Festung Europa Text: Andjelka Gardner | Bild: leo

Die vergessene Region

Die Gewalt an der europäischen Aussengrenze hat viele Gesichter und Orte. Das Mittelmeer, griechische Inseln, aber auch die Wälder in Podlasie. Ein Erfahrungsbericht von der Grenzgewalt in den Wäldern entlang der polnisch-belarussischen Grenze.

Podlasie heisst diese Region in Polen, wo der Winter schon früh Einzug hält. Hier können die Temperaturen bis auf minus zwanzig Grad sinken, in den naturgeschützten Wäldern sind wilde Tiere wie Bisons und Wölfe unterwegs, und die kleinen Häuser werden mit traditioneller Holzarchitektur gebaut. Podlasie ist aber auch die Region, in der sich Polen aktiv an Europas Abschottungspolitik beteiligt und die Militarisierung und Überwachung der europäischen Aussengrenzen vorantreibt. Seit Anfang November sind die Bewegungsmelder am Grenzzaun in Betrieb, um die Grenze zu Belarus unüberwindbarer zu machen.
Wer mit dem Auto durch Podlasie fährt, sieht vor allem weite, flache Landschaften und Wälder, hin und wieder kleine Dörfer. Der östliche Teil von Polen gilt als konservativ und wird oft als die von wirtschaftlichen Entwicklungen vergessene Region bezeichnet. Viele Bewohnende melden sich für die freiwillige Armee WOT, um nach einem sechszehntägigen Training bewaffnet an der Grenze patrouillieren zu gehen. Für Menschen auf der Flucht bedeutet das vor allem eins: Wer nicht aus der Region kommt, fällt sofort auf. Unbemerkt über Felder und Waldwege zu laufen ist fast unmöglich. Allein der dichte Wald bietet zuweilen Schutz.

Wettlauf gegen die Kälte
Ein trügerischer Schutz. Nach mehreren Stunden, ohne gutes Schuhwerk oder warme Winterjacke der Kälte ausgesetzt, ist der Wald kein Refugium mehr. Seit der Fertigstellung des Grenzzauns diesen Herbst ist die Situation noch prekärer geworden: People on the Move klettern über den Zaun, das heisst, über Stacheldraht und eine fünf Meter hohe Mauer. Oder sie durchqueren den Grenzfluss Bug. Die Menschen, die die Überquerung schaffen, gehen in nasser Kleidung bei Minusgraden weiter. Unterkühlung ist unvermeidbar. Regelmässig wird von im Wald erfrorenen Menschen berichtet.
Ist die Grenze in den Wäldern von Podlasie überwunden, folgen weitere. Der Weg geht weiter, denn Polen ist selten das Ziel der Menschen, die nach Europa kommen. Kleine Dörfer, in der Nähe der Grenze, liegen abgeschieden von der langen Hauptstrasse im Wald. Verbunden sind sie durch nicht asphaltierte Waldwege, die in der Schweiz höchstens als Wanderwege gelten würden. Bei Regen sind sie schlammig, Autos bleiben im Matsch der zahlreichen Schlaglöcher stecken. Im Winter bedecken Schnee und Eis die unebenen Fahrwege und stellen einen starken Kontrast zum sonst dunklen Wald dar. Nachts erscheinen die kleinen Dörfer noch abgelegener als sonst. Jeder Lichtstrahl inmitten des Waldes fällt sofort auf. Sei es ein Auto, ein Feuer oder eine Handylampe. Auch das Bellen von Hunden kann zu jeder Tages- und Nachtzeit dazu führen, dass die Bevölkerung die Grenzbeamt*innen informiert und Menschen auf der Flucht einen brutalen Pushback erfahren.

