Simone Lappert Text: daf, Olivia Mera | Bild: daf

«Es stellt sich die Frage, wer hier eigentlich verrückt ist.»

Wie reagieren Menschen auf eine Person, die auf einem Dach steht und scheinbar springen will? Welche Verbindungen entstehen zwischen den Beteiligten? Die Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert geht in ihrem zweiter Roman diesen Fragen nach. Die Geschichte in «Der Sprung» ermöglicht einen tiefen Einblick in die Verletzlichkeit und Menschlichkeit ihrer Figuren, und damit unserer gesamten Gesellschaft.

Simone Lappert lädt uns nach Zürich ein. «Wipkingen hat so was Grossstädtisches, weil man mit dem Zug bis vor die Haustüre kommt, wie in Berlin», sagt sie und lacht. Wir sitzen in einem Park, vor uns kleine Keramik Becher mit Chai-Tee und Keksen.

Biographie
Simone Lappert schrieb schon als Kind ihre ersten Märchen am Computer ihres Vaters. Geschichten erfinden vor dem Einschlafen, gehörte zu ihrer Kindheit dazu. Ihr Onkel, Rolf Lappert, der selbst Autor ist, erfand für sie Geschichten mit Figuren, die immer wieder auftauchten und bei denen sie selber miterfinden durfte. Inspiriert durch seine Arbeit, fing Simone Lappert an, für die jüngeren Geschwister ebenfalls Geschichten zu erfinden und mit dem Fisher-Price-Kassettenrecorder aufzunehmen. Tagebuch schreiben und Beobachtungen festhalten begleitete sie in ihrem Aufwachsen. Nach dem Gymnasium began sie ein Studium in Germanistik und Philosophie. Es stellte sich aber bald heraus, dass ihre Vorstellung vom Studium weit romantischer war, als die Realität. Kein nächtelanges Diskutieren mit Komiliton*innen, sondern interpretieren von Texten. «Das war alles ziemlich verschult.» Durch einen Bekannten hörte sie vom Literaturinstitut in Biel. Auf einer Reise durch Europa entstand das Dossier für die Aufnahmeprüfung, wo sie anschliessend zu studieren begann. Der Umgang mit Text war ganz anders. «Wir arbeiteten an lebendigen, entstehenden Texten und lernten, uns gegenseitig Rückmeldungen zu geben.» Dieses Arbeiten an Texten schärfte ihr eigenes Schreiben. Durch die Rückmeldungen und den Austausch entwickelt sich der eigene Stil. Die angehenden Literat*innen lernen dadurch ein Handwerk und damit, wie sie Stärken aus einem Text herausschälen können. Sie möchte jedoch nicht das Literaturinstitut gegen ein Germanistikstudium ausspielen. «Herrmann Hesse hat in Bezug auf die Germansitik einmal gesagt: ‚Vögel verstehen schliesslich auch nichts von Ornithologie‘. Germanistik und Schreiben sind für mich einfach zwei verschiedene Disziplinen.»

Literatur und Pandemie
Jetzt wäre Simone Lappert eigentlich in London, da sie ein Stipendium von Landis & Gyr gewonnen hat. Doch das alles fällt weg. «Das ist das brutale an der Situation. Der Austausch fehlt, es gibt keine Kulturanlässe, keine Begegnungsorte.» Simone Lappert schreibt oft aus Begegnungen und Beobachtungen heraus, von denen etwas hängen bleibt. Diese Inputs webt sie in den Text ein. Am Anfang eines neuen Projektes ist die Recherche wichtig, dies können Bücher, Fachpersonen oder Menschen sein, die sie an ihren Geschichten teilhaben lassen. Diese Begegnungen sind zur Zeit jedoch schwieriger. Spontane Berührungspunkte mit Menschen und Situationen, die inspirieren, sind rar geworden.

