Marko Ković Text: ave & jrm | Bild: ave

Denkmechanismen unter der Lupe

Innerhalb kürzester Zeit zum Liebling der Medien – Marko Ković ist ein Sozialwissenschaftler, der sich lieber als Kommunikator sieht. In der Pandemie ist er ein gefragter Mann: Ob in der Expertenrolle bei SRF zu sektenhaften Ideologien, als Talkgast bei Rechtsextremen oder in einer Pendler*innenzeitung mit ausführlichem Kommentar zu Verschwörungstheoretiker*innen spielt dabei keine Rolle – liebend gern spricht er mit möglichst vielen. Ein politisches Portrait.

Wir treffen Marko Ković im Zürcher Hauptbahnhof. Die Menschen um uns herum wirken gestresst. (Ob hier so viel Juflipulver¹ in der Luft schwebt?) Der Bahnhof entspricht jedenfalls nicht gerade unserer Vorstellung einer entspannten Interview-Location. Ob der Ort zur Inszenierung gehört oder eine zufällige Folge des vollen Terminkalenders ist, bleibt unbekannt. Womöglich «du pareil au même».
Schön «gschniglet» kommt er im schlichten Mantel daher. So erinnert er ein wenig an einen zurückhaltenden Fabian Molina. Trotz Dissertation in Kommunikationswissenschaften: In die akademische Schublade will er, stets um ein bodenständiges Image bemüht, nicht gesteckt werden. Wir wollen wissen, ob er das Gefühl habe, die Gesellschaft sei politisch hoffnungslos in einer Sackgasse festgefahren. Kovićs Entgegnung entpuppt sich später als Leitmotiv: «Mag sein – aber alle Strukturen wurden von Menschen erschaffen. Sie sind veränderbar.»
Wie passt das in eine Welt, in der Wähler*innen immer wieder rechten Parteien verfallen und dabei auf Kosten der Gemeinschaft die Interessen der Reichsten unterstützen?
Fast wirkt es, als wolle unser Interviewpartner uns herausfordern, als er prompt Marx² auspackt: «Unsere Gesellschaft ist auf einer kapitalistischen Basis konstruiert. Darauf steht ein neoliberaler Überbau. Wir sind hier aufgewachsen und wurden in dieses System und seine Prägungen hinein sozialisiert: Gewerkschaften – ein Symbol des Bösen. Umverteilung – eine Neiddebatte. Eigenverantwortung – quasi heilig. Natürlich zeigen sich viele dieser Haltungen in unserem Handeln – eben auch den eigenen Interessen entgegen.» Einleuchtend. Ironisch nur, dass mittlerweile selbst Grossunternehmen aus Kurzsichtigkeit so wirtschaften, dass sie sich den längerfristigen Erfolg vermiesen. Ković bemerkt dazu schelmisch «Es ist halt nicht so, dass alle Manager*innen und Lobbyist*innen besonders schlau sind.»

(K)ein Populist, aber?
Trotz der sozialen Kälte und des generell düsteren politischen Klimas, bleibt er einigermassen optimistisch: Veränderung ist möglich und Beispiele dafür sind reichlich vorhanden. «Populismus als Werkzeug ist nicht per se eine schlechte Sache.» Richtig eingesetzt tauge dieser auch dazu, reale Interessen von Arbeitenden zu verteidigen. Trotzdem mahnt er: «Entscheidend ist, von wem und auf welche Art man sich abgrenzt.» Damit zielt er gegen rechte Hetze. Er ergänzt «Populistisch sein kann man nämlich eigentlich auch mit rationalen Argumenten», kommentiert er leicht ironisch.
Bei vielen linken Parteien erkennt er heutzutage diesen Anspruch kaum mehr. Er bezieht sich bei dieser Aussage auch auf seine Erfahrungen im Elternhaus: «Eine klassische Büezer*innenfamilie, eigentlich eine für die SP prädestinierte Zielgruppe, aber sie blieben vollkommen apolitisch.» Zufällig ist sein Beispiel freilich nicht gewählt. Er spannt den Bogen in Bezug auf die neoliberale Prägung von «Labour» seit Blair oder nach Schröders-Ära bei der SPD. Die habe eine Art Manager*innenklasse bei der Sozialdemokratie hervorgebracht. «Am Cliché der ‘Cüpli-Sozis’ ist schon etwas dran. Die Linken ziehen vor allem soziokulturell privilegierte, studierte und gut gestellte Menschen an.» Die Folge: Auf Anliegen der Arbeitenden wird nicht mehr eingegangen. Entsprechend habe die Linke selbst ein Fenster für Rechtspopulist*innen geöffnet. «Im Gegensatz zur SP sprechen die dort ihre Sprache und bewirtschaften ihre Ängste. Rechte liefern zwar keine wirklichen Lösungen für die Probleme der Arbeitenden. Doch sie können so tun, als anerkannten sie ihre Lebensrealitäten.»
Damit wirft er eine Frage auf: Würde der Linkspopulismus greifen, wenn er plötzlich rein mit Fakten dieselben Fragen wie Rechte beantworten würde? «Vielleicht wäre diese Hypothese zu berechnend», meint er nach kurzer Pause, «denn wenn ich aus der Rolle als ‘Linker’ spreche, stosse ich auf die üblichen Vorurteile gegenüber ‘sozialistischen’ oder ‘akademischen’ Konzepten.» Was nicht heisse, dass die Angelegenheit hoffnungslos sei, denn Gemeinsamkeiten liessen sich schneller finden, als man erahnen könne. «Im Gespräch finden die meisten auch unfair, dass Kapitalerträge nicht besteuert werden. Aber hier haben wir’s: Positiv eingesetzter Populismus muss zuerst Hürden zwischen Menschen abbauen.» Dafür genüge das Beispiel von Bernie Sanders in den USA. «Erst war er der Spinner. Im Wahlkampf wurde er aber diskursprägend, weil er Menschen direkt ansprach.»

