
Die Idee des Politmonats Abolish! in der Anstadt entstand aus der Motivation heraus, Aufmerksamkeit für abolitionistische Theorie und Praxis zu schaffen.
Es sollten Organisationen, Gruppen und Interessierte zusammenkommen, um sich zu vernetzen, auszutauschen und sich gemeinsam zu bilden. Kollektive wie das GeKo (GesundheitsKollektiv), das Alarmphone Schweiz, Bern4Palestine, Seebrücke Schweiz, Ciné Résistance, WirAlleSindBern und die Gruppe Bewegungsfreiheit für alle! beteiligten sich oder luden ein. Unter den Gäst*innen waren die Aktivist*innen Nekane Txapartegi und Mohamed Wa Baile, Politikwissenschaftler Fabian Georgi, Kulturwissenschaftlerin Serafina Andrew, der Sozialwissenschaftler Daniel Loick, Cuso Ehrich vom Podcast «Hast Du Alles?» und Menschen der venezolanischen Kooperative Cecosesola.
Mit viel Engagement und Zusammenarbeit wurden eine Reihe von Inputs, Vorlesungen, Workshops, Soli-Abendessen, Buchvorstellungen, Kinofilmen, Konzerten sowie eine Fahrradtour / Spontandemo organisiert.
Was ist Abolitionismus?
Es lag bereits ein grosser Teil des Abolish! – Programms hinter uns, als wir uns am Abend des 23. Mai erneut in der Anstadt versammelten. Am Injerastand bildete sich eine Schlange, an diesem Abend schienen besonders viele Menschen den Weg zum Gaswerkareal an der Aare gefunden zu haben.
Die KRK Halle füllte sich mit Menschen – die Rednerin des Abends wurde gespannt erwartet. Vanessa E. Thompson ist Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Black Studies und Social Justice an der Queen’s University in Kanada. Zusammen mit Daniel Loick hat sie im Jahr 2022 den Sammelband «Abolitionismus» herausgegeben, ein wichtiges Buch über das Thema im deutschsprachigen Raum.
In ihrem Vortrag teilte Thompson ihr Wissen über Geschichte und Herkunft des Abolitionismus und gab uns Beispiele, wie und wo heutzutage abolitionistische Ansätze praktiziert werden.
Der Begriff Abolitionismus kann mit Abschaffung oder Aufhebung übersetzt werden. Die Ursprünge abolitionistischer Bewegungen sind auf antikoloniale Kämpfe und Aufstände versklavter Menschen gegen den Plantagenkapitalismus zurückzuführen. Diese fanden seit den Anfängen der Plantagenökonomie statt, denn: «Where there’s oppression, there’s resistance».
In ihrer Analyse differenziert sie zwischen älteren und neueren Abolitionismen. Der neue Abolitionismus bezieht sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Abschaffung staatlicher Gewaltinstitutionen wie Polizei, Grenzen und Gefängnissen. Er bildete sich nach der formalen Abschaffung der Sklaverei in den USA heraus, und sieht die drei oft genannten Institutionen als Kristallisationspunkte, in welchen sich die Repression gegenüber marginalisierten Menschengruppen besonders stark konzentriert. Und die als Instrumente der Verwahrung, Verwaltung und Tötung dienen. Die Zahl der inhaftierten Menschen wächst konstant. Zunehmend wird sozial konstruierten Problemen mit Inhaftierung und Bestrafung begegnet.
Dies ist am Beispiel der USA, welche mehr und mehr als Gefängnisnation gilt, besonders deutlich zu beobachten. Derzeit gibt es dort mehr Menschen in Haft als je zuvor in der Geschichte. Zusätzlich werden nirgendwo auf der Welt so viele Menschen in Gefängnissen festgehalten wie in den Vereinigten Staaten (laut prisonstudies.org kommen auf 100.000 Einwohner*innen 629 inhaftierte Menschen). Von allen inhaftierten Personen sind 38 Prozent Schwarz, obwohl nur 13 Prozent der Gesamtbevölkerung Schwarz ist. Dies veranschaulicht die kolonialen Kontinuitäten in US-Gefängnissen und dem übergeordneten Rechtssystem. Die Masseninhaftierung hat gigantische Ausmasse angenommen und der Bau und die Instandhaltung von Gefängnisinfrastrukturen sind zu einem eigenen Wirtschaftssektor geworden. Die Black Lives Matter - Proteste im Sommer 2020 waren die global bislang grössten antirassistischen Demonstrationen der Geschichte. Durch sie kamen abolitionistische Forderungen auch in Europa in einem breiteren öffentlichen Diskurs an.