Wie eine Geschichte entsteht
«Der Anfang ist immer etwas enorm magisches. Ich erlebe etwas, höre etwas, schmecke etwas, jemand erzählt mir was. Etwas lässt mich nicht mehr los und ich habe Fragen.» Mit diesen Fragen beginnt die Recherche. Zuerst wird alles, was dazu passt gesammelt, angezogen wie ein Magnet.
Doch so romantisch wie dieser Anfangsprozess klingen mag, bleibt es nicht lange. Schnell wird recherchieren und schreiben zu einer intensiven Arbeit, hinzu kommen Zusagen zu Projekten und Deadlines von Textaufträgen. «Schreiben erfordert viel Disziplin.» Dass eine Autorin mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse sitzt und der Text einfach so entsteht, sie nur schreibt, wenn sie gerade „inspiriert“ ist, ist eine schöne Vorstellung, aber nicht realistisch. Früher war das anders, als Simone noch Geschichten für sich und ihre Geschwister erfand. Der Anfang, die erste Idee, die erste Ahnung, das Erzählenwollen ist jedoch gleich geblieben, das entsteht irgendwo im Bauch.

Fragen und Antworten
Die Ausgangslage für einen Geschichte ist eine Wahrnehmung, ein Gefühl, immer eine Frage, der Simone Lappert mit Neugier nachgeht. Beim Schreibprozess präzisieren sich die Fragen. Sie breitet die Fragen aus und geht einzelnen Strängen nach, die manchmal auch in eine Sackgasse führen. «Antworten zu bekommen ist nicht das Ziel und eher ein seltener Luxus, ich freue mich, wenn es mir gelingt, mich präzise hineinzufragen, in einen Situation, eine Figur, neue Fragen aufzuwerfen.» In Simones neustem Buch «Der Sprung» geht es um eine junge Frau namens Manu, die auf dem einem Dach steht und um die Menschen vor dem Haus, die das Ganze beobachten und sich einmischen. Dabei geht es weniger um die junge Frau, sondern um die Menschen unten, die sie verurteilen. Die Zuschauer*innen ziehen eine Grenze zwischen sich, den «Normalen» und der Frau auf dem Dach, der «Verrückten». Simone erfuhr von einer realen Situation, bei der die Menschen genauso ablehnend auf einen Menschen in grosser Not reagiert haben. Die Geschichte hat eine Betroffenheit ausgelöst, die Fragen aufwarf und sie animierte diese Situation zu befragen. «Ich fragte mich, wieso die Menschen so urteilten, wie wir überhaupt als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen..» Die Antwort sollte kein Betroffenheitsprosa werden. Sie wollte verschiedene Perspektiven einnehmen, die der involvierten, angehörigen Personen und die der Aussentstehenden. Dabei verfällt der Ton nie ins Moralische, obwohl sie mit vielem, was in der Originalsituation passiert ist, nicht einverstanden ist. «Zum Schreiben muss ich Freiräume schaffen, den Figuren Respekt entgegen bringen.» Die erzählerische Ebene wird dabei stets beibehalten.

