megafon | Der Kanton wusste Bescheid

6. August 2020

Der Kanton wusste Bescheid

Text: jrm; eine Reportage der m*-Recherchegruppe
Illus: lka

Am 20. Juli schockieren tragische Bilder die Anwesenden auf dem Berner Bundesplatz. Migrant*innen demonstrieren für die Rechte von abgewiesenen Asylsuchenden – plötzlich steht ein Mensch in Flammen. Dieser Schrei nach Hilfe: kein Zufall. Die Behörden wussten Bescheid – doch niemand hörte dem Betroffenen zu. Der Sicherheitsdirektor schürte Hetze, die Medien stiegen darauf ein. Eine Rekonstruktion der Maschinerie, die Verzweiflung (re-)produziert.

 

Eine kämpferische Demonstration, das zumindest hatten die Aktivist*innen von «Stop Isolation» vergangene Woche geplant. Nach einer ersten grösseren Demonstration am 7. Juli vor dem Staatssekretariat für Migration SEM, bei der Migrant*innen gegen die unmenschlichen Bedingungen in den ihnen bestimmten Rückkehrzentren protestiert hatten, bezeichnete der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller die Gruppe als «undemokratisch» und «unsolidarisch». Ein Affront und ein Versuch des Regierungsrats, die üblichen reaktionären Stimmen rechts zu überholen. So zog die Gruppe am 20. Juli von der Reitschule aus durch Bern, mit dem Ziel, die Sicherheitsdirektion mit diesen Aussagen zu konfrontieren.

Bei einem Zwischenstopp auf dem Bundesplatz tränkt sich K., ein kurdischer politisch verfolgter Flüchtling aus dem Iran, mit einer brennbaren Flüssigkeit. Trotz Zurufen ist der Griff zum Feuerzeug schneller als die umstehenden Menschen. Ein Feuerball entfacht und verschlingt K. kurzzeitig.

Augenblicke später riegeln Polizist*innen den Platz ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit treffen die Rettungsdienste ein. Im Nachhinein wird der Polizeidirektor seinen menschenverachtenden Diskurs nochmals erhöhen und von einer «organisierten Show» sprechen. Dass K. nicht schwerer verletzt wurde, werden die Medien polemisch verwerten. Die eigentliche Geschichte K.s bleibt bis heute unerzählt. Um diesen Verzweiflungsakt zu verstehen, bedarf es eines Sprungs in die Vergangenheit.

 

«8 Franken am Tag. Eine Summe, die in der Schweiz selbst für Hunde zu wenig ist, um zu leben.»

— B.K.

 

Der Kanton kümmert sich nicht um Menschenleben

Recherchen des m* zeigen nun: Der Kanton Bern hätte eingreifen können. Laut einem Schreiben, das dem m* vorliegt, beordert der Migrationsdienst K. zu einem Treffen, das am 10. Juli stattfinden soll. Ebenfalls wird ihm sein Ausschluss aus der Sozialhilfe mitgeteilt – denn mit seinem negativen Asylentscheid vom 19. März 2019 erlischt sein Anspruch auf die Gelder. Gewährt wird nur noch die Nothilfe – laut der Behörde auf der Stufe «minimal» – von 240 Franken im Monat oder 8 Franken am Tag. Für Essen, Kleidung, Schutzmasken, Mobilität und vieles mehr. In den Worten K.s gegenüber dem m*: Eine Summe, die in der Schweiz selbst für Hunde zu wenig sei, um zu leben.

Das Ziel des Treffens an der Berner Ostermundigenstrasse 99B: K.s Rückreise in den Iran vorzubereiten. So verlangte der Kanton Bern die Mitnahme von Passfotos für die Anfertigung von Rückreisedokumenten. Ausserdem wird K. ein Dokument zur Unterzeichnung vorgewiesen, mit welchem er sich für eine Rückkehr in den Iran einverstanden erklären soll. Dazu wird es nie kommen, die Unterschrift verweigert er. Im Gespräch soll K. zu Protokoll gegeben haben: Wenn er in den Iran zurück müsse, wolle er sich vor dem Bundeshaus verbrennen. Im Raum sind drei Personen anwesend, die imstande gewesen wären, die mögliche Selbstgefährdung von K. zu melden.

 

«So kann es anlässlich der Gespräche durchaus auch zu emotionalen Aussagen wie z.B. ‹wenn ich zurück muss, will ich nicht weiterleben› kommen.»

— Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern

 

Zehn Tage später: Im Rahmen der Kundgebung des 20. Juli ist die Kantonspolizei bereits bei der Reitschule vor Ort. Als sich K. anzündet, eilen innerhalb von weniger als zwei Minuten zahlreiche Beamt*innen herbei und riegeln den Perimeter ab. Auf Anfrage sagt Dominik Jäggi, Sprecher der Kantonspolizei Bern, dass die Beamt*innen im Vorfeld Kenntnis der geplanten Kundgebung hatten und im Rahmen der Grundversorgung vor Ort gewesen seien. Eine Selbstgefährdung eine*r Teilnehmer*in sei nicht bekannt gewesen. Der Migrationsdienst hat die Polizei folglich nicht informiert.

Diese Aussagen der Kantonspolizei scheinen mit der Situation auf dem Bundesplatz übereinzustimmen. Die Anzahl und Art der Einsatzkräfte lässt nicht vermuten, dass die Beamt*innen sich der Verbindung zwischen den Aussagen K.s beim Migrationsdienst und der Selbstgefährdung eine*r Demonstrant*in in der Innenstadt bewusst waren: Rettungskräfte wurden im Vorfeld nicht aufgeboten. Niemand ausserhalb der Migrationsbehörde ahnte, dass sich auf dem Bundesplatz brutale Szenen abspielen würden.

Zum Vorwurf, dass der Kanton Bern K.s Ankündigung möglicherweise nicht ernst genommen habe, wollte die Polizeidirektion dem m* gegenüber keine Stellung beziehen, verweist aber auf die Antworten der Polizei und des Migrationsdiensts. Offensichtlich haben die unterschiedlichen Behörden spätestens jetzt miteinander kommuniziert – wohl im Rahmen einer Krisensitzung. Die Antwort des Migrationsdiensts ist dabei besonders zynisch: Das Amt bezeichnet den Erhalt des negativen Asylentscheids und die Planung einer Rückreise als «emotional belastend», und fährt fort: «So kann es anlässlich der Gespräche durchaus auch zu emotionalen Aussagen wie z.B. ‹wenn ich zurück muss, will ich nicht weiterleben› kommen.»

Die Botschaft dahinter könnte klarer nicht sein: Äusserungen, wie jene von K., werden vom Berner Migrationsdienst schlichtweg nicht weiter berücksichtigt. Besonders stossend: Der Kanton Bern scheint seine Kommunikation auch dann nicht anzupassen, wenn Menschen aus Verzweiflung wirklich zur Tat geschritten sind. Auf die Anfrage, wie der Migrationsdienst damit umgehe, wenn Menschen bekundeten, sich etwas antun zu wollen, gehen weder der Migrationsdienst, die Polizeidirektion noch die Kantonspolizei ein. Philippe Müllers Formulierung der «organisierten Show» aus der Zeitung «Der Bund» ist dabei wohl kaum ein Zufall: Er überlegte sie sich offensichtlich kurz nachdem das m* die Sicherheitsdirektion mit dem Vorwurf konfrontierte, der Kanton sei über die Gefahr informiert gewesen. Ein Schelm wer sich denkt, dass der Kanton versucht haben könnte, Enthüllungen zuvorzukommen.

 

Seit Beginn der Aktionen von ‹Stop Isolation’ durchforsten fünf bis zehn Patrouillen am Tag das Zentrum

 

Polizeiliche Überwachung in den Rückkehrzentren

Hinzu kommt: Gemäss Beobachter*innen hat seit Beginn der Aktivität von «Stop Isolation» die polizeiliche Aktivität in den Rückkehrzentren markant zugenommen. Z. aus dem von der ORS AG verwalteten Zentrum in Biel Bözingen bestätigt, dass seit Beginn der Aktionen zwischen fünf und zehn Patrouillen am Tag das Zentrum durchforsten. Vor den Protesten sei dies nur gelegentlich vorgekommen. Das beweisen auch die zahlreichen Videoaufnahmen von Beamt*innen im Zentrum, die dem m* vorliegen.

Die an «Stop Isolation» beteiligten Personen waren also seit Wochen auf dem Radar des Kantons. Bloss nicht, wenn sie nach Hilfe schrien. Die Aufmerksamkeit des Staates bekommen Menschen nicht im Rahmen eines menschlichen Asylverfahrens, sondern nur, wenn sie für die Struktur dieses Asylregimes unbequem werden könnten. Wer zu laut protestiert, gerät in den Fokus der Repression. Hilferufe werden überhört.

 

Die Geschichte von B. K.

Er sei kein Einzelfall, sagt K. Er sei bloss ein Stellvertreter, der sein Leiden mit vielen abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz teile. Ihm sei im Iran nicht bewusst gewesen, dass die Schweiz für ihn zum Gefängnis werden würde. «Im Iran wäre ich einmal gestorben. In der Schweiz stirbst du jeden Tag wieder.»

