimmbeteiligung hat den Trend weniger gezeigt, das Zeichen war jedoch deutlich. Es wird stark davon abhängen, was die veränderten Mehrheiten in den nächsten vier Jahren erreichen. Ob eine konstruktive, verantwortungsvolle Klimapolitik daraus entspringt oder die Debatte in Scheingefechte versinkt, wird sich zeigen. Das CO2-Gesetz ist aktuell sicher das wichtigste Geschäft.

m*: Welche Massnahmen müssen jetzt beschlossen werden?

Stocker: Wir kennen das Ausmass der Emissionen genau. Beispielsweise im Gebäudesektor – dort wurden sie reduziert. Diese müssen schneller gesenkt werden. Politisch ist der Wille nun hier, Ölheizungen zu ersetzen, ein Fortschritt im Vergleich zu den letzten zehn Jahren. Im Verkehrssektor sind Treibstoffe bisher Massnahmen entkommen. Der Verkehr in der Schweiz ist verantwortlich für einen Drittel der Emissionen. Dort wird es eine Lenkungsabgabe geben müssen. Ich könnte mir eine umfassende Steuerreform vorstellen. Emissionen könnten regional unterschiedlich gewichtet werden. So müsste man beispielsweise berücksichtigen, welche Regionen gut mit dem ÖV erschlossen sind und fossile Emissionen dort entsprechend stärker besteuern.

m*: Wie vermeiden wir, dass sich Grossverbraucher*innen aus der Verantwortung ziehen, wie dies bei der Energiestrategie 2050 und Energiegesetze in Deutschland absehbar ist?

Stocker: Hier müssen wir genau hinschauen. In der Schweiz wurden einige freiwillige Zielvereinbarungen von Grossverbrauchern eingehalten, beispielsweise von der Papierindustrie. In Hinsicht auf geplante CO2-Abgaben wurde dort viel investiert, was Ersparnisse bei den Emissionen zur Folge hatte. Zugegebenermassen wurden hier eher niedrig hängende Früchte geerntet, weshalb dies der einzige Sektor ist, bei dem freiwillige Massnahmen funktioniert haben. Alle müssen eine Transformation durchmachen, Grossverbraucher können nicht abseits stehen. Bestimmungen und Anreize müssen her. Die Atmosphäre darf nicht länger Entsorgungsort für Treibhausgase sein.

m*: Was haben Fake News und zunehmende Wissenschaftsverdrossenheit miteinander zu tun?

Stocker: Sogenanntes Expertentum hat in der Gesellschaft Gegenwind bekommen. Davon sind auch wir Klimawissenschaftler*innen betroffen, wobei in diesem Thema der Gegenwind von bestimmten Kreisen geschürt wird. Viel davon hat mit den klaren Resultaten und Messungen zu tun. Diese machen evident, dass wir eine fundamentale Transformation bei der Art und Weise wie wir Energie zur Verfügung zu stellen, vollbringen müssen, sofern wir den Klimawandel bremsen wollen. Je klarer diese Gewissheit, desto grösser der Widerstand der Kräfte, die sich am Status Quo festklammern. Populismus hat ihnen zusätzlichen Aufwind verliehen. In Amerika hat dieser dazu geführt, dass die Kohleindustrie wieder gross gemacht wird.

m*: Wessen Aufgabe ist es, diese Interessengruppen beim Namen zu nennen?

Stocker: Viele Leute beteiligen sich an dieser Aufgabe, beispielsweise NGOs. Fridays for Future ist hier völlig überraschend mit einer neuen Stimme auf den Plan getreten. Viele sind noch nicht stimmberechtigt, aber erheben ihre Stimmen als künftig betroffene Generation absolut berechtigt. Eine neue Mischung des politischen Diskurses ermöglicht der Bewegung, eine andere Richtung als NGOs, Parteien und die Wissenschaft einzuschlagen. Die Naturwissenschaft nimmt nicht am politischen Diskurs teil. Wir nehmen den Auftrag wahr, der uns 1988 von der UNO erteilt wurde: transparent und umfassend über den Klimawandel zu informieren. Dadurch definieren sich natürlich politische Handlungsfelder. Falls nach dem Artikel 2 der Klimakonvention von 1994 verhindert werden soll, dass gefährliche Wechselwirkungen des Menschen auf das Klimasystem entstehen, dann müssen wir die Treibhausgasemissionen auf Netto Null runterfahren. Das ist keine politische, sondern eine völlig wissenschaftliche Aussage.

m*: Haben wir, die in der westlichen Welt leben, eine besondere Verantwortung die Forderung nach Klimagerechtigkeit umzusetzen?