Figuren
Simone Lappert erschreibt sich ihre Figuren, ohne genau zu wissen, wohin sie sich entwickeln. Durchs Schreiben lernt sie die Figuren kennen, lässt ihnen Raum. «Die Figuren sind keine Marionetten, die ich lenke und denen ich meine Weltsicht überstülpe, sie sind keine leeren Schablonen.» Sie haben keinen vorgefertigten Zweck, sondern entwickeln eine Art Eigenleben. Innere Widersprüche der Figuren, die zum Beispiel entstehen, wenn Menschen mit einer Person konfrontiert sind, die auf dem Dach steht und die Ordnung der Stadt auf den Kopf stellt, interessieren sie. Die Diskrepanz zwischen äusserer Wahrnehmung und inneren Prozessen der Figuren wirft die Frage auf, wieso sich die Personen so verhalten.
«Ich bringe Figuren in eine Situation und schaue, was sie mir anbieten. Ich schaue, wie sie auf Situationen reagieren. Wie gehen sie mit ihren Freund*innen um? Was halten sie für Monologe?» Daraus ergeben sich Bilder von Personen. Auch viele Personen, die am Ende gar nicht in der Geschichte landen, weil sie zu konstruiert und unglaubwürdig sind. «Ich hatte auch eine Taschendiebin die auf dem Platz alle beklaut. Aber das ist bloss eine lustuge Idee der Autorin geblieben, die Figur hat nicht geatmet.» Viele Seiten streicht sie raus, es ist eine Art Herausschälen des Wesentlichen.
Die Figuren sind nicht perfekt. Sie haben Schwachpunkte, Ecken und Kanten. Manu oben auf dem Dach hat Momente des Mutes, der Leichtsinnigkeit, der Verzweiflung und Augenblicke voller Wut. Alle diese Gefühle sind auch bei den verschiedenen Personen unten zu finden. Viele Figuren verhalten sich enorm abwehrend. Einige Zuschauer*innen rufen Manu sogar zu, sie solle springen. «Ich finde, da stellst sich dann schon die Frage, wer ist jetzt hier eigentlich verrückt?» Aus der Perspektive vieler Menschen unten, ist es die Andere, die «Verrückte» auf dem Dach, die eigentlich gerade enorm verletzlich ist.

Verbundenheit der Körper
Als Leser*in erscheint der Körper in beiden Romanen immer wieder sehr präsent. Im Roman «Der Sprung» unter anderem auf Grund der Thematik des verletzlichen Körpers in Form der Protagonistin, der vom Dach fallen könnte. «Für die Glaubwürdigkeit der Figuren ist es wichtig, dass die Lesenden mit allen Sinnen die Geschichte erfassen.» Die Lesenden sollen, schmecken, hören und fühlen was die Protagonist*innen in ihren Körpern wahrnehmen. Dadurch entsteht auch ein Zugang zu den Figuren.
Simone Lappert verwendet am Anfang der Geschichte die Metapher der Pflanzen für die Verbundenheit der Figuren. Die Protagonistin Manu ist Biologin und befreit Pflanzen aus ihren Töpfen, um sie zu anderen Pflanzen in Gesellschaft zu setzen und sie so aus ihrer Isolation zu befreien. Es gibt die Theorie, dass Pflanzen unterirdisch miteinander kommunizieren und so eine Art Sozialität pflegen. In «Der Sprung» werden immer wieder Anekdoten zu Pflanzen in den Text eingewebt und die Leser*innen ziehen Parallelen zu den Figuren, die sich selber sehr isoliert in ihren jeweiligen Lebensumständen wahrnehmen. Als Leser*innen erkennen wir dagegen, dass die Leben der Figuren auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Die Zuschauer*innen auf dem Platz sind mit Manu auf dem Dach nicht nur durch die konkrete Situation verbunden. Einige der Zuschauer*innen haben sogar eine persönliche Beziehung zu ihr, andere sind nur durch die Umstände mit Manu verbunden. Doch egal wie gut die Figuren Manu kennen, in allen löst diese Situation etwas aus. Aus diesem Gefühl der Interdependenz speist sich vermutlich auch die Abwehrhaltung in der Manu «die Verrückte» und damit «die Andere» wird. Im Grunde sind aber alle verletzliche Körper und das Wissen um die eigene Verletzlichkeit löst in den Figuren unterschiedliche Reaktionen aus. In ihrem Menschsein hinter der Oberfläche werden diese Verbindungen sichtbar. Es könnte nämlich uns allen passieren, dass wir wie Manu am Dachrand stehen.

Simone Lapperts Romandebüt «Wurfschatten» erschien 2014 im Metrolit Verlag in Berlin und ist als Taschenbuch bei Diogenes erhältlich. Ihr zweiter Roman «Der Sprung», auf den sich unser Gespräch hauptsächlich bezog, wurde 2019 im Diogenes Verlag publiziert.