
Das Jahr 2021 ist für einige linke Orte in Bern ein Jubiläumsjahr. Während Besetzungen, Zwischennutzungen, Brachen und mehr immer wieder dem Zeitgeist weichen mussten, halten sich einige Orte wie aternative Felsen in der kapitalistischen Brandung. Auf dem Gaswerkareal feiert der «Chessu» sein fünfzigjähriges Dasein als Freiraum und Ort für Kultur. Etwas jünger ist die Brass: 1981 öffnet sie ihre Tore in der Berner Lorraine. Ermöglicht hat dies damals der Kauf der Liegenschaft durch die Genossenschaft KuKuz -eine Abkürzung für «Kulinarisches Kulturzentrum», die bis heute ebenfalls die Brass-WG über dem Lokal verwaltet. «Anfang der 80er hatte die Jugendbewegung ausserhalb des Gaskessels kaum Räume. Da war vielleicht das Volkshaus – selbst dann war das aber nicht mehr wirklich für die Unterschicht,» fasst Tinu zusammen. Er selbst landete 1999 in Bern – und eher zufällig im Brasserie-Kollektiv, in dem er sich bis heute durchgehend engagiert. In den Anfangsjahren wirkte die Brass etwas wie ein Fremdkörper im Nordquartier. «Heute kaum vorstellbar, aber damals war die Lorraine ein bürgerlich dominierter Ort,» fährt er fort.
Die 80er sind turbulent: Nach der Räumung der Reitschule verlagern sich Drogen und Gewalt bis in die Brass. «Zerbrochene Scheiben, das kam hin und wieder vor. Solche Bilder kennen wir heute nicht mehr» Anna, ebenfalls ein langjähriges Brass-Mitglied ergänzt: «In jenen Jahren machten auch Geschichten über Kameras in den Nachbarwohnungen, die auf unseren Laden gerichtet waren, die Runde. Fichierung, das war ein ständiges Thema.» Ab den 90er-Jahren wurde es dann geordneter, die Brass entwickelt ein Bewusstsein für eine konsequent biologische und regionale Versorgung. Gehalten hat dies bis heute.
Anna beschreibt ihre Arbeit in der Küche: «Manchmal geht etwas vergessen, dass wir hier eigentlich aktivistisch sind.» Für Fäbu, das «neueste» der drei anwesenden Kollektiv-Mitglieder ist der Fall klar: «Wir sind eben mehr, als ein klassisches politisches Projekt.» Die langfristige Arbeit verbindet er mit grösseren Fragen. «Wir skizzieren hier, wie wirtschaftliche Emanzipation aussehen kann. Wir fragen, wie wir eine zukünftige, solidarische Gesellschaft – auch ohne Chef*innen – organisieren.» Im Brass-Alltag sind solche Frage mit durchaus konkreten Herausforderungen verbunden. «Die Brass soll für alle etwas bieten, auch für die, die nur ein Hahnenwasser bestellen. Dann muss auch abgewogen werden, welchen Einfluss die Abwesenheit von Konsumzwang auf unsere eigenen Löhne hat.» Liegt der Schluss nahe, die Arbeit in der Genossenschaftsbeiz sei reine Selbstausbeutung? «Joa!» grinst Fäbu nicht ohne Ironie. «Gastro machen viele aus Herzblut. Wobei wir wie gesagt ebenfalls andere, höhere Ziele verfolgen.»
Ein Ort mit Charakter
Für Aussenstehende könnte die Brasserie Lorraine auf den ersten Blick eine Quartierbeiz wie jede andere sein. Dieser Schein trügt, auch wenn die Entwicklung des Quartiers die Entschlüsselung des Bilds etwas komplexer gestaltet. «Über die Jahre wandelte sich die Lorraine besonders für Menschen aus anderen Quartieren zu einer Art Ausgangsmeile. Demographisch hat dies unsere Kundschaft durchaus verändert», so Tinu. So ist es mittlerweile nicht unüblich, dass junge, unpolitische Menschen neben den Stammkund*innen aus der 80er-Bewegung die Brass aufsuchen. Was den wichtigen Unterschied zur 0815-Beiz ausmacht, hält Fäbu fest: «Unser Personal hat zwar unterschiedliche Hintergründe. Mal sind mehr Leute politisch engagiert, mal weniger. Hin und wieder sind Leute zuerst wegen dem angenehmen Arbeitsklima hier. Doch es ‘klickt’ früher oder später, ein grösseres Bewusstsein für die politischen Zusammenhänge erwacht.» Für die Verankerung der Brass unter den Menschen hat Tinu ein Beispiel an Lager: «Von der Quartiergenossenschaft nebenan treffen sich oft so sechs, sieben nach Sitzungen zum Bier. Wenns aber ‘fätzt’, dann kommen ruhig 20 nach der Sitzung hier hin und es wird weiterdiskutiert.» Das stimmt ihn positiv für die nächsten vierzig Jahre Brass. «Wenn unser Kollektiv in eine weniger solidarische Richtung kippen würde, dann kämen genau diese Leute – und auch Ehemalige – zurück, um Gegensteuer zu geben. Die Beziehung ist eine gegenseitige.»
Wandel in Raum und Zeit
Glücklicherweise ist fragwürdig, dass ein solches Szenario überhaupt eintritt, denn das Kollektiv und der Raum, den es belebt entwickeln sich ständig weiter. Noch immer ist Platz für Veranstaltungen, Austausch und Ideen. Diskussionen darüber, wie das möglichst immer und für alle ermöglicht wird, begleiten die Mitarbeitenden stets. «Während Corona mussten wir uns kurz aufraffen, schon bald wurde aber wieder geputzt, gestrichen und geschliffen. Trotzdem hätten wir mehr tun können um, Menschen in dieser Zeit Raum zu geben», blickt Anna zurück. Ideen in diese Richtung sind reichlich vorhanden. Ein Beispiel nennt sie: «Wir stellen fest, dass im Schnitt FINTA* bei uns in der Minderheit sind. Daraus wollen wir in Zukunft Konsequenzen ziehen und Abende ohne cis-Männer anbieten. Es ist wichtig über diese Themen zu sprechen, damit sich letztendlich alle wohl fühlen können bei uns.» Aus diesen ständigen Auseinandersetzungen wird dieser Ort zur Ideenküche, wo Utopien mit dem Alltag vereint werden. Für die nächsten 40 Jahre wünschen wir: E guete!