Pandemische Kultur Text: flow | Bild: aja

Der Ohnmacht trotzen

Seit Monaten leidet die Kulturbranche unter den behördlichen Einschränkungen. Das Tojo Theater in der Reitschule versucht, trotz Verschiebungen, Proben ohne Auftritte und bürokratischen Zusatzaufwänden weiterhin Kultur zu ermöglichen.

Sonja Riesen zögert. Wann sie das letzte Mal auf der Bühne stand? Die freischaffende Schauspielerin denkt nach und kann sich trotzdem nicht genau erinnern. «Es ist schon so lange her», entschuldigt sie sich. Man merkt ihr den Frust und die Müdigkeit ob der vergangenen Monate voller abgesagter Produktionen, existenzieller Unsicherheit und künstlerischem Schwebezustand an. «Der Lockdown erreichte uns letzten Frühling kurz vor der Premiere eines Projekts», erinnert sie sich. «Wir mussten alles einfrieren.» Monatelange Arbeit in einem Wimpernschlag ausradiert.
Auch das Tojo Theater war zu Beginn der Pandemie geschlossen. «Wir hatten im letzten Herbst dann noch einige Veranstaltungen», erinnert sich Sandro vom Kollektiv. «Vor verkleinertem Publikum natürlich, aber immerhin.» Im Oktober trat die Tanzkompanie Rotes Velo noch ein letztes Mal auf der Bühne des Tojo auf. Es war ein kleiner Lichtblick vor dem zweiten grossen Kulturlockdown. Dann war Schluss; die Bühne verstaubt, der Saal blieb seither leer. Und es bleibt unklar, wann dem Theater wieder Leben eingehaucht werden kann. emische Kultur

Keine kulturtote Zeit

Fast 30 000 Kulturschaffende sind in der Schweiz von den Massnahmen gegen die Pandemie stark betroffen. Seit über einem Jahr dürfen sie ihrer Berufung nur noch eingeschränkt nachgehen. Auftritte vor grösserem Publikum bleiben unmöglich. Und vieles lässt sich nicht einfach ins Netz übertragen – es fehlt die Nähe, es fehlt das Physische, es fehlt das Lebendige.
So verschwanden Kino, Konzerte, Lesungen, Theaterauftritte oder Performances fast vollständig von der Bildfläche. Ins Bewusstsein traten stattdessen Terrassen, Homeoffice und Skilifte. Auch dagegen versucht das Tojo anzukämpfen. «Wir wollen nicht, dass diese Zeit als kulturtote Zeit in die Geschichte eingeht», erklärt Sandro. Denn auch wenn keine Auftritte vor Publikum möglich sind, hat das Kollektiv immer wieder Projekte geplant, um den Theatergruppen eine Plattform zu geben – auch wenn bei der Programmankündigung meist schon alles wieder abgesagt war. «Wir wollen auf diese Projekte aufmerksam machen, ihnen eine gewisse Sichtbarkeit geben. Denn es läuft ja im Moment nicht einfach nichts. Wir können die Produktionen bloss nicht aufführen.» Diese Tatsache will das Tojo vermitteln. «Wir sind da, wir haben uns nicht verabschiedet. Und wir wollen auch bleiben.»
Was vordergründig wie eine Sisyphusarbeit wirkt, kommt bei Kulturschaffenden wie Sonja Riesen im Gegenteil sehr gut an. «Wir sind immer wieder froh, wenn wir einen Slot für einen gemeinsamen Auftritt finden», sagt sie. «Es ist viel schlimmer, wenn Produktionen einfach komplett eingestampft werden. Ich bin wahnsinnig dankbar, dass wir zum Beispiel im Tojo eine Perspektive haben. So haben wir zumindest einen Lichtblick, auf den wir uns fokussieren können.» Viele andere Lokalitäten können oder wollen abgesagte Auftritte nicht verschieben. Sie haben über Monate und Jahre hinweg einen dichten Spielplan. Und ohne einen klaren und verlässlichen Öffnungsplan ist es meist einfacher, Produktionen ganz abzusagen, statt sich die mühsame Verschiebungsarbeit und Umorganisation aufzubürden. «Viele wollen das permanente Verschieben und Neuplanen nicht mitmachen», erklärt Sandro. «Ich kann das ein bisschen verstehen, finde es aber auch unfair. Mit einer einzigen Entscheidung, einem einzigen Satz kann unglaublich viel Arbeit und Leidenschaft zunichtegemacht werden.»