Für das Asylregime der Schweiz – Migrationsdienst, SEM und Gerichte – spielen diese Geschichten keine Rolle. Auch die Berichterstattung über K. lässt dieses Kapitel beinahe vollständig aus. Wir wollen es anders machen. Eine Geschichte in vier Teilen:

Das Leben im Iran: Bis 2015 lebt K. mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn im Iran. K. ist eigentlich Chefkoch, doch für Kurd*innen ist es im Iran äusserst schwierig, ihren Beruf auszuüben. Die kurdische Minderheit wird in der islamischen Republik systematisch diskriminiert, die kurdische Sprache darf nicht an öffentlichen Institutionen unterrichtet werden. Schon im Iran ist K. politisch aktiv: in der Demokratischen Partei Iranisch Kurdistans (DPK-I). Auf diese sozialdemokratische Partei geht die erste kurdische Republik im Iran zurück. Die Parteigeschichte ist, wie so oft für kurdische Genoss*innen, von Repression und Terror geprägt: Trotz Verhandlungen mit dem Chomeini-Regime seit Ende der 70er, begegnet das Regime den DPK-I-Mitgliedern mit Gewalt. 1989 wird der Parteivorsitzende in Wien bei Verhandlungen mit dem iranischen Staat ermordet. Drei Jahre später wird sein Nachfolger in Berlin von Iraner*innen erschossen.

K. betreibt zusammen mit seinem Bruder einen Laden, in welchem Propaganda gegen das Regime reproduziert wird. Das geht aus einem Urteil des Islamischen Revolutionsgericht hervor, das dem m* vorliegt. K. selbst bestätigt, kurdische Flugblätter und Schriften verbreitet zu haben.

Die Flucht: Eines Tages klingelt das Telefon: Die Sache sei aufgeflogen, die Polizei breche den Laden auf. K. steigt mit seiner Familie ins Auto und durchquert das Land. Zurückfahren wird er nicht. Zu Fuss erreichen sie die Türkei. In Griechenland trennen sich die Wege von K. und seiner Familie. Ein schmerzhaftes Kapitel, worüber er nicht genauer sprechen möchte. Alleine, versteckt in einem LKW, schafft er es in die Schweiz. Seine Partnerin und sein Sohn hingegen werden in Deutschland aufgegriffen und registriert – wegen des Dublin-Abkommens müssen sie dort bleiben.

 

«Im Iran wäre ich einmal gestorben. In der Schweiz stirbst du jeden Tag wieder.»

— B.K.

 

Das Verfahren: Unterlagen des SEM und des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) datieren K.s Asylantrag in der Schweiz auf den 17. März 2017. Etwa ein halbes Jahr lang lebt K. in einer Wohnung. Bloss zwei Monate lang erhält er Deutschunterricht; dabei betont er heute weiterhin, dass er die Sprache so bald wie möglich lernen möchte. Zwischen März und Mai 2017 finden Hearings beim SEM statt. Im März 2019 folgt der negative Asylentscheid, wogegen er im Sommer 2019 Rekurs einlegt. Der Fall geht vor das BVGer.

Als Beweis für seine politische Verfolgung legt er ein iranisches Urteil vor, das ihn zu 6 Jahren Gefängnis und zur anschliessenden Todesstrafe verurteilen soll. Die Vorwürfe: Die Mitgliedschaft in einer verbotenen Partei, die Teilnahme an Propaganda gegen das Regime und dessen religiösen Anführer, die Verbreitung von Flugblättern gegen die islamische Republik. Datiert ist das Urteil auf den 18. Februar 2017, fast zwei Jahre nach der Flucht. K. erklärt, er habe sich die Kopie über seine Schwester zustellen lassen. Das BVGer zweifelt die Echtheit des Urteils an. Die Begründung: Das Datum und die Einschätzung, dass eine Kopie als Beweis nur teilweise einen Wert habe.

Pikant: Um die Echtheit des Urteils in Frage zu stellen, werden vom BVGer Ungereimtheiten in der iranischen Verfahrensführung hervorgehoben. Das zeigt, dass das Gericht in der Annahme handelt, das Islamische Revolutionsgericht befolge strikt rechtsstaatliche Prinzipien. Aus einem Bericht der Internationalen Liga für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 wird jedoch klar, dass das islamische Gericht zwar im iranischen Rechtssystem verankert ist, aber weitgehend autonom von den Organen operiert, die seine Rechtsprechung überwachen sollten. So werden Todesstrafen im Iran, vor allem in politischen Fällen, oft vom Islamischen Revolutionsgericht ausgesprochen.