Stocker: Betrachtet man dies aus der Perspektive des globalen Kohlenstoffbudgets, sehen wir: Die am meisten wirtschaftlich entwickelten Staaten sind für die kumulativen Emissionen verantwortlich. Klimagerechtigkeit kann naturwissenschaftlich definiert werden: Jene Nationen, welche kumulativ am meisten Emissionen verursacht haben, müssen die nötige Transformation zuerst vollziehen. Sie müssen zeigen, dass ein hoher Lebensstandard mit Kreislaufwirtschaft und erneuerbaren Energien gewährleistet werden kann.

m*: Kann das Wachstum denn weitergehen?

Stocker: Manche Sektoren müssen wachsen – beispielsweise erneuerbare Energien – damit der Anteil der fossilen Energie reduziert werden kann. Wir müssen definieren, welches Wachstum gemeint ist. Rein jenes des Bruttoinlandproduktes? Diese Frage ist eine Gesellschaftliche und Wirtschaftswissenschaftliche. Unendliches Wachstum kann es jedoch nicht geben. Unsere Ressourcen sind beschränkt. Die Wirtschaft muss gebremst werden, um sie in einen Kreislauf einfügen zu können. Stoffe sollen gebraucht, nicht mehr verbraucht werden. Nichts mehr wird Abfall sein, sondern zu Wertstoffen umgewandelt werden.

m*: Wird uns der technische Fortschritt aus der Krise führen?

Stocker: Alleine nicht. Konsumzyklen haben sich grenzenlos beschleunigt. Wir kaufen alle zwei Jahre ein Handy, werfen Unmengen in den Abfall. Die Konsumspirale muss gebrochen werden. Konsum auf diesem Niveau kannten wir vor fünfzig Jahren noch nicht.

m*: Wo sehen Sie die Gründe für die Explosion des Konsums?

Stocker: Ein Teil davon steckt wahrscheinlich in der menschlichen Natur. In den Nachrkriegsjahren haben wir ein System geschaffen, das dies benötigt.Teilweise geht das System von diesem Konsum aus. Er wird durch Werbung teilweise aufrecht erhalten. Individuelle Entscheidungen spielen ebenfalls eine starke Rolle. Trotzdem stimmen die Preise nicht mehr. Produkte sind zu günstig – und zwar auf Kosten billiger Arbeitskräfte, deren Arbeit wir ausgelagert haben.

m*: Wie sollte die naturwissenschaftliche Gemeinschaft mit der Bewegung auf der Strasse mitmischen?

Stocker: Greta Thunbergs Motto ist «Listen to the Science». Hätten wir unsere Arbeit nicht gemacht, könnte niemand zuhören. Meiner Meinung nach bringt es wenig, wenn wir Forschende von der grossen Bühne den Menschen zurufen. Unsere Arbeit im Hintergrund ist einerseits wichtig. Andererseits können wir in unseren Artikeln punktuell ansprechen: Was die Klimastreikenden machen, ist super – sie sind ausgezeichnet informiert. Ein anderes Beispiel: Ich war in Glarus an einem Gymnasium, 500 Personen besuchten den Vortrag. Das hat möglicherweise einen Anstoss gegeben, für etwas, was dort bisher nie geschehen ist: Ein amtierender Ständerat wurde abgewählt. Sowas bringt mehr, als wenn ich Gegner*innen mit meinen Auftritten eine Plattform biete. Es ist viel wichtiger, wenn wir primär das bestmögliche Wissen zur Verfügung stellen.