Rojava Text: Azad Dersim | Bild: Katja Minder-Potapova

Rojava ist die Revolution der Menschlichkeit

Als Alternative zum Kapitalismus bauen verschiedene Völker in Rojava ein demokratisch-konföderalistisches Gesellschaftssystem auf. Doch das Projekt wird immer wieder von der Türkei und den verbündeten Dschihadist*innen gefährdet. Aus diesem Grund müssen linke Strukturen in Europa diese Revolution verteidigen. Nachhaltige, alternative Projekte müssen in den Fokus rücken, denn es ist ein Kampf für die Menschen, welche an eine bessere, gerechtere Welt glauben.

Seit Jahren ist das patriarchale kapitalistische System in einer tiefgehenden Krise. Um aus dieser existentiellen Krise heraustreten zu können, wendet der Kapitalismus immer neuere und erschreckendere Formen der Gewalt an. Der Kapitalismus verwirklicht sich heute durch einen gnadenlosen Vernichtungskampf gegen demokratische Gesellschaften, FINTAs und die Natur. Er basiert auf grenzenlosem Wachstum, weil seine Triebkraft nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist, sondern die Jagd nach dem maximalen Profit. Für dieses Ziel werden Kriege als auch Bürgerkriege angezettelt. Auch führen die Machenschaften des Kapitalismus zur Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter*innen. Er kommerzialisiert alle Bereiche unseres Lebens. Die Kriege, die momentan überall auf der Welt geführt werden, treiben die Profite kapitalistischer Kriegskonzerne weiterhin in undenkbare Höhen, während Millionen von Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit ihrer Würde beraubt werden. Während einerseits Waffen an despotische Regierungen verkauft werden, wo sie dann gegen regimekritische Demonstrant*innen eingesetzt werden, wird seit Jahren in Europa gleichzeitig eine diskriminierende Politik gegen Migrant*innen und Flüchtenden geführt – zugunsten der «Festung Europa».

Zehn Jahre Rojava
Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) fing vor zehn Jahren an, uns neue Hoffnung auf eine bessere Welt zu geben. Die Revolution in Rojava stellt ein Zentrum für den Aufbau einer freiheitlichen, antikapitalistischen Gesellschaft dar. Von Anfang an machten sich Internationalist*innen aus der ganzen Welt auf den Weg nach Rojava und beteiligten sich am Kampf und dem Wiederaufbau der zerstörten Städte. Es war der Wunsch und die Hoffnung nach einer demokratischen Zukunft, die im Hier und Jetzt durch basisdemokratische Strukturen aufgebaut wird, die es der Bevölkerung vor Ort ermöglicht hat, die territoriale Herrschaft des sogenannten Islamischen Staates zu besiegen. Seit dem 19. Juli 2012 werden in Rojava die historischen Errungenschaften der Menschheit, wie beispielsweise Demokratie und Zusammenhalt der Völker, verteidigt und geschützt. In diesen Gebieten versuchen verschiedenste Menschen miteinander, unter Gleichberechtigung der Frauen, in Solidarität, Gemeinschaft und unter gegenseitiger Hilfe zu leben. Ihre Wirtschaft basiert auf ihren eigenen Bedürfnissen und nicht auf denjenigen des Geldes. Die jungen Menschen aus Kurdistan und die Internationalist*innen haben vor Ort das Ziel, mit ihrem Einsatz den Frieden, die Freiheit, die Geschwisterlichkeit und die Menschlichkeit zu fördern und zu fordern und diese Errungenschaften für die Zukunft der Menschheit zu schützen und zu verteidigen. Die Entstehung von Rojava ging einher mit dem Erstarken der Terrormiliz Islamischer Staat im Irak und Syrien. Völlig hilflos schaute damals die Weltgemeinschaft auf das Treiben der Schreckensherrschaft, bis die Dschihadist*innen bei der Schlacht um Kobanê, eine der größeren syrisch-kurdischen Städte in Rojava,  auf den erbitterten Widerstand der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPJ (1) und der YPG (2) stiessen. Die Kurd*innen waren die ersten, denen es gelang , die Terrormiliz in weiten Gebieten zu besiegen. Von Kobanê aus kämpften die kurdischen Einheiten weiter und befreiten Stadt um Stadt von dem IS, bis sie im März 2019 die endgültige Niederlage der Dschihadist*innen in Syrien erklärten. Insgesamt sind 11’000 kurdische Kämpfer*innen gefallen und weitere 21’000 wurden verletzt.
Rojava basiert auf drei Grundpfeilern: Basisdemokratie, Geschlechtergleichheit und Ökologie. Genannt wird das System in Rojava «Demokratischer Konföderalismus». Das bedeutet beispielsweise, dass es für jede Institution, angefangen bei der kommunalen Verwaltung bis hin zur Präsident*innenschaft, immer eine Doppelspitze gibt – jeweils einen Mann und eine Frau. Versucht wird, eine freie Gesellschaft aufzubauen. Die Idee kam von Abdullah Öcalan, dem Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung. Seine Ideen inspirieren Menschen auf der ganzen Welt. Öcalans Theorien geben den Menschen Hoffnung auf die Möglichkeit einer alternativen und gerechten Gesellschaft. Auf seinen Ideen und Schriften beruht der Kampfgeist der Revolutionär*innen, die in Kurdistan für eine klassenlose und geschlechterbefreite Gesellschaft kämpfen.