Eine weitere Quelle – ebenfalls ein*e iranische Kurd*in, der*die in ein europäisches Land flüchten musste – bestätigt, dass die Todesstrafe oft bereits aufgrund der Mitgliedschaft in einer kurdischen Partei verhängt werde. Dieses Schicksal droht auch K. Sein Instagram-Profil umfasst über 4000 Beiträge – über die Hälfte zeigen regimekritische Bilder oder Inhalte der DPK-I. Die ersten noch sichtbaren Veröffentlichungen stammen zwar aus dem Jahr 2017, also aus der Zeit nach der Flucht, doch die Natur der Inhalte macht klar: Eine Rückkehr ist aufgrund des politischen Hintergrunds von K. schlichtweg nicht zumutbar. Sollte die Todesstrafe tatsächlich noch nicht gegen ihn verhängt worden sein, wie das BVGer vermutet, dann dürfte K.s Geschichte spätestens bei einer Rückschaffung in den Iran dazu führen.

Der Negativentscheid: Mit der erwähnten Begründung lehnt das BVGer die Revision von K.s Asylverfahren im Sommer 2020 ab. Die Verfahrenskosten in Höhe von 1500 Franken soll er selbst tragen, sein Gesuch auf partielle Rechtshilfe wird verweigert. Per Ende Juli 2020 folgt der definitive Ausschluss aus der Sozialhilfe.

 

«Ich kenne viele Leute, die mir gegenüber Suizidgedanken geäussert haben.»

— Saeed

 

Es gibt kein Leben im Rückkehrzentrum

Zu diesem Zeitpunkt ist die Gruppe «Stop Isolation» bereits aktiv. Für die abgewiesenen Asylsuchenden ist die Situation in der Schweiz schon lange prekär. Mit der Neustrukturierung des Berner Asylwesens sendet der Staat jedoch eine klare Botschaft: Die neuen «Rückkehrzentren» werden der Sicherheitsdirektion untergeordnet. Dort sollen in den Worten von FDP-Regierungsrat Müller nur abgewiesene Asylsuchende ohne Recht auf Arbeit und Aufenthaltsbewilligung leben. Nur «wirklich verfolgte Menschen» erhalten ihm zufolge Zutritt zu Asylzentren, die der Sozialdirektion untergeordnet sind, zitiert «Der Bund» den Sicherheitsdirektor.

Den Zuschlag für den Betrieb der Rückkehrzentren erhielt ab Juli 2020 die profitorientierte ORS AG. Gegenüber dem Lokalsender TeleBielingue, dem Bieler Tagblatt sowie dem m* sagten Betroffene aus, dass die ORS AG und der Kanton nicht für eine menschenwürdige Unterbringung sorgten. Gegenüber Medienschaffenden zeigen sich weder die ORS, noch der Kanton Bern transparent, wie aus von TeleBielingue zitierten E-Mails hervorgeht. Auf die Fragen des Senders zu den Bedingungen in den Zentren wollten sie keine detaillierten Angaben machen.

Nebst mangelnden Hygienemassnahmen, fehlendem Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen sowie Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, ist die psychische Gesundheit der Insass*innen ständig ein Thema. Vielen mache der Stress ihrer Verfahren oder negativen Asylentscheide so zu schaffen, dass sie unter Schlafstörungen, Depressionen und anderen Beeinträchtigungen litten. Der Fall von K. bestätigt das. Im aktuellen Zustand sieht er in der Schweiz keine Zukunft. Gerne möchte er seine Familie in Deutschland besuchen. Seit über vier Jahren konnte er sie nicht mehr sehen. Saeed aus dem Rückkehrzentrum Aarwangen fürchte sich davor, wie es für einige Menschen in den Zentren weitergehe: «Ich kenne viele Leute, die mir gegenüber Suizidgedanken geäussert haben.»

Selbst wenn sich Verantwortliche wie der Sicherheitsdirektor hinter Paragraphen verstecken, ist ihre Agenda klar: Das System zu stützen, welches diese Verzweiflung reproduziert und Menschen krank macht. Die Spaltung der Migrant*innen in zwei Kategorien soll eine abschreckende Wirkung haben. Frei nach dem Motto: «Der Staat will euch nicht.»

Die Geschichte von K. ist deshalb auch die Geschichte von Tausenden. Für sie bleibt die Hoffnung, dass die Gruppe «Stop Isolation» erst der Beginn einer Bewegung ist. Eine Bewegung, die der Staat so gut wie möglich zu ignorieren versucht – insgeheim aber von Tag zu Tag mehr fürchtet. Auch das zeigen die hilflosen Verunglimpfungen des Polizeidirektors Philippe Müller.

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