Filmen von Polizeieinsätzen Text: ffg, jrm | Bild: Vera

Das Lügenkonstrukt einstürzen lassen

In und um die Reitschule Bern sind Konflikte zwischen Polizei, Reitschüler*innen und Besuchenden an der Tagesordnung. Oft folgen den Konflikten juristische Nachspiele, wobei Gerichte im Zweifelsfall zu Gunsten der Polizei entscheiden. Aktuelle Beispiele zeigen nun, wie Beweis-Videos Angeklagten vor Gericht zu Hilfe kamen – und die Glaubwürdigkeit der Polizei angetastet wurde.

Was wäre gewesen, wenn im Mai 2020 in Minneapolis niemand sein Handy gezückt hätte? Kein Zweifel: George Floyd wäre genauso grausam gestorben. Die anschliessenden Proteste auf der ganzen Welt und die folgende Debatte wären aber wohl viel kleiner ausgefallen. Derek Chauvin, der Mörder von Floyd, wäre wohl freigesprochen worden. Nun, ein Jahr später, wurde Chauvin verurteilt: Die Videoaufnahme des Neun-Minuten-Mordes war das Hauptbeweismittel im Prozess. Videoaufnahmen oder Livestreams in Sozialen Medien widerlegen in den USA in furchtbarer Regelmässigkeit das, was Polizeibehörden behaupten, wenn Afroamerikaner*innen bei Einsätzen getötet werden.
Auch wenn es sich im folgenden Text um andere, wesentlich weniger krasse Beispiele handelt, spielen auch in der Schweiz Videoaufnahmen von Polizeieinsätzen eine zunehmend wichtige Rolle – gerade in sozial umkämpften Räumen wie rund um die Reitschule Bern. 2018 und 2019 eskalieren hier mehrere Polizeieinsätze und ziehen mediale und juristische Nachspiele nach sich. Am 1. März 2019 lenkten Kantonspolizisten ihren Dienstwagen über das Trottoir vor der Reitschule in Richtung einer Menschenmenge. Zur anschliessenden öffentlichen Empörung über die KaPo trugen massgeblich Videos bei. Zudem hatte sich die Konfrontation auch ins Internet übertragen: Dass die KaPo ihre Einsätze im März live auf Twitter zu begleiten begann, heizte die Stimmung zusätzlich an – auch Stefan Blättlers «Offener Brief an die Besuchenden der Reitschule» trug eher zu mehr als weniger Spannung bei. In den Köpfen wird aber besonders der Abend des ersten September 2018 bleiben, bei dem die Kantonspolizist*innen Partygänger*innen mit teils smileyverzierten, hochgefährlichen 40mm-Gummigeschossen attackierten. Videoaufnahmen belegen, wie ein Polizist ankündigt, Menschen «abezchlepe», also «abzuknallen», sofern sie eine Polizeiabsperrung übertreten sollten.

KaPo versalzt Restaurantbesucher*innen die Suppe
Zweieinhalb Monate später, am 23. November, stehen Uniformierte erneut in der Reitschule – dieses Mal im Restaurant Sous Le Pont. In ihrem Bericht wird die Einsatzgruppe KROKUS (die Anti-Drogen-Einheit der Police Bern) ihr Vorgehen als «gezielte Aktion gegen den Rauschmittelhandel» festhalten.
Den Störfaktor Polizei ist sich Günther bei seiner Arbeit mittlerweile gewohnt. Auch an jenem Abend unterbricht der Polizeigrosseinsatz seine Service-Schicht im Sous le Pont. «Ich stand in der Küchentüre, filmend das Handy in den Händen.» Auf den Videos, die dem m* vorliegen, hört man Zwischenrufe. «Das ist eine Küche, gehts noch?! Wir sind hier bei laufendem Betrieb!» protestiert ein Mitarbeiter, während Beamt*innen Günther rabiat in die Küche schieben.
Unter Protest von Besuchenden und Mitarbeitenden belagert die Polizei Küche und Lokal. Weiteres Videomaterial von Anwesenden zeigt, wie Angehörige der Spezialeinheit «Mob Gren» wiederholt und ohne ersichtlichen Grund Anwesende angreifen. Im darauf folgenden juristischen Nachspiel wird die KaPo das Gegenteil behaupten. Doch der Reihe nach.

