
Was «Grenze» bedeutet, scheint auf den ersten Blick klar zu sein. Sie trennt Gebiete voneinander ab, aber auch Menschen, Gesellschaften, Begriffe, Ideen. Dabei unterscheidet die Grenze diese zunächst einmal produktiv, gerade weil durch Grenzen die Dinge erst zu dem werden, was sie sind: Ich bin ich, weil ich nicht du oder die anderen bin; unser Platz am Bahnhof, in der Badi oder im Nachtleben ist nicht der eure, euer Land ist nicht unser Land und so weiter. Eine Grenze ist per se weder ein unüberschreitbares Etwas noch eine ewiggültige Trennlinie, sondern erst einmal ein soziales Phänomen. Ein Phänomen, das verhandelbar ist, sei es, dass es im Konsens verändert (bzw. die «Grenze verschoben») wird oder sei es, dass diese Grenze von an ihr Beteiligten überschritten oder sogar bekämpft wird. Zunächst: ob Grenzen nun generell «gut» oder «schlecht» sind, ist gar nicht so einfach und hängt immer vom Kontext, der begrifflichen Verwendung sowie der eigenen sozialen Position ab. Wenn eine Grenze eine*n vor Unangenehmem schützt, die eigene Unversehrtheit gewährt, gibt es wenig, was gegen sie spricht. Wenn sie einen aber einschränkt, im Alltagshandeln, in der Mobilität, psychisch, sozial, politisch, materiell oder in einer Mischform, dann gibt es einleuchtenderweise wenig, das für sie spricht. Einerseits stehen Grenzen also für das Bewahrende, Schützende, Identitätsschaffende, was womöglich Gefährliches abwehrt. Andererseits steht sie für die Beschränkung von Möglichkeiten bis hin zur Einsperrung, für (gewaltsame) Teilung oder für imaginäre Wüsten, in denen nichts gedeihen kann. Der Einfachheit halber beschränke ich mich hier auf den Grenzbegriff, der sich mit Räumen, beispielsweise Staatsgrenzen, beschäftigt, beziehungsweise gehe ich von ihm aus.
Vor dem Ersten Weltkrieg
Bis zum aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert in Europa waren Grenzen gewissermassen «fliessend». Es gab zwar unterschiedliche Hoheitsgebiete, allerdings waren an den wenigsten dauerhafte Grenzpolizist*innen oder Zäune aufgestellt, Papiere wie Pässe oder Identitätskarten steckten ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Die Mobilität war dementsprechend einfacher zu bewerkstelligen für die Menschen, was das angeht. Die Staaten führten auch noch keine systematischen Karteien, die die eigene Bevölkerung erfassten (und damit erst «Einheimische» und «Fremde» erschufen!). Ebenfalls verändert über die letzten Jahrhunderte hat sich das «Grenzland», also die Region oder die Gegend, in der die Grenze bereits Wirkmächtigkeit entfaltet. Vor der Erfindung der Kartografie und dem Ziehen von «harten» Grenzen kam zwischen zwei räumlichen Einheiten oft eine Art Niemandsland oder Zwischenland, ein gewissermassen undefinierter (Frei-?)Raum, der niemandem gehörte. Heute grenzt die Schweiz an Frankreich, und dazwischen ist per Definition nichts: Die Grenze trennt nicht nur, sie klebt prinzipiell auch zwei andersartige Dinge aneinander. Allerdings gilt es auch, einen anderen historischen Dauerbrenner zu benennen: Enteignung und soziale Abwertung gilt in der kritischen Grenzforschung als ein Kontinuum in Grenzziehungsprozessen. Expandiert eine politische Ordnung – wie ein neuer, sich bildender Staat oder entsteht eine neue, raumfixierte Lebensform wie im Neolithikum, als die Sesshaftigkeit mit dem nomadischen Leben in Konkurrenz trat, verdrängt sie andere Ordnungen. Durch das Schaffen und Ziehen von Grenzen werden «die Anderen» ausserhalb dieser (physischen und sozialen) Einheiten aus- oder eingesperrt. Vielen Migrant*innen und vor allem Geflüchteten geht es heute genauso – entweder sie bleiben «draussen» oder kommen «drinnen» in ein «Zentrum» oder «Lager». Die Grenzziehung nach aussen geht mit einer Grenzziehung nach innen einher.
Nationalistische Verhärtungen
Während und nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich die nationalistisch-imperialistischen Spannungen zwischen den europäischen Grossmächten in einem riesigen Gemetzel entladen. Rachegelüste, Misstrauen und die Konstitution von neuen Machtblöcken zeigten, dass Grenzen ziemlich rasch wieder verschiebbar sind und Länder neugeschaffen oder aufgeteilt werden können. Nicht nur verlor Deutschland Teile seines Staatsgebietes und löste sich die Österreich-Ungarische Monarchie auf, auch im Nahen Osten änderten sich die Grenzen und Frankreich und England zogen die Linien neu. Wo früher das Osmanische Reich dominierte, entstanden nun neue (Kolonial-)Staaten und Mandatsgebiete, was uns auch in direkter Linie zum heutigen Nahostkonflikt um Palästina/Israel führt. Die Kombination von einem Jahrhundert des intensiven Nationalismus‘ mit eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen hatte weite Teile der Gesellschaft stärker an die eigene Nation gebunden, gerade weil die früheren Nachbarn zum «Bösen» oder zu «Erbfeinden» erklärt wurden. Bekanntlich folgte im Zweiten Weltkrieg die nächste, unvorstellbar tödliche und grausame Eskalation der Gewalt. Nach der Zerstörung halb Europas und der Vernichtungspolitik der Deutschen gegenüber Jüd*innen und weiteren Minderheiten, sowie dem Hinterlassen von «Verbrannter Erde» bei den europäischen Nachbar*innen folgte die Dominanz der beiden Blockmächte USA und UDSSR.
