Transformative Gerechtigkeit Text: Benjamin Stückelberger | Bild: daf

burn all prisons - ja ok, und was dann?

«All Cops are Bastards». «Fight law and order». Linke Sprüche, welche die staatliche Strafjustiz ablehnen, gibt es zuhauf. Doch was ist an diesen Institutionen, welche in gesellschaftlichen Umfragen regelmässig rekordhohe Zustimmungswerte verzeichnen, eigentlich auszusetzen? Aus linker Sicht wohl vor allem zwei grössere Punkte.

Triggerwarnung: Dieser Text enthält Überlegungen über den Umgang mit (sexueller) Gewalt.

«Du gibst dich unparteilich
am Strafgesetzbuchband
Du bist es nicht. Nur freilich:
Juristen sind gewandt.» – Kurt Tucholsky

Einerseits dient die Strafjustiz der Sicherung der bestehenden Machtverhältnisse. Dies wird seit dem Aufkommen des modernen Strafsystems (was etwa gleichzeitig mit dem Kapitalismus geschah) mit zwei aufeinander aufbauenden Techniken gemacht: Zunächst einmal werden nur ganz spezifische Handlungen als illegal bezeichnet, andere aber nicht. Wieso ist es etwa erlaubt, an Aktienmärkten die Nahrungsmittelpreise in die Höhe zu treiben, so dass zahlreiche Menschen verhungern aber eine Demo gegen solche Praktiken stellt schnell einen Landfriedensbruch dar? Wieso ist es verboten, mit Konsens erstellte BDSM-Pornos zu schauen, gleichzeitig ist aber das Ignorieren eines Neins beim Sex (rechtlich gesehen) keine Vergewaltigung? Als wären diese Gesetze nicht schon ungerecht genug, werden sie nun auch noch sehr parteiisch angewandt: Durch Racial Profiling wird etwa vor allem gegen People of Colour ermittelt, Reiche dürfen ohne Weiteres auf Milde durch Richter*innen hoffen und Frauen wird gerne eine Mitschuld an erlittenen Vergewaltigungen gegeben.

«Bestrafen aber – ob zur Vergeltung oder zur Besserung – ist eine Anmaßung des bürgerlichen Klassenstaates» – Max Hoelz

Andererseits ist aber auch der Umgang des Staates mit ergangenen Verletzungen von einer speziellen Logik geprägt: Wenn etwa jemand vergewaltigt wird, lautet die Antwort des Staates (wenn überhaupt), die Täter*in für eine Zeit ins Gefängnis zu stecken oder zur Zahlung eines Geldbetrages (an den Staat) zu verdonnern. Damit geschehen mehrere Dinge: Zuerst wird ein Konflikt von den daran beteiligten Personen weggenommen und zu einem juristischen Problem umgewandelt, bei dem einzig geprüft werden muss, ob eine bestimmte Strafnorm erfüllt ist. Sodann ist auch die Antwort des Staates nicht darauf ausgerichtet, den Konflikt zu lösen, sondern hat vor allem als Ziel, eine Person zu bestrafen. Vor dem Aufkommen des modernen Strafsystems waren Sanktionen Versuche, die Folgen schädlichen Verhaltens zu kompensieren. Eine Strafe hingegen zerstört immer Ressourcen, anstatt zu versuchen, einen Konflikt zu heilen. Verhaltensänderungen, welche durch Strafe erzwungen werden, führen zudem zu keiner echten Einsicht, sondern zu Rachegefühlen und dem Wunsch einer Weitergabe der gewalttätigen Erfahrung der Bestrafung an andere.

Transformierende Gemeinschaften

Da vom Staat also wenig Hilfe zu erwarten ist, begann man zum Umgang mit sexualisierter Gewalt sowie Partnerschaftsgewalt in den 90er Jahren in den USA Transformative Gerechtigkeitsprozesse zu entwickeln. Diese wurden im deutschsprachigen Raum vor allem durch das Transformative Justice Kollektiv Berlin verbreitet und erfreuen sich mittlerweile auch im aktivistischen Bern einiger Beliebtheit.

Grundlegend dafür ist das Verständnis, dass Gemeinschaften (wie etwa aktivistische Kollektive) eine gemeinsame Verantwortung für die darin bestehende Gewalt haben und daher selbst Massnahmen treffen müssen, um sich mit dieser Gewalt auseinanderzusetzen, sie zu verringern und zu beenden sowie vorzubeugen. Transformative Gerechtigkeitsprozesse beinhalten dabei meist die Arbeit mit den verschiedenen beteiligten Personen sowie der gesamten Gemeinschaft und sind von vier Grundpfeilern getragen:

  1. Der kollektiven Unterstützung und der Wahrung der Selbstbestimmung der betroffenen Person.
  2. Der Verantwortungsübernahme der gewaltausübenden Personen für ihre Handlungen und eine Verhaltensänderung.
  3. Der Entwicklung der Community hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind.
  4. Der Arbeit an strukturellen, politischen Bedingungen, die Gewalt ermöglichen oder verursachen.

Insbesondere die ersten zwei Punkte sind dabei zentral. In der Arbeit mit der von der Gewalt betroffenen Person muss es nun darum gehen, ihr die Sicherheit und Selbstbestimmung zurückzugeben sowie dafür zu sorgen, dass sie einen für sie guten Platz in ihrem Umfeld zurückgewinnen kann. Dabei sind ihre Bedürfnisse und Wünsche zu respektieren. Dies heisst nicht, dass sie diktator*innengleich alles bestimmen darf, da damit solche Prozesse auch zur Instrumentalisierung von persönlichen Konflikten missbraucht werden können. Aber dennoch sollte das Ziel der Wiederherstellung der Selbstbestimmung im Zentrum stehen. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass ihre Wünsche, nicht am Prozess beteiligt zu sein, respektiert werden müssen. Eine betroffene Person sollte auch nicht zu einer Symbolfigur für generelle Verletzungen reduziert werden, sondern als reale Person mit individuellen Vorstellungen bezüglich der für sie passenden Lösungen angesehen werden.