Ungleichheit neu politisieren
Wir landen wieder auf Schweizer Boden. Nicht ohne eine gewisse Empörung durchsickern zu lassen, merkt Ković an, dass auch aus der Situation hierzulande durchaus politisches Kapital für progressive Ideen zu schlagen sei. Laut OECD ist die Schweiz eines der europäischen Schlusslichter in Rückverteilungsfragen: «Hier leben weiterhin über 1.5 Millionen Menschen am oder unter dem Existenzminimum. Eine unvorhergesehene Rechnung für einen Zahnarztbesuch ist dann bereits nicht mehr finanzierbar.»
Warum also wird den Rechten so viel Raum in der Debatte überlassen? «Linke kommunizieren schlecht», ist für ihn offensichtlich. Es sei nicht unüblich, dass heutige Linke ihre Politik um das Konzept von Verzicht aufbauten – gerade bei Klimafragen. Für viele Handwerker*innen, Menschen aus Randregionen und nicht mobile Personen sei es aber unrealistisch, in allen Fällen auf den ÖV umzusteigen. Er konkretisiert: «70% aller Emissionen werden von knapp hundert Unternehmen verursacht. Wir dürfen Konsument*innen, die darüber keine Mitsprache besitzen, nicht plötzlich von eigentlichen Opfern zu Täter*innen stilisieren. Leider machen linke Organisationen zu oft genau das.»
Auch mit den von reaktionären und Rechten zur «Identitätspolitik» proklamierten Entwicklungen hat er ein Hühnchen zu rupfen: «Die Linke unterscheidet oft nicht zwischen realer Veränderung und symbolischen Schlachten. Gendern? Für Ković klar nicht verhandelbar! Aber die Debatte um Quoten in Verwaltungsräten stösst bei ihm aus Unverständnis. «Was hat eine arbeitende Frau davon?» An indirekte Auswirkungen solcher Symbolpolitik, wie er sagt, glaubt er nicht. «Der Trichter nach oben ist doch zu eng, als dass Mädchen mit Verwaltungsrätinnen als Vorbild dadurch plötzlich eine bessere Chance auf ihren Platz in Teppichetagen bekommen.»

Alle Macht… Wem nun eigentlich?
In der Politik seien Quoten, gerade mit Hinsicht auf die Schweizer Geschichte durchaus sinnvoll: «Frauen* so lange verdrängt zu haben, hallt nach.» Generell bestehe ein massives Repräsentationsproblem, fügt Ković an. «Das heutige Milizsystem diskriminiert, weil nur Privilegierte Zugang zu Ämtern erhalten. Ein System mit Berufspolitiker*innen mit existenzsicherndem Lohn könnte etwas Chancengleichheit schaffen.» Mit dem aktuellen Parlamentarismus hat der Sozialwissenschaftler noch weitere Rechnungen offen: Wahlen? Zeugen für ihn von einem romantisierten Demokratieverständnis. «Auch wenn das Gegenteil behauptet wird, wissen wir alle längst: Nicht die besten Ideen gewinnen.» Dabei spielt er für eine rein statistisch bessere Repräsentation mit der Idee des Losverfahrens. Unumstritten ist sie nicht. Wie berücksichtigt man dabei Minderheitenschutz und lokale Gegebenheiten? Uns schweben dezentralisierte, syndikalistische Modelle als mögliche Alternativen vor. Auch Ković, der sich grundsätzlich als Sozialist sieht, hat für anarchistisch beeinflusste Ansätze gewisse Sympathien: «Es gibt historisch gesehen schöne Beispiele für Basisdemokratie. Ich denke dabei an Katalonien zurück. Heute ist die Welt aber zu komplex, um sie nur regional zu organisieren.» Das wollen wir genauer wissen. Er erklärt: «Heute stehen wir vor der Herausforderung vieler komplexer Abhängigkeitsverhältnisse.» Wir ahnen worauf er abzielt. Er wagt einen neuen Anlauf: «Durch stark vernetzte Abläufe in allen gesellschaftlichen Bereichen, ist ein einzelnes Problem selten nur aus einer Perspektive lös- und greifbar. Ob durch Spezialisierung oder aufgrund komplexer wirtschaftlicher Verstrickungen – beides mögliche Gründe.»