Flüchtlingskonventionen, Personenfreizügigkeit – Grenzen im Wandel
Am achten Mai 1945, vor 80 Jahren, endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Die Erfahrungen mit Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen führten zur Gründung der UNO und brachten bis heute wegweisende Dokumente wie die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» oder die Genfer Flüchtlingskonvention. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Westeuropa und eine sich vorsichtig anbahnende europäische Wirtschaftsgemeinschaft veränderte sich die Bedeutung der Grenze innerhalb des eigenen Blocks: Während intern die Grenzen für Geld, Waren und später auch Menschen abgebaut wurden, verhärtete sich die Grenze zwischen den ideologischen Hauptmächten wie beispielsweise in Berlin. Mit dem Fall der Mauer 1989 und der folgenden Implosion der Sowjetunion schien ein «grenzenloses Europa» möglich; die Gründung der EU stand unter einem guten Stern und übte Faszination auf viele EU-Bürger*innen aus (gleichzeitig zeigen Studien, dass bis heute nationale Erzählungen stärker mit der eigenen Identität verknüpft werden, währen die gesamteuropäische Identifikation, wenn überhaupt, erst anschliessend folgt).
Aussengrenzen, Binnengrenzen und «Rebordering»
Bekanntlich sind in der Theorie alle Menschen gleich, in der Praxis aber ist das Gegenteil der Fall. Dies zeigt sich anhand der Grenzforschung besonders eindringlich: Durch ein heute «selbstverständliches» System nationaler Staatszugehörigkeiten, kommt es neben den finanziellen Mitteln auf die richtigen Papiere an, um als Mensch mit Rechten anerkannt zu werden. Denn wer über den Schweizer Pass, einen Französischen, Britischen, verfügt, für den*die stellen die allermeisten Staatsgrenzen kein Hindernis dar. Wer aus Ländern des Globalen Südens kommt, aus Bügerkriegsgebieten oder gar staatenlos ist, kann Grenzen gerade auch in Europa faktisch nur noch illegal überschreiten, weil dieser Status bzw. diese Staatsangehörigkeit von Anfang an von Mobilitäts- und Reisefreiheit ausgeschlossen wird. Das zeigt sich in der weiter verschärften EU-Asylgesetzgebung sowie in den Debatten und Gesetzen der Mitgliedsstaaten. Antworten auf die Ursachen für Migration und Flucht, die dringend benötigt würden, bleiben nebensächlich – es geht um die Schliessung und Kontrolle der EU-Aussengrenzen sowie die Abweisung von Migrierenden. Die Überwachung und Kontrolle der Binnengrenzen sind deshalb aber nicht Geschichte: Im EU-Innern sind die «ständigen Grenzkontrollen» zwar per Schengen-Abkommen ausgesetzt. Allerdings machen heute diverse EU-Staaten Ausnahmesituationen geltend und kontrollieren die Grenzen de facto dauerhaft; Polizei- und Grenzschutzbehörden verfügen über mehr rechtliche Befugnisse und mehr technische Möglichkeiten für mobile Kontrollen im Landesinneren. Die Grenze scheint es also nicht zu geben – sie ist hochgradig relativ. Für Bürger:innen aus den EU-Staaten mögen die Mobilitätshürden deutlich abgebaut worden sein («Debordering»); für «Aussenstehende» ist die «neue» Grenze zur latenten und manifesten Gefahr geworden («Rebordering»). Insbesondere für diejenigen, die in europäischen Ländern auf ein besseres und sichereres Leben hoffen. Festzuhalten bleibt, dass Grenzen wandelbare Konstrukte sind und doppelte Funktion haben: Sie sind Scharniere, sie manifestieren Unterschiede und verbinden das Getrennte. Und obwohl Grenzen an sich eigentlich nicht-existent sind – ausser in Markierungen, Symbolen, auf Karten und in den Köpfen – entfalten sie eine empirische Erfahrbarkeit zwischen Grenzenlosigkeit und dem Eingezäuntsein im Leben der Menschen.
Verweise:
Nail, Thomas. Critical Limology – ein Ansatz kritischer Grenzforschung. In: Gerst, Dominik, Klessmann, Maria, Krämer, Hannes (Hg.). Grenzforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium. 1. Auflage. Baden-Baden 2021, S.475–489.
Eisch-Angus, Katharina: 3 x Grenze. Grenze und Erfahrung im deutsch-tschechischen Forschungsfeld. In: Hengartner/Moser (Hgg.): Grenzen und Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen (Schriften zur sächsischen Geschichte und Landeskunde 17). Leipzig 2006: 239–253.
Verweise:
Nail, Thomas. Critical Limology – ein Ansatz kritischer Grenzforschung. In: Gerst, Dominik, Klessmann, Maria, Krämer, Hannes (Hg.). Grenzforschung: Handbuch für Wissenschaft und Studium. 1. Auflage. Baden-Baden 2021, S.475–489.
Eisch-Angus, Katharina: 3 x Grenze. Grenze und Erfahrung im deutsch-tschechischen Forschungsfeld. In: Hengartner/Moser (Hgg.): Grenzen und Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen (Schriften zur sächsischen Geschichte und Landeskunde 17). Leipzig 2006: 239–253.