Postsowjetische Perspektiven Text: E.S. | Bild: Sandra Achermann

Kampf um die Jugend in Russland

Jugend als Hoffnung – Hoffnung als Perspektive? Die politische Lage in Russland ist festgefahren und politischer Aktivismus erschwert. Eine junge politische Aktivistin erzählt, weshalb sie trotz allem engagiert bleibt.

Russland – das Unnahbare, das Unveränderbare. Über dreissig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion sind viele der alten Narrative aktueller denn je. Das politische System ist marode, die Menschenrechtslage ist schlecht und vielen, insbesondere jungen, Menschen fehlt es an Perspektiven.
In aktuellen Umfragen geben mehr als 50 Prozent der 14-29-Jährigen an, dass sie sich überlegen auszuwandern. Weniger als 20 Prozent interessieren sich für Politik, und lediglich ein Viertel der Jugendlichen vertrauen der Regierung¹. Gleichzeitig wird die Jugend sowohl im In-, wie auch im Ausland gerne zur Hoffnung für Russlands Zukunft hochstilisiert. In Westeuropa werden bevorzugt ihre liberalen, pro-westlichen Tendenzen und ihr transformatives Potential betont. Der russische Langzeitpräsident Vladimir Putin inszeniert sich ebenfalls gerne als Jugendförderer, diskreditiert jedoch gleichzeitig kritische, junge Aktivist*innen, indem er sie als naiv und leicht von (westlichen) Erwachsenen manipulierbar darstellt. Unter dem Deckmantel des Jugendschutzes wurden in den letzten Jahren Gesetze wie das «Gesetz gegen homosexuelle Propaganda» verabschiedet, die jungen Menschen den Zugang zu regierungsunabhängigen Informationen erschweren. Anpassungen bei Lehrplänen und Schulbüchern sorgen dafür, dass kritische Fragen soweit möglich gar nicht erst aufkommen. Die Jugend hat staatskonform und apolitisch zu sein.
Was bewegt junge Menschen in Russland, sich trotzdem politisch zu engagieren? Darüber haben wir mit der Aktivistin Nadja² gesprochen.

Nadja, wie kam es, dass du angefangen hast, dich politisch zu engagieren?
Nadja: Bis ich siebzehn Jahre alt war, habe ich mich nicht für Politik interessiert. Dann jedoch hätte es an meiner Schule ein Treffen mit Alexei Nawalny geben sollen, das dann aber von der Schulleitung kurzfristig abgesagt wurde. Uns wurde eingeschärft, dass wir da auf keinen Fall hingehen dürfen, dass das strikt verboten ist. Ich habe daraufhin begonnen, mich im Internet und in den Sozialen Medien zu Nawalny und zur politischen Lage in Russland zu informieren und habe mir meine eigene Meinung gebildet. Ich habe mich in Nawalnys Netzwerk engagiert, bin zu Treffen und an Proteste gegangen, wofür ich schliesslich einen Strafbefehl bekam. Heute würde ich mich als oppositionell bezeichnen.

Wie hat dein Umfeld reagiert?
Nadja: Meine Freund*innen unterstützen mich voll und ganz. Aber mit meinen Eltern habe ich mich gestritten, nachdem die Polizei den Strafbefehl vorbeigebracht hatte. Nicht, weil sie politisch anderer Meinung wären, sondern weil sie Angst um mich haben – Angst, dass ich im Gefängnis lande. Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und haben, wie viele Leute ihrer Generation, diese damals allgegenwärtige, spezifische Form von ängstlichem Schweigen verinnerlicht. Ganz nach dem Grundsatz: Sag lieber nichts, und wenn du etwas sagst, dann sag nicht zu viel.

Welche politischen und sozialen Missstände sind für dich besonders drängend?
Nadja: Grosse Sorgen bereitet mir die politische Verfolgung von Andersdenkenden, insbesondere von Journalist*innen. Auch die steigenden Kosten für Lebensmittel und Bildung sind ein Problem. Und natürlich, dass wir keine wirklich freien Wahlen haben.

Und welche Lösungsvorschläge hast du?
Nadja: Das Wichtigste ist, dass die Leute allen Frustrationen und Rückschlägen zum Trotz interessiert an der Politik bleiben und an Wahlen teilnehmen, sowohl auf nationaler wie auf regionaler Ebene. Viele Leute geben auf, weil sie denken, es ändert sich nie etwas. Aber das ist nicht hilfreich. Es braucht Ausdauer und Beständigkeit. Auch die Teilnahme an politische Treffen und Protesten ist wichtig, aber das Wichtigste ist wirklich, dass wir ernstzunehmende Konkurrent*innen zur Regierungspartei «Einiges Russland» aufbauen und bei Wahlen antreten lassen. Im Moment sieht der Staat in uns keine Konkurrenz und hat deshalb keine Angst vor uns. Aber wir müssen Angst mit Angst bekämpfen – der Staat muss Angst vor uns haben, nicht wir vor ihm.

Du hast Unterschiede zwischen den Generationen angesprochen – kannst du das genauer ausführen?
Nadja: Viele ältere Leute tragen noch immer diese Angst aus Sowjetzeiten in sich und nehmen deshalb nicht am politischen Leben teil. Jüngere Leute haben diese Angst weniger. Ein Grossteil der Teilnehmenden an Protesten sind deshalb jung, aber ich habe auch schon 70-jährige Omas mit «Putin ist ein Dieb!»-Plakaten gesehen. Das fand ich inspirierend.

Wie siehst du die Rolle des Bildungssystems?
Nadja: Ich lasse mich in meiner politischen Meinung nicht beeinflussen. Aber natürlich wird an Schulen und Universitäten versucht, Einfluss auszuüben und jungen Menschen die Position der Regierung aufzudrücken. Ich habe schon von Fällen gehört, in denen Studierende, die politisch aktiv waren, mit fadenscheinigen Begründungen von der Uni ausgeschlossen wurden.

Wie sieht deine Prognose für die Zukunft aus? Gibt es Hoffnung für Russland?
Nadja: Meine Meinung wird sich nicht ändern. Ich werde weiter zu Wahlen und politischen Versammlungen gehen und tun, was ich für richtig halte. Ich hoffe – hoffe sehr fest – dass wir uns früher oder später zusammenfinden und Russland befreien werden. Den Leuten hier in Russland ist Politik nicht egal, wir wollen Freiheit wie alle anderen Menschen auch, nur ist das im Moment leider nicht möglich.

Sonst noch etwas, dass du loswerden möchtest?
Nadja: Ich weiss nicht (überlegt lange). Vielleicht Folgendes: Russland wird frei sein!

1 https://www.fes.de/jugendstudien-russland
2 Nadja, Name geändert, ist 19 Jahre alt, Studentin, und lebt im Nordwesten Russlands.