Anderer Einsatz – ähnliche Folgen
«Am 6. Februar 2019 stand ich vor dem Buffet, als wieder Zivilpolizist*innen an mir vorbeirannten. In der Küche angelangt, brachten sie den Verfolgten zu Boden», erinnert sich Günther. Durch die Tür konnte er das Geschehen in der Küche filmen. Am selben Tag behaupten die zwei Beamten in ihren Berichten, Günther habe sie gestossen, den Weg in die Küche versperrt und beschimpft. Bei der Begründung des Einsatzes macht ein Beamter zudem keinen Hehl aus dem konsequent praktizierten Racial Profiling seiner Einheit – ein Motiv, welches sich bei dieser ganzen Serie an Vorfällen häuft: «Anlässlich einer gezielten Aktion gegen den Betäubungsmittelhandel verfolgten ein Kollege und ich einen Schwarzafrikaner ins Innere der Reitschule.»
Dann geht es schnell. Im März 2019 erhält Günther den Strafbefehl. Und: Ein dritter Bericht eines Beamten ist aufgetaucht – über den Einsatz im November 2018. Das Wording stimmt verdächtig mit jenem der anderen zwei Beamten überein: «Er (Günther, red.) stellte sich mir in den Weg und stiess mich mit beiden Händen weg». Ausserdem behauptet er, Günther habe ihn «hinter der Theke stehend bespuckt.»

Generalverdacht gegen Reitschüler*innen
Günther wird im April erstmals vorgeladen und im Waisenhausposten befragt. «Zu diesem Zeitpunkt habe ich sämtliche Aussagen verweigert. Fünf Tage später stand ich erneut in den Räumen der Polizei. Einer mündlichen Aufforderung zur erkennungsdienstlichen Behandlung verweigerte ich mich und verlangte eine entsprechende Verfügung». Das Dokument wird nach weiteren fünf Tagen – und bereits erfolgter erkennungsdienstlicher Behandlung – von der Staatsanwaltschaft nachgereicht. Welche Relevanz die erfassten Daten im Rahmen des laufenden Verfahrens haben sollen, lässt sich nicht eruieren. Selbst die Staatsanwaltschaft argumentiert bloss mit «möglichen zukünftigen Straftaten». Hinweise auf die Straffälligkeit des «Sous Le Pont»-Mitarbeiters liegen ihr nota bene nicht vor – sein Strafregister ist leer. Günther reicht eine Beschwerde ein. Im August folgt das Fazit des Obergerichts: «Der Umstand, dass der Beschwerdeführer mutmasslich als Servicefachangestellter im Restaurant ’Sous le Pont’ in der Reitschule arbeitet, stellt – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausführt – einen Anhaltspunkt für weiteren Kontakt mit der Polizei dar. Es ist notorisch, dass es im Areal der Reitschule vermehrt zu Aktionen gegen den Betäubungsmittelhandel kommt. Daher erscheint es als wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer an weiteren ähnlich gelagerten Straftaten beteiligt war oder solche erneut begehen könnte», urteilen Oberrichter*innen Schnell, Bähler und Bratschi.
Nach Erhalt des Strafbefehls zieht Günther den Fall vors Regionalgericht. Vorgeworfen werden ihm «Gewalt und Drohung gegen Beamte», «Hinderung der Amtshandlung» und «Beschimpfung». «Meine Verteidigung und ich haben zwei Videos des Vorfalls im November 2018 eingereicht. Mit den darin sichtbaren Szenen konnten einen teilweisen Freispruch erwirken», kommentiert der Beschuldigte.
Was vor Gericht folgt, kann als juristisches Desaster bezeichnet werden. Die aussagenden Beamten verfolgen bei ihren Vorwürfen ein sehr ähnliches Muster – Zufall? Wohl kaum, zu viele Parallelen finden sich in ihren Formulierungen. Ein Hinweis auf Absprachen, wie sie bei der Polizei bei solchen Verfahren üblich sind. In wichtigen Details widersprechen sich die Aussagen jedoch, wie sich bei konkreten Nachfragen der Staatsanwältin aus den Einvernahmeprotokollen entnehmen lässt. Und doch urteilt die Richterin im Zweifelsfall zu Gunsten der Polizei: In allen Anklagepunkten, die nicht eindeutig von Videos widerlegt werden, wird Günther verurteilt. Von «In dubio pro reo» («Im Zweifel für die*den Angeklagte*n, red.») kann keine Rede sein. Die Polizei geniesst weiterhin Narrenfreiheit, solange keine eindeutigen Beweise gegen sie vorliegen. Günther wartet nun darauf, dass sein Fall vom Obergericht beurteilt wird.