Bei der Arbeit mit der gewaltausübenden Person soll es nun darum gehen, dass diese Verantwortung für ihr Handeln übernimmt (was ganz unterschiedlich aussehen kann, wie zum Beispiel in Form der Inanspruchnahme einer Beratung oder einer öffentlichen Entschuldigung). Doch lohnt sich das überhaupt? Ist ein dauerhafter Ausschluss aus einer Gruppe da nicht einfacher? Jedoch ermöglicht dieser, dass problematische Verhaltensweisen einfach sonst wo fortgesetzt werden und deren Veränderung erschwert oder verunmöglicht wird. Zudem birgt er auch immer die Gefahr der Dämonisierung der gewaltausübenden Person. Das sollte aber vermieden werden, da dies dazu führen kann, dass die Komplexität des Konfliktes nicht verstanden und zudem auch nicht erkannt wird, wie wir selbst gewalttätig agieren und Gruppenstrukturen solches Verhalten fördern.

Die Arbeit mit der gewaltausübenden Person wird weiter dadurch erschwert, dass es der bürgerliche Staat geschafft hat, die Straflogik schon von Kindesbeinen an in allen unseren Köpfen zu verankern. Darum finden es viele von uns schwierig, uns nicht-strafende Reaktionen auf verletzendes Verhalten vorzustellen und diese Logik kann auch in Transformative Gerechtigkeitsprozesse hineingetragen werden. Eine Strafe nur zur Vergeltung hat aber wenig mit Transformation oder der Heilung von Konflikten zu tun und bringt auch langfristig gesehen nichts. Umgekehrt lehnen gerade manche anarchistischen Gruppen teilweise aber auch jegliche Konsequenzen nach Übergriffen ab, da diese als Strafe angesehen werden. Das ist aber ein Missverständnis. Denn fühlbare Konsequenzen sind nicht per se eine Strafe. Vielmehr können diese durchaus eine notwendige Bedingung sein, um Heilung oder Veränderung zu ermöglichen.

Natürlich erfordert ein solcher Prozess auch, dass die gewaltausübende Person freiwillig daran teilnimmt, und sich wirklich darauf einlässt, da eine Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensweisen ja nur mit einer Bereitschaft dazu geschehen kann. Um Menschen an einer Teilnahme zu bewegen, empfehlen einige Broschüren zum Thema den Einsatz von Baseballschlägern. Es ist aber wohl nur schwer vorstellbar, wie unter dem Eindruck einer Gewaltdrohung eine wirkliche Reflektion und langfristige Verhaltensänderung geschehen soll. Viel effektiver dürfte wohl aber eine soziale Druckausübung sein, etwa durch Freund*innen und Familie, welche eine Person viel nachhaltiger zur Teilnahme an einem solchen Prozess bewegen kann und ihr vielleicht auch erstmal verdeutlichen kann, dass ihr Verhalten gewalttätig ist.

Ehrliche Eingeständnisse

Viele der Dinge, die uns am staatlichen Justizsystem stören, können also durch Transformative Gerechtigkeitsprozesse anders gelöst werden. Da mit so vielen schwierigen Fragen umzugehen ist, stellen sie aber hohe Ansprüche an die Reflexionsfähigkeit der Beteiligten und dies über lange Zeiträume. Dazu können sie sehr schmerzhaft sein, da mit ihnen sowohl die gewaltausübende Person als auch die ganze Gemeinschaft erkennen muss, wo sie gewalttätig handeln und was dieses Handeln fördert. Solche Prozesse brauchen also viele zeitliche und emotionale Ressourcen. Daher können diese Prozesse eine Gemeinschaft auch überfordern.

In Situationen, in denen Transformative Gerechtigkeitsprozesse notwendig wären, müssen sich die Beteiligten damit auseinandersetzen, ob das als selbstorgansierte Gruppe zu stemmen ist, oder ob etwa langfristige und spezialisierte, professionelle Therapieangebote zur Begleitung nicht besser geeignet sind. Denn auch trotz der grossen Freude, endlich über autonome Techniken der Konfliktlösung zu verfügen, muss dennoch eingestanden werden, dass diese auch überfordern können. Das Gleiche gilt auch, wenn Situationen vorliegen, in welchen Transformative Gerechtigkeitsprozesse einfach nicht geeignet sind. Wenn etwa unterschiedliche Gewaltdefinitionen in einer Gemeinschaft vorliegen oder Gewalt ausserhalb einer etablierten Gemeinschaft passiert, die gewaltausübende Person partout nicht teilnehmen möchte oder aufgrund staatlicher Intervention das Ganze verunmöglicht wird, eignen sich diese Prozesse wenig. Wir dürfen und müssen als Linke dann wohl einsehen, dass wir noch nicht für alle Konfliktsituationen eine gute Lösungsstrategie gefunden haben. Das schmerzt, aber sollte dafür umso mehr Ansporn für uns sein, diese zu suchen und Dinge auszuprobieren. Denn genau wie das Strafjustizsystem erfunden wurde, wurde die Transformative Gerechtigkeit erfunden und genauso können andere Umgänge mit Verletzungen gefunden werden. Dieses Entwickeln von Alternativen gehört zu einer widerständigen, staatsunterlaufenden und herrschaftsabbauenden Kultur. Nur so können wir Stück für Stück Dialog, Empathie, Verantwortung, Heilung und Wiedergutmachung ins Zentrum des Umgangs mit solchen Verletzungen rücken.