Kein Ende in Sicht

Während manche Politiker*innen auf eine schnelle Öffnung der Konsum- und Produktionswirtschaft pochen, wird kaum über eine Perspektive für die Kultur gesprochen. Denn nach langen, dunklen Pandemiemonaten soll vor allem mit Konsum ins sogenannt normale Leben zurückgefunden werden. In dieses Konzept passen keine Konzerte in engen Räumen. Und eine Schauspielerin wie Riesen – auf der Bühne vor Publikum – erscheint unvorstellbar. Zwar dürfen aktuell Museen oder Galerien wieder öffnen, doch überall dort, wo Menschen auf andere Menschen treffen, bleibt die Angst – ohne Perspektive auf Veränderung.
«Es ist schwierig, mit dieser Unsicherheit umzugehen», sagt Riesen. Als Freischaffende ist sie sich gewisse Unsicherheiten längst gewöhnt. Doch zu den finanziellen Fragen gesellen sich in der Pandemie strukturelle, psychologische, existenzielle. Wie lässt sich Kunst in diesem Kontext noch schaffen? Was sind die Spielräume? Wie bleiben Begegnungen und Reibung möglich? «Wir proben immer wieder ins Leere», erzählt Riesen. «Wenn wir an einem gewissen Tag Premiere hätten, müssen wir ja schon Wochen vorher mit dem Proben loslegen. Doch wir wissen oft erst kurz vor der Premiere, ob ein Auftritt möglich ist und hoffen unterdessen trotzdem darauf.» Es ist ein Arbeiten im Nebel, die Sicht ist eingeschränkt und trotzdem müssen sich Kulturschaffende auf vieles vorbereiten. «Das ist sehr ermüdend und unbefriedigend. »
Es findet eine Zermürbung statt. Die Motivation leidet, die Sinnsuche nimmt Überhand. «Ich finde es jetzt viel schwieriger als im ersten Lockdown», sagt Riesen. «Anfangs war die Situation komplett neu. Es gab Hoffnung, dass die Pandemie so schnell vorbeigeht, wie sie aus dem Nichts kam.» Doch diese Hoffnung ist verflogen. «Wir haben in der Zwischenzeit so viel erlebt und stehen an einem ganz anderen Punkt. Ich glaube nicht mehr daran, dass die Situation im Herbst einfach wieder gut ist.»
«Es ist wie die Endmoräne eines Gletschers», malt Sandro ein Bild. «Wir schieben die Auftritte vor uns her. Die Menge an Geplantem wird immer grösser.» Manche Auftritte mussten schon zum dritten Mal abgesagt und verschoben werden. Diese fehlende Planungssicherheit prägt die Arbeit. Hinzu kommt: «Im Kollektiv gibt es sehr unterschiedliche Lebensrealitäten. Während das Büro mit Planen und Verschieben beschäftigt ist, kann die Technik oder der Abendbetrieb nichts tun.» Gerade diese Unterschiede gehen in der kulturpolitischen Debatte oft vergessen – die Menschen fallen durch die Maschen der öffentlichen Wahrnehmung und Unterstützung.

No money, no culture

Und natürlich ist die finanzielle Unterstützung der Elefant im Raum. Riesen berichtet von mühsamen Formularen und Prozessen. Von einer Entschädigung, die am Ende doch zu gering ausfällt und den Aufwand kaum wert ist. Riesen hat zwar für ihr aktuelles Projekt Kurzarbeit beantragt, doch der definitive Entscheid steht noch aus. Beim Tojo gibt es Kurzarbeit und Ausfallentschädigung für abgesagte Produktionen. «So stehen wir zum Glück im Moment noch relativ gut da», sagt Sandro. «Existenzsicherung durch Kurzarbeit ist aber auch bei uns nicht möglich.» Viele arbeiten nur in Teilzeitpensen oder im