Alle Macht den Medien!
Unmittelbar nach unserem Interview steht ein Abstimmungssonntag bevor. Unterdessen ist bekannt, dass das Paket zur Förderung der Medien von der Mehrheit der eingegangenen Stimmen abgelehnt. Am Status Quo dürfte auf gesetzlicher Ebene medienpolitisch unmittelbar nichts rütteln. Then again – Daran, ob die Vorlage dafür getaugt hätte, zweifelt nebst uns auch Ković: «Demokratiepolitisch haben wir bei den Medien ein klares Marktversagen. Als Trump gewählt wurde, kam bei vielen Publikationen die Bemühung auf, kritischer zu berichten. Durch dieses Wahlresultat wurde eine Schmerzgrenze überschritten und dies zeigte: Ab einem Punkt geht’s eben doch!» Generell stellt er das heute bei den meisten Themen nicht fest. Das Oligopol aus wenigen Verlagen müsse weichen. «Es braucht Medienförderung, aber definitiv schlauer als mit dieser Vorlage.»
Wie eine schlauere Vorlage aussehen könnte, lässt er in Ansätzen offen. Einige Instrumente kann er sich vorstellen: «Beim Rundfunk sehen wir klar, dass das gemeinschaftliches Finanzierungsmodell funktioniert. Von ‘Staatsmedien’, wie Gegner*innen behaupten, ist da keine Spur. Staaten wie Norwegen zeigen da klar, dass Diversität entstehen kann, die es ohne nicht gäbe.» Bei kleineren Projekten dürfen aus seiner Sicht zudem alternative Finanzierungen, vielleicht auch Crowdfunding eine Rolle spielen: «Ich glaube daran, dass kritische Inhalte von einem diversen Publikum profitieren können. Insbesondere bei neuen Formaten im Netz, in Videoform.» Ein US–Beispiel dafür nennt er: YouTuberin «Contrapoints» – mit ihren Inhalten ist sie im Kampf gegen Rechts zur prägenden Stimme aufgestiegen.
Und er selbst, wo sieht er seinen Platz? Genau genommen ist Ković bereits eine politische Figur. Hat er vielleicht Ambitionen die institutionelle Politik aufzumischen? Er widerspricht: «Parteipolitik ist für mich demotivierend.» Ginge es nach ihm, müsste das Konstrukt aus Parteien durchbrochen werden: «Was wir brauchen, sind Bewegungen, die mehr Druck von aussen aufbauen, so wie der Klimastreik.» Heute bleibt er unter dem Strich lieber in seiner Rolle als Kommunikator: «Statt als Forscher wirke ich bevorzugt als Übersetzer. Das kann ich mit Sozialkritik, besser noch mit rational geführten Debatten über moralische Fragen. Ich spreche gerne direkt mit Menschen.» Den Erfolg scheint er dabei zu geniessen.
Ob die Denkanstösse aber reichen, um neue Gräben zu überwinden? Oder kommen sie opportunistischen rechten Blogger*innen und Journis gerade gelegen, weil sie ihnen zu einer salonfähigen Plattform verhelfen? Wie etwa neulich im Gespräch beim Rechtsextremen Daniel Stricker – einer Figur mit dezidierter Meinung, bei der es kaum etwas nicht ansatzweise menschenfeindliches zu finden geben dürfte. Bei in eine abgespacete UFO-Welt ausgeflogenen Videothekaren? In der NZZ? Okay, da könnten ein paar besserwisserische spicy Boomer ausnahmsweise etwas akkurates über Marx aufnehmen, who knows… Durch reichweitenstarke Gratismedien; hier ist jede Zeile Diskursverschiebung eine halbe Volkspension wert! Sitzt die Analyse? Das wird sich zeigen – und Ković wird ausführlich allen davon berichten, wir sind gespannt.

1 Berndeutsch: Kokain
2 Hier eine Fussnote für die Fangemeinde des Kapitals. Wir verzichten lieber darauf.