Coming-out-of-Age Text: lea | Bild: leo

Erwachsen werden am Ende der Prärie

Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Hier erlebte ich die Kindheit, die man sich in alternativen Kreisen gerne ausmalt. Lange Stunden in Maisfeldern, Fussbälle auf Kuhweiden, am Nachmittag bei der Lehrerin auf Tee und Kekse und beim alljährlichen Coiffeurbesuch über die Machenschaften der Dorfbewohner*innen gründlich informiert und ausgefragt werden.

In der Jugend gestaltete sich das alles etwas weniger malerisch. Obwohl sich vieles einfach fortsetzte. So etwa der Turnverein. Am Dienstagabend versammelte sich die ganze Primar- und später dann Sekundarschule und rollte gemeinsam über Turnmatten, schlug mit Schlägern gegen Bälle, warf die kleineren und grösseren Körper weit in den Sand, rannte Runde um Runde durch den Wald oder durch die Turnhalle, zog mit roten Köpfen und lauten Schreien an Seilen, sprintete, schneller oder langsamer, über rote Bahnen, trank Isostar und Gatorade. Wir alle waren da (konkret: Schulhausrasen, 4 Minuten zu Fuss). Eine Ausnahme bildete höchstens Halloween und wer diese Festlichkeit dem wöchentlichen Turnen vorzog, erntete am nächsten Tag im Schulzimmer ein paar vorwurfsvolle Blicke. Mit der Zeit stiegen die weniger Gesellschaftstauglichen, die, die sich nicht so gut committen konnten (und keinen Bock mehr hatten), die Schüchternen oder schlichtweg die weniger Sportlichen langsam aus dem Verein aus. Ich blieb.
Je älter ich wurde, umso mehr eröffnete sich mir hier eine Welt, die sich sonst im Dorf nicht anzubieten schien. Sie begann mit einem mir hingestreckten Eve nach dem Training und endete (für mich endgültig) am eidgenössischen Turnfest, wo sich meine Mitturner*innen betrunken zum Schlager auf die Festtische stürzten. Sie bedeutete nebst dem Alkohol aber auch ein abendliches Zusammenhocken, ein paar interessierte Ohren und Münder, und vor allem: Ein Winken beim Vorbeigehen, ein Grüssen beim Vornamen, ein kurzes Wort. Meistens war es schön.
Tatsächlich gilt der Turnverein als eine der ersten Formen von Jugendkultur (zumindest in der Schweiz). Und obwohl sich mir der kulturelle Aspekt davon durchaus erschliesst, hat jener der Jugend keine Bedeutung mehr. Nicht nur, weil der Altersdurchschnitt im Turnverein nicht wirklich als jugendlich bezeichnet werden kann, sondern auch, weil der Verein mittlerweile eine feste Institution im Dorf ist, die nicht viel mit jugendlicher Innovation zu tun hat. Dass ich meine tänzerischen Qualitäten in Form von Team-Aerobic auf dem Feld kundtun durfte, war genauso unabdingbar, wie die Beine meines Bruders auf dem Männerbarren. Wie das Eve oder Bier danach, je nach Penis. Ich habe nicht versucht, dagegen aufzubegehren, es war einfach nicht der Ort dazu. Meine Rebellion fand anderswo statt.
Wo aber traf sich die Jugend auf dem Dorfe?
Wohin gingen wir?
Wir gingen vielleicht in den nächstgelegene Pub (konkret: Churchill Pub, 20 Minuten mit dem Fahrrad). Auch hier wurde getrunken und wenngleich sich das für uns Jungen entsetzlich neu anfühlte, war es schon seit eh und je so gewesen und die älteren Generationen waren hier ebenfalls zugegen. Wahrscheinlich wurden wir gerade in die Pub-Kultur eingeführt.
Jeden zweiten Samstag aber hatten wir die Möglichkeit, uns in einem von Erwachsenen verlassenen Raum (konkret: Jugendraum, 40 Minuten mit dem Fahrrad, 25 Minuten mit dem Töffli) auf rot, grün, pink, violett und gelb zu betrinken, uns in ersten hohlen Flirtversuchen zu üben, beim Tanzen die Hand im richtigen Winkel von uns zu strecken, über die Sofas in der Ecke zu kotzen oder (wer sich traute) die Treppe hinterm Haus hinunterzusteigen und am ersten Joint zu ziehen. Hier schloss ich viele Freund*innenschaften, viele davon funktionierten nur in betrunken.
Dann gab es da noch diesen einen Anlass im Jahr. In der Nacht auf den ersten Mai stellten ein paar junge Männer ihren Altersgenossinnen eine Tanne mit angebrachtem Namensschild vors Haus. Gewissermassen eine Liebeserklärung (oder etwas in der Art). Dabei fuhr die Gruppe mit einem alten Traktor besoffen durchs Dorf. Ohne Erwachsene, wenngleich in deren Tradition. Jedes Jahr die Tannen, der Alk, der Traktor.
Wir waren nicht isoliert in diesem Dorf, wir gingen nach Lyss, nach Biel, nach Bern. Wir spielten unsere Instrumente an der Musikschule in der Nähe, gingen in die Pfadi und später stiegen wir in die S-Bahn, um shoppen zu gehen. Wir waren nicht die verlassene Dorfjugend. Und bald waren wir fast alle weg, wir verstreuten uns.
Bern war das Versprechen, endlich das anzuziehen, was ich mich sonst nicht getraut hätte. Enge schwarze Hosen und einen gemusterten weiten Pulli. Hier lernte ich, nach meiner irritierten Frage, was am Sex denn problematisch sei, die Bedeutung des Worts Sexismus kennen, ging auf Demos, hörte auf, mich zu schminken. Am Morgen die Tanne vor dem Haus, am Nachmittag mit der Menschenmenge durch die Stadt. Jeden Freitag sass ich nach wie vor in Turnkleidung mit einem Eve neben dem Sportplatz und samstags setzte ich mich mit hohen Schuhen hinten auf ein Töffli.
Die Frage bleibt, was war sie, diese Jugend auf dem Dorfe?
Was machte uns aus?
Wenn uns etwas störte, dann nahmen wir einfach nicht mehr teil, zogen uns langsam aus allem raus. Entfernten uns. Und den neuen Jungen, denen, die an unserer Stelle nun Tannen stellen, Eve trinken und über Sofas kotzen, hinterliessen wir –
Vor kurzem ging ich meine Mutter im Dorf besuchen. Ich fuhr mit dem Postauto bis zum Schulhaus und ging die 500 Meter durchs Quartier. Auf dem Weg kam ich am Schulhausrasen vorbei. Die Kinder rannten koordiniert über den Rasen, jemand winkte und ich winkte zurück.