Migration Text: she | Bild: Simea

Mit aller Härte

Wer ohne Schweizer Pass in der Schweiz lebt und Sozialhilfe bezieht, riskiert damit seine Aufenthaltssicherheit. Im Kanton Bern wurden seit 2016 über 150 Bewilligungen wegen Sozialhilfebezug widerrufen. Mit dieser Praxis bekämpft die Schweiz nicht die Armut, sondern die Armutsbetroffenen.

Seit 2010 lebt Manuel (1), der aus Brasilien stammt, in der Schweiz. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. Lange Zeit ist er erwerbstätig, dann geht der Betrieb Konkurs und er verliert seine Stelle. Manuel bemüht sich eine neue Stelle zu finden, was sich als schwierig herausstellt. So wird er von der Sozialhilfe abhängig und muss sich vor einer Wegweisung fürchten: weil er Sozialhilfe bezieht, droht das Migrationsamt ihm, seine Aufenthaltsbewilligung nicht weiter zu verlängern – und dies, obwohl seine Familie in der Schweiz lebt.

Manuels Schicksal – das von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht dokumentiert wurde – ist bei weitem kein Einzelfall. Denn wer in der Schweiz auf Sozialhilfe angewiesen ist, kann die Aufenthaltssicherheit verlieren. Dabei kann zum Beispiel eine C-Bewilligung, welche grundsätzlich einen unbegrenzten Aufenthalt in der Schweiz ermöglicht, auf eine B-Bewilligung zurückgestuft oder direkt widerrufen werden. Wer über eine B-Bewilligung verfügt, die einen zeitlich begrenzten Aufenthalt erlaubt, kann sogar ausgeschafft werden. All das bloss, weil die Person auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Dabei ist wichtig festzuhalten: es handelt sich hier keineswegs um Sozialhilfebetrug, sondern um sogenannten unverschuldeten Sozialhilfebezug. Betroffen sind Personen, die unter Umständen jahrelang in der Schweiz gearbeitet haben und aufgrund einer Notlage auf das Sozialversicherungssystem angewiesen sind. Eigentlich sollte die Sozialhilfe diese Menschen in Notsituationen unterstützen. Das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) erlaubt es jedoch, sie aufgrund von Sozialhilfebezug zu bestrafen. Dies stellt für Kaspar Surber von der WOZ das «grösste Versagen des Schweizer Sozialstaates der Gegenwart» dar.
Ein anderer Fall sorgte Anfang Jahr für Schlagzeilen. Es ist die Geschichte von Mudza Gwen, die in den neunziger Jahren aus dem Kongo in die Schweiz geflüchtet ist. Heute hat sie zwei erwachsene Töchter, die ebenfalls in der Schweiz leben. Seit der Trennung von ihrem Mann im Jahr 2015 bezog Mudza Gwen Sozialhilfe, weswegen ihr nun die Ausschaffung droht, wie ihre Tochter Anoushka im März dem Basler Onlinemedium Bajour erzählt. Die Begründung: Sie würde die Integrationsfaktoren des AIG nicht erfüllen, durch ihre Schuldenlast gegen die öffentliche Sicherheit verstossen und aufgrund ihrer Sozialhilfeabhängigkeit die öffentliche Hand stark belasten. Dass ihre beiden Töchter in der Schweiz leben und eine Ausschaffung das Menschenrecht auf Familie verletzt, sieht das Migrationsamt Baselland nicht ein. Das Familienleben könne auch von der Demokratischen Republik Kongo aus per Telefon aufrechterhalten werden, argumentiert die Behörde.
Noémi Weber von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht kennt solche Geschichten zur Genüge. «Das wirtschaftliche Wohl der Schweiz geht oft über alles», sagt sie. Wenn Migrant*innen nicht länger in den Arbeitsmarkt integriert werden können und somit der Wirtschaft nicht mehr dienlich seien, sind die Behörden oftmals der Ansicht, dass sie das Land verlassen sollen. Entsprechend häufen sich in ihrer Beobachtungsstelle Fälle von Personen, die aufgrund von Sozialhilfebezug Probleme mit ihrem Aufenthaltsstatus haben. «Der Sozialhilfebezug ist in diesen Fällen nicht selbstverschuldet. Trotzdem werden die Migrant*innen dafür bestraft», empört sich Noémi Weber.
Obwohl Schweizer*innen und Nicht-Schweizer*innen in das Sozialversicherungssystem einzahlen, sind die Gefahren bei einem Sozialhilfebezug für Nicht-Schweizer*innen deutlich höher: Sie riskieren ihre Aufenthaltssicherheit. Durch diese Verbindung von Migrations- und Sozialhilferecht entsteht ein Zwei-Klassen-Sozialstaat. Die menschenfeindliche Idee dahinter ist, dass Migrant*innen das Schweizer Sozialhilfewesen nicht belasten sollen. So wird die Sozialhilfe als Mechanismus der Migrationskontrolle zweckentfremdet.