Gegen Propaganda und Militarisierung
Kontakt mit Polizei oder Grenzwache, selbst mit Sanitäter*innen und dem Krankenwagen, führt zum gewaltvollen Pushback der Menschen nach Belarus. Kurze Zeit später werden sie wieder den gleichen Weg über die Grenze einschlagen. Diese Erfahrungen haben auch lokale, solidarische Kollektive und Einzelpersonen gemacht, die seit über einem Jahr an der polnisch-belarussischen Grenze aktiv sind. Über eine Notfallnummer sind sie erreichbar und organisieren humanitäre Hilfe in Form von Suppe, heissem Tee, Handys, Powerbanks, trockener und warmer Kleidung und medizinischer Notversorgung. Aktionskonsens ist längst: Keine Kooperation mit staatlichen Institutionen. Denn dies würde das physische und psychische Wohl von People on the Move gefährden und ihnen ihre Selbstbestimmung absprechen.
Die Arbeit der Aktivist*innen richtet sich nicht nur gegen die Kälte in den Wäldern. Die Gewalt gegen People on the Move passiert im Verborgenen. Pushbacks wurden in der staatlichen Propaganda längst legitimiert: Die Grenzbeamt*innen würden Polen beschützen, Migration wird als Bedrohung dargestellt. Eine Dokumentation der Gewaltanwendungen in den Medien findet nicht statt; die Geschehnisse an der Grenze sollen ausserhalb des gesellschaftlichen Gedächtnisses bleiben. Die Aktivist*innen vor Ort wirken dem entgegen und machen Grenzgewalt sichtbar.
In diesem Spannungsfeld zwischen Verborgenheit und Sichtbarkeit finden die Begegnungen zwischen Aktivist*innen und People on the Move in den Wäldern statt. Die Angst, entdeckt zu werden, ist dabei allgegenwärtig und erschwert oder verunmöglicht ein Beisammensitzen mit ausführlichen Gesprächen. Die Begegnungen sind daher eine Momentaufnahme, eine Überschneidung zweier Welten, der Versuch, sich einander anzunähern. Die Eindrücke aus diesen kurzen Kontakten können der Geschichte dieser Menschen in den Wäldern – ihrem Alltag im Herkunftsland, der Entscheidung dieses zu verlassen, bis hin zur langen Reise nach Europa, den Wünschen, Ängsten und Hoffnungen – nicht wirklich gerecht werden. Da aber eben diese kurzen Begegnungen essenzieller Bestandteil des Widerstands in der podlachischen Region sind, sollen hier zwei dieser Zusammentreffen geschildert werden.

Bereits zehn Tage im Wald
Die Nachricht und der genaue Standpunkt gehen auf der Notfallnummer ein, wenig später macht sich eine Gruppe auf den Weg in den Wald. Bei der Ankunft am Treffpunkt ist noch kein Mensch zu sehen. Nach einer halben Stunde wird Bewegung im Schilf am gegenüberliegenden Ufer sichtbar, eine Person erscheint am Rande des Baches. Alle sind sichtlich erleichtert sich gefunden zu haben und drücken flüsternd ihre Freude untereinander aus. Das Treffen hat geklappt und es geht der Person am anderen Ufer augenscheinlich gut.
Er durchquert das brusthohe Wasser und die kleine Gruppe zieht sich schnell und geduckt in den dichten Wald zurück. Die Begegnung beginnt mit einer Vorstellungsrunde, bevor der heisse Tee aus dem Rucksack geholt wird. Gesprächsthemen sind die Erlebnisse der letzten Tage im Wald. Er ist allein unterwegs, hat seinen Bruder vor zwei Nächten auf der belarussischen Seite in den Wäldern verloren. Zehn Tage seien sie nun in den Wäldern. Vor vier Tagen schafften sie es das erste Mal, die Grenze gemeinsam zu überwinden, wurden aber von der polnischen Grenzwache entdeckt und nach Belarus zurückgepusht.
Während des Gesprächs beginnt er zu zittern. Es ist September, zehn Grad Celsius. Doch bevor er die mitgebrachten trockenen Kleider anzieht, hält er inne und fragt nach seinem Bruder. Ob in den letzten zwei Tagen ein einzelner Syrer im Wald gesehen wurde? Auf diese Frage gibt es leider keine Antwort. Seine Blicke sind voller Angst. Es tut weh, ihn hier und in dieser Einsamkeit wieder allein lassen zu müssen.