Angriffe auf Rojava durch die Türkei
Seit Jahren wird Rojava von der türkischen Armee und ihren verbündeten Dschihadist*innen vom Boden und aus der Luft angegriffen. Es geht bei diesen Angriffskriegen darum, die kurdische Autonomie in Rojava zu beenden. Dafür werden auch ethnische Säuberung und Genozide nicht gescheut.
Bisher gab es viele zivile Tote und schwer verletzte Opfer bei den gezielten Angriffen des türkischen Militärs und ihren islamistischen Verbündeten. Bei etwa der Hälfte der getöteten Zivilist*innen handelt es sich um Frauen und Kinder. Amnesty International lieferte erdrückende Beweise zu Kriegsverbrechen wie Massenhinrichtungen und tödlichen Angriffen auf Zivilist*innen durch das türkische Militär und verbündete Milizen. Die Invasionsversuche in Rojava sind eine Schande für die Menschheit. Doch wir sind alle auch Zeug*innen eines historischen Widerstandes. Der Vormarsch der türkischen Armee auf Rojava brachte, trotz andauernder Angriffe aus der Luft und waffentechnischer Überlegenheit, keinen Erfolg.
Der Kampf in Rojava ist nicht nur ein Kampf der kurdischen Bevölkerung und der Völker, welche in Nordsyrien leben, sondern es ist ein Kampf für alle Menschen, die an eine bessere, an eine gerechtere Welt glauben. Es ist ein Kampf gegen Unfreiheit, Unterdrückung und Kolonialismus. Es ist die Perspektive einer freiheitlichen Gesellschaft, in der das ökologische Paradigma umgesetzt werden kann, in der die Befreiung der Frau zentral ist und eine demokratische, selbstverwaltete Struktur für die Gesellschaft aufgebaut werden kann.

Giftgas in Kurdistan
Am 19. November 2022 hat der türkische Staat eine neue Operation in den selbst verwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien (Rojava) sowie im Nordirak/Südkurdistan gestartet.  Diese Operation ist nicht der Beginn eines neuen Krieges – sie ist die Intensivierung und Weiterführung des dauerhaften Kriegszustands in Kurdistan. Die zahlreichen Drohnenangriffe und der Einsatz von Chemiewaffen und Giftgas haben in den vergangenen Monaten immer wieder gezeigt, wozu das türkische Regime bereit ist, um seine völkerrechtswidrigen Besatzungspläne in Kurdistan durchzusetzen. In den letzten sieben Monaten sind über 100 Kämpfer*innen aufgrund dieser Angriffe gefallen. Die Türkei setzte in diesem Zeitraum 2’837 Mal verbotene Bomben und chemische Waffen gegen Kriegstunnels und Stellungen in den Widerstandsgebieten ein und beging somit Kriegsverbrechen. Westliche Institutionen wie die UN oder die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) schweigen. Diese Angriffe richten sich gegen die Hoffnung, die die Frauenrevolution in uns geweckt hat und gegen die Stärke der Selbstorganisierung. Wir verstehen den aktuellen Vernichtungskrieg als gezielten Angriff auf die Frauenrevolution, auf den Ursprung der Parole «Jin, Jiyan, Azadî» (3) und damit als einen Angriff auf die Ideen und Umsetzung Frauenbefreiungsideologie.

Unsere Forderungen sind klar
Wir fordern nachdrücklich, dass die UNO, die EU, die OPCW und die internationale Gemeinschaft sofort Maßnahmen ergreifen, um dieser Aggression, die das Leben von hunderttausenden von Menschen bedroht, ein Ende zu setzen. Geopolitische und wirtschaftliche Interessen dürfen nicht führend sein, wenn es um globale Werte wie Demokratie und Menschenrechte geht. Diese gilt es zu verteidigen. Abkommen mit despotischen Systemen sind inakzeptabel, genauso wie die Lieferungen von Geld und Waffen in die Region. Statt Kriege und Terror im Mittleren Osten muss endlich Demokratie und Toleranz gefordert und gefördert werden.
Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, ihr Schweigen zu brechen. Mit ihrem Schweigen macht sie sich mitschuldig und die Türkei fühlt sich in ihren Kriegsverbrechen bestärkt! Lasst uns gemeinsam für den Frieden und die Freiheit in Rojava laut sein und den faschistischen Feldzug von Erdogan mit unseren Protesten stoppen! Lasst uns unseren Protest vielseitig und kreativ gestalten! Lasst uns so lange den öffentlichen Druck aufrecht erhalten, bis dieser Krieg ein Ende findet. Wir waren bei der Verteidigung Kobanês gemeinsam erfolgreich und wir werden auch bei der Verteidigung von Rojava wieder gemeinsam erfolgreich sein! Unsere Aufgabe ist es, hier in Europa diese
Revolution zur Verteidigung und zum Schutz der Menschheit und der Menschlichkeit zu unterstützen!
Lang lebe der internationalistische Kampf, bijî berxwedana Rojava! Jin Jiyan Azadî!

Azad Dersim ist kurdischer Aktivist aus St. Gallen. Er ist in der revolutionären Jugendbewegung TCS (Tevgera Ciwanen Soresger) aktiv.

1 YPJ ist der Frauenkampfverband der Volksverteidigungseinheiten (YPG)
2 YPG ist eine bewaffnete kurdische Miliz in Syrien
3 «Jin, Jiyan, Azadî» bedeutet «Frauen, Leben, Freiheit» auf Kurdisch