Der Kanton Bern ist dabei kein unbeschriebenes Blatt. Das megafon hat beim kantonalen Migrationsamt nachgefragt, wie viele Personen in den letzten Jahren wegen der Sozialhilfe Probleme mit ihrem Aufenthaltsstatus gekriegt haben. Und siehe da: Seit 2016 wurden im Kanton Bern in 138 Fällen eine B-Bewilligung und in 20 Fällen eine C-Bewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug widerrufen und die betroffenen Personen weggewiesen. Diese Zahl beinhaltet dabei keine Fälle aus den Städten Thun, Bern und Biel, da diese Städte über eine eigene Fremdenpolizei verfügen und die Zahlen nicht dem Kanton melden. Das Total der Fälle ist deswegen sehr wahrscheinlich höher.
Bei Migrant*innen führt diese Praxis zu grosser Unsicherheit. Denn durch das AIG wurde ein Kontrollmechanismus geschaffen, der Migrant*innen davon abhalten kann, Sozialhilfe überhaupt zu beziehen – obwohl ihnen diese juristisch zusteht. «Viele der Betroffenen sind Working Poor, krank oder verunfallt. Das Gesetz kann dazu führen, dass sie auf Sozialhilfe verzichten», sagt Noémi Weber. «Das ist ein Teufelskreis!»
Tatsächlich zeigen Daten, dass der Sozialhilfebezug von Migrant*innen in den letzten Jahren stetig abnahm. Mehr als ein Drittel der Migrant*innen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, haben auf diese verzichtet. Ein häufiger Grund ist dabei die Angst, ausgewiesen zu werden. Das AIG ist also ein Mittel der sozialen Kontrolle: durch die Drohkulisse der Aufenthaltsunsicherheit bringt es Migrant*innen dazu, auf staatliche Transferleistungen zu verzichten, selbst wenn sie Anspruch darauf hätten.
Die Verknüpfung von Sozialhilfe und Migrationsregulierung ist keine neue Erfindung. Doch im Jahr 2019 wurde sie mit der Revision des AIG – das zuvor «Ausländergesetz» hiess – nochmals verschärft. Bis dahin konnten Menschen mit einer C-Bewilligung diese nach 15 Jahren nicht mehr wegen Sozialhilfebezug verlieren. Ihr Aufenthalt in der Schweiz war somit relativ sicher: Er geriet, zumindest nach 15 Jahren, auch dann nicht in Gefahr, wenn sie in eine Notlage gerieten und von der Sozialhilfe abhängig wurden. Diese Frist wurde 2019 abgeschafft. Nun werden die Folgen dieser Revision sichtbar. Und so rechnet Noémi Weber mit einem weiteren Anstieg solcher Fälle.
Die Revision von 2019 war nur möglich, weil die SVP zuvor jahrelang eine menschenverachtende und realitätsferne Drohkulisse aus «kriminellen Ausländern» und «Sozialschmarotzern» aufbaute. Unterstützt wurde sie bei dieser Revision – wenn wundert es – von der FDP. Unsoziale Vorstösse zum Thema Sozialhilfe haben bei der FDP immer noch Hochkonjunktur: So hat die FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Frühjahr eine erneute Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes vorgeschlagen. Damit soll unter anderem die Sozialhilfe für alle Menschen aus Drittstaaten – also von ausserhalb der EU und des EFTA-Raums – gekürzt werden, wenn sie diese in den ersten drei Jahren nach Erteilung ihrer Kurzaufenthalts- oder Aufenthaltsbewilligung beziehen. Als Begründung schiebt Karin Keller-Sutter Sparmöglichkeiten für Gemeinden und Kantone vor. Tatsächlich würden sich mit dieser Revision insgesamt jedoch lediglich 5 Millionen einsparen lassen – auf Kosten der Verletzlichsten. Das zeigt: es geht um soziale Kontrolle und nicht um Geld.
Immerhin hätte der Nationalrat in der kommenden Herbstsession die Chance, die Revision von 2019 zum Teil rückgängig zu machen. Eine parlamentarische Initiative von SP-Nationalrätin Samira Marti fordert, dass Menschen mit einer C-Bewilligung diese nach 10 Jahren nicht mehr verlieren können, wenn sie unverschuldet Sozialhilfe beziehen. Dies wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Viele Menschen, die seit langem in der Schweiz leben, könnten so ohne Angst vor negativen Konsequenzen Sozialhilfe beziehen. Darüber diskutiert wird im September – ein guter Moment also, dem Parlament diesen Monat genau auf die Finger zu schauen.

1 Name wurde geändert.