Steifgefrorene Jacken
Wem es möglich ist, versucht vor dem Wintereinbruch die Region hinter sich zu lassen. Die Zahl der bestätigten Todesfälle in den Wäldern Polens ist in den letzten 14 Monaten auf 28 gestiegen, über 190 Menschen werden vermisst. Am 21. Dezember 2022 wurde der 66-jährige Jaber Al Jawabra aus Syrien an einem Tor im Grenzzaun zwischen Belarus und Polen tot aufgefunden. Er war zuvor von Polen nach Belarus zurückgepusht worden. Aufgrund der vielen Risiken treten Menschen selten alleine die gefährliche Reise an. Die Gesellschaft in einer Gruppe hilft gegen die Ungewissheit und die Sorgen.
Die vier Personen sitzen verborgen unter einem Baum, als die Gruppe der Aktivist*innen auf sie stösst. Die Nacht zuvor haben sie den Grenzfluss durchquert und sind die ganze Nacht durchnässt durch den Wald gegangen. Seit drei Tagen sind sie in diesem Gebiet unterwegs. Die Temperaturen liegen unter Null Grad Celsius, die Jacken sind an einzelnen Stellen steif gefroren. Eine Person zittert unkontrolliert. Es sei ihr erster Versuch, über die Grenze zu kommen. Sie hätten die Grenzwache gesehen, seien aber nicht entdeckt worden.
Es werden trockene Kleidung, Schuhe, heisser Tee, Suppe und Essenspakete verteilt. Mit tauben Fingern und steifen Gliedern lässt sich die nasse Kleidung nur schwer abstreifen. Kommuniziert wird auf Englisch, Französisch, Russisch und mit Körpergesten: Gesundheit, Sicherheit, Herkunft, Essen, Material, die WM in Katar, die Pläne für die nächsten Tage…
Die zitternde Person ist unterkühlt, erholt sich aber langsam. Es kommt wieder etwas Leben in die Gruppe. Sie haben noch keinen klaren Plan, wie sie weiterkommen, erst einmal einfach aus dem Wald raus. Beim Abschied stehen die Vier auch bereits wieder – bereit für die nächste Etappe. Sie lehnen die Plache ab, die ihnen angeboten wird, damit sie nicht auf dem nassen Boden sitzen müssen. «We won’t sit». Be safe and good luck!
Aktivist*innen schildern, dass die vielen Begegnungen im Wald irgendwann zu einem einzigen Erfahrungshorizont verschmelzen. Selbst für diejenigen, die versuchen, etwas gegen die Gewalt zu tun, ist es bisweilen schwierig die Absurdität der Situation noch wahrzunehmen. Die Einsätze im Wald werden unweigerlich zur Normalität, wobei auch dieser Normalisierungs- und Gewöhnungsprozess das bestehende Machtgefälle und die Abhängigkeiten weiter reproduziert.
Wenn Menschen in den podlachischen Wäldern erfrieren und Grenzbeamt*innen ihre Schlagstöcke gegen sie einsetzen, dann muss auch in der Schweiz davon erzählt werden. Am besten durch die Betroffenen selbst, nicht in den Worten von Weissen, westeuropäischen Personen. Wenn dies nicht möglich ist, braucht es Verbündete, die über die Region hinaus Widerstand leisten und erzählen, sodass diese Realität gehört wird.

Folgende Kanäle informieren über die Situation an den Aussengrenzen in Polen:
Grupa Granica informiert über die aktuellen Entwicklungen an der polnisch-belarussischen Grenze auf Facebook und Twitter.
Das No Borders-Team ist an der Grenze aktiv und involviert in Widerstand gegen die geschlossenen Camps. Informationen und Kontaktaufnahme ist möglich über Telegram: t.me/no_borders_team, ihren Blog: nobordersteam.noblogs.org, oder per Email fightfortresseu_infotour22@riseup.net