Doch auch wenn der Fokus bei Diskussionen über Abolitionismus oft auf den USA liegt – Thompson betont, dass er schon immer eine internationalistische Bewegung war, sie lässt sich nicht auf Nordamerika reduzieren, denn der Plantagenkapitalismus war historisch ein europäisches Projekt. So gab es in Europa seit den Anfängen abolitionistische Bewegungen und solidarische Kämpfe der Arbeiter*innenklasse.
Als neuere Beispiele nennt sie die seit den 1980ern wachsende No Borders – Bewegung, die Gilets noirs in Frankreich und die Berliner Women in Exile Initiative. Women in Exile wurde 2002 von geflüchteten Frauen für geflüchtete Frauen gegründet. Die Gruppe organisiert Workshops und regelmässige Besuche in Geflüchtetenlagern in Berlin – Brandenburg, um im Austausch mit den Betroffenen zu stehen, sich um dringende Bedürfnisse der dort lebenden Frauen zu kümmern und gemeinsam Strategien politischer Veränderung zu entwickeln.
Die Abschaffung von Gefängnissen, Polizei und Grenzregimen ist zwar zentral im heutigen Abolitionismus – doch was ihm zugrunde liegt, so Thompson, ist die radikale Transformation eines kapitalistischen Gesellschaftssystems. Als Motto für den Politmonat wurde daher ein bekanntes Zitat von Ruth Wilson Gilmore, einer weiteren wichtigen Denkerin des Abolitionismus, gewählt: «Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern, nämlich alles.» Es geht also um die Abschaffung von Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismen und die Veränderung der Gesellschaft in ihren Grundstrukturen. Ein wichtiges Motiv des Abolitionismus ist die Doppelbewegung zwischen der Abwehr und dem Entzug aus Ausbeutungs- und Gewaltstrukturen und die gleichzeitige Bildung von alternativen Institutionen und solidarischen Produktions- und Beziehungsweisen. Dies bedeutet, vieles neu lernen zu müssen – und auch zu verlernen. Internalisierte Vorstellungen von Gerechtigkeit, Bestrafung, Schuld und Unschuld zu hinterfragen. Verantwortung für sich und andere neu zu denken und zu verhandeln.
Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? Wie sieht eine Gesellschaft ohne Grenzen, Patriarchat, Diskriminierung, strafende Institutionen, Lager für Geflüchtete und einem Rechtssystem aus, das auf Vergeltung basiert? Wo anfangen mit der Abschaffung dieser verschränkten Unterdrückungssysteme? Viele der Fragen, die sich bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Transformation zwangsläufig stellen, können nicht von heute auf morgen beantwortet werden. Doch am Abolish! wurden viele bereits existierende Ansätze und Möglichkeiten zusammengetragen, um diese Fragen gemeinsam anzugehen.
In einem Interview sagt Daniel Loick: «Letztlich müssen wir uns einfach fragen, in welchen Städten und Welten wir leben wollen. Wenn Leute gegen den Abolitionismus also einwenden, er sei utopisch und unvorstellbar, würde ich entgegnen, das eigentlich Unvorstellbare ist doch der Jetztzustand.» («Was ist Abolitionismus, Herr Loick?», philosophie Magazin, 2022) Am Abolish! konnte hoffentlich bei der einen oder anderen Person das Bedürfnis nach Utopie genährt werden, sowie der Wille, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Das Veranstaltungsprogramm sowie das weiterführende Verzeichnis mit Büchern, Podcasts, Artikeln und Websites sind weiterhin abrufbar auf abolish.ch.