Spaghettikochen, nicht «Schubsbewegung»
Auch Aktivist*in Finn konnte dank des Videobeweises das Strafmass vor Gericht senken – und die Polizei in eine peinliche Situation bringen. Am 23. März 2019, einem Donnerstag, kocht Finn Spaghetti Napoli zum Znacht. Finn wohnt in der Wohngemeinschaft in der Reitschule. Plötzlich ist aus dem Innenhof Lärm zu hören. Finn rennt die Treppe hinunter, um nachzusehen, was los ist. «Mein Verdacht hat sich bestätigt: Es war die Kantonspolizei Bern, die wieder Mal die Reitschule gestürmt hatte. Ich wurde wütend.» Finn spielt auf die aufgeheizte Situation in jenen Tagen zwischen Reitschule und Kantonspolizei an. In dieser aufgeladenen Gemengelage stellt Finn die rund fünfzehn Polizist*innen, die bereits mehrere Personen in Handschellen legten, zur Rede. «Ich war aufgebracht. Ich fragte, was sie hier wollten, und ich sagte ihnen, dass sie abhauen sollten. Ich war nicht alleine. Es bildete sich nach und nach eine Menschentraube, die die Polizei des Rassismus bezichtigte, weil sie einmal mehr nur People of Color festgenommen hatte.» Als sich die Situation zu beruhigen scheint, wird Finn gezielt durch zwei Polizeibeamte zu Boden gedrückt und festgenommen. «An den Händen gefesselt zwangen mich die Beamten, zu Fuss zur Hauptwache zu laufen. Das war eine Art ’Walk of Shame’.» Noch am selben Abend füllt die Polizei einen Antrag an die Staatsanwaltschaft aus, Finn sogenannten «Erkennungsdienstlichen Massnahmen» zu unterziehen. Das Obergericht weist seine Beschwerde dagegen ab; die Behörden nehmen DNA, Fingerabdrücke und Fotos ab.

Der Beweis
Im Herbst 2020 sitzt Finn vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland. Die Staatsanwaltschaft sowie ein beteiligter Polizist als Nebenkläger werfen Finn «Qualifizierte Gewalt und Drohung» (F. habe einen Polizisten mittels «Schubsbewegung» zu Boden ringen wollen), «Versuchte Begünstigung» (F. habe die Festnahmen verhindern wollen) und «Mehrfache Beschimpfung» (F. habe die Polizist*innen als «Scheissbullen» beleidigt) vor. Das empört Finn: «Die Polizei hat im Strafbefehl gegen mich dreist gelogen. Ich sei bereits vor den Anhaltungen der People of Color vor Ort gewesen, hätte die Festnahmen behindert und die Polizei körperlich angegangen – alles falsch». Trotzdem: keine guten Aussichten für Finn. Erfahrungsgemäss schenken Gerichte der Polizei mehr Glauben als Angeklagten, wenn Aussage gegen Aussage steht. Zum Verhängnis wird der Anklage aber, dass an jenem Abend ein Besucher der Reitschule geistesgegenwärtig sein Handy zückte und eine mehrminütige Aufnahme macht. «Ich habe das Video vor Gericht gezeigt. Es bestätigte meine Erzählung. Die Miene der Richterin verzog sich – was da zu sehen war, war so ziemlich das Gegenteil dessen, was die Polizei behauptete, gerade, was die zeitlichen Abläufe anging». Finn wird zwar immer noch verurteilt und erhält eine Geldstrafe. Die Richterin stuft den Vorwurf von «Qualifizierter Gewalt und Drohung» jedoch auf «Hinderung einer Amtshandlung» zurück und streicht die «Versuchte Begünstigung». «Das macht für das Strafmass und das Strafregister einiges aus», meint Finn. Im Anschluss an die Verhandlung zitierte die Richterin den als Nebenkläger auftretenden Polizisten zu sich. Sie wollte mit ihm unter vier Augen sprechen. «Das sah nicht nach einem freundlichen Gespräch aus», meint Finn.
Sowohl bei Günther, als auch bei Finn konnten handfeste Beweise direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Richtenden ausüben. Ohne Video-Beweise wären wohl beide vollumfänglich schuldig gesprochen worden. Diese beiden Fällen untermalen jedoch weiterhin einen gravierenden Missstand: Videos taugen bisher vor allem, um bei falschen Anschuldigungen durch die Polizei vor Gericht Recht zu bekommen. Aber in keinem aller aufgezählten oder angedeuteten Fälle wurde die Polizei für übrige Straftaten, die sie gegen Anwesende ausgeübt hat, belangt. Das, obwohl reichlich Beweismaterial zusammengetragen werden könnte. Wie es darum steht, sich gegen die Polizei zu wehren – dem widmet sich das m* in der Fortsetzung dieser Text-Serie.