Anarchismus Text: dom | Bild: ayla

Vive la Fédération jurassienne!

Vive la Fédération jurassienne!

E s ist kalt und um schneller zu sein, nehme ich die Abkürzung über den Berner Bremgartenfriedhof. Dort sitzt ein altes, bärtiges Männlein auf einem Bänklein. Es sitzt vor einem Grab und prostet dem alten Stein mit Wodka zu. Als es mich sieht, zieht es mich auf seine Bank und fängt an, mir die Geschichte des vor uns begrabenen Mannes und seinem Werk zu erzählen.

Der erste Jurakongress

1871 entstand, durch eine Auseinandersetzung des Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin mit Karl Marx, die Fédération jurassienne. Bakunin gehörte zum antiautoritären Flügel der «Internationalen Arbeiter-Assoziation» (IAA). Er verurteilte den Zentralismus der IAA und kämpfte für eine antiautoritäre, föderalistische Ausrichtung der Gesellschaft. Seine Meinung war, «dass jede politische Organisation nur die Organisation der Herrschaft zum Nutzen einer Klasse und zum Schaden der Massen sein kann, und dass das Proletariat, wenn es sich der Macht bemächtigen wollte, selbst eine herrschende und ausbeutende Klasse werden würde». Diese Ansicht liess sich schlecht mit den zentralistischen Strukturen der IAA vereinen. Am 12. November 1871 organisierte Bakunin mit seinen Kollegen sodann den ersten Jurakongress. Dort berieten sie das Vorgehen zur Bekämpfung der hierarchischen Ordnung der IAA. In dem daraus resultierenden Jurazirkular wurden «die Uebergriffe des Generalrats [der IAA] seit 1869 vorgelegt und seine steigende Tendenz, die Gesellschaft in eine abstufend gegliederte, von ihm geleitete Organisation umzuwandeln ». Als Folge wurden Bakunin, Adhémar Schwizguébel und James Guillaume – alle drei Wortführer der Auseinandersetzung – am Haager Kongress im September 1872 von der IAA ausgeschlossen. Die Juraföderation aber wurde in den 1870er-Jahren zum Zentrum der anarchistischen Bewegung. Im Februar 1872 erschien die erste Ausgabe des «Bulletin de la Fédération jurassienne de l‘Association internationale des travailleurs». Die Zeitung hatte eine Auflage von ca. 600 Exemplaren und erschien wöchentlich. Ihre Botschaft wurde in der Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und den USA verbreitet. 1876 starb Bakunin. Er wurde auf dem Bremgartenfriedhof beerdigt, genau an der Stelle, wo das Männlein und ich nun sitzen und vom anarchistischen Jura träumen.

Hisst die Arbeiter*innenfahne

Ein Jahr nach dem Tod Bakunins zog der russische Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin in den Jura, um sich für die Juraföderation zu engagieren. Er schwärmte vom vielseitigen Aktivismus der Föderation und seinen tatkräftigen Mitgliedern: «Wir hielten zahlreiche Versammlungen ab, für die wir die Programme in den Cafés und Werkstätten selbst austeilten. Wöchentlich hatten wir unsere Sektionssitzung, auf der die lebhaftesten Verhandlungen stattfanden, auch besuchten wir die von den politischen Parteien einberufenen Versammlungen und predigten dort den Anarchismus.» Nebst den Versammlungen und der Arbeit am Bulletin, war auch die Organisation von Demonstrationen wichtig. Von Bedeutung sind die Demonstrationen von Bern und St. Imier 1877, bei welchen es zu Zusammenstössen mit der Polizei kam. Der Grund: Die Demonstrant*innen hissten die Arbeiter*innenfahne in die Luft – was verboten war. Bei dieser Kundgebung in Bern wurden zwei Anarchisten und zwei Polizisten schwer verletzt. Darauf bewaffneten sich die Anarchist*innen für die folgende Demonstration in St. Imier, um ihre Fahnen zu verteidigen. Die Polizei hielt sich dort stark zurück, um eine erneute blutige Eskalation zu vermeiden. Kropotkin sah in diesen beiden Anlässen einen Erfolg. Sie bescherten der Föderation zahlreiche neue Mitglieder und ihre Versammlungen wurden besser besucht. Der Jurabund agierte föderalistisch. Zahlreiche Sektionen – meist nach Dörfern oder Landschaften unterteilt – organisierten sich selbst und vernetzten sich mit anderen Sektionen, so dass ein Bund entstand. Jede Sektion hatte ihre Eigenheiten und eigenen Prinzipien. Die Autonomie jeder Person und jeder Sektion war ein zentraler Pfeiler des Jurabundes. Ein Generalrat oder ähnliche Führungsfunktionen existierten nicht. Laut Kropotkin «fand sich auch dort [im Jura] eine Anzahl von Männern, die scharfsinniger und vor allem tätiger waren, als die anderen, aber das war alles». Natürlich gab es trotzdem informelle Hierarchien. Gerade Kropotkin mit seiner markanten Persönlichkeit wurde dafür kritisiert, zu viel Macht zu haben.

Das Ende der Juraföderation

1876 beschlossen die Anarchist*innen am Berner Kongress die «Propaganda der Tat» (la Propagande par le fait) – gleichbedeutend mit konspirativer Insurrektion – als politische Strategie. Dies rückte den Anarchismus in Bevölkerung, Politik und bei der Polizei zusehends in ein schlechtes Licht. Die «Propaganda der Tat» wurde zwar nicht von allen Akteur*innen vertreten. Die Anarchist*innen gewichteten aber die Toleranz gegenüber den Arbeitsweisen unter den verschiedenen Sektionen höher und distanzierten sich nicht von Aktionen der anderen. Nach drei aufeinander folgenden Attentaten auf Staatsoberhäupter 1878 wurde der Schweiz von den europäischen Regierungen vorgeworfen, Revolutionär*innen und Verschwörer* innen Unterschlupf zu bieten – worauf der Staat den Druck auf die Aktivist*innen verstärkte. Laut Kropotkin fanden dadurch viele – darunter führende Köpfe wie James Guillaume (Lehrer), Adhémar Schwitzguébel (Graveur), A. Spichiger (Uhrmacher) – keine Arbeit mehr und mussten ihre Tätigkeit für die Juraföderation fallen lassen. James Guillaume, einer der zentralsten Vertreter*innen der Föderation, emigrierte 1878 nach Paris. Auch wurden die Schweizer Druckereien angehalten, keine weiteren propagandistischen Schriften für Anarchist* innen mehr zu drucken, so dass die Juraföderation schliesslich ihre Zeitungen aufgeben musste. Die Wirtschaftskrise, von der die Uhreinindustrie zur selben Zeit betroffen war, verschärfte die Situation zudem noch. Ab 1878 verlor die Juraföderation immer mehr an Bedeutung. Im Jahr 1880 fand der letzte Kongress statt. Ich nehme dem wehmütigen Männlein nun die Flasche aus der Hand, trinke einen kräftigen Schluck und halte sie in Richtung des toten Bakunin – vive la Fédération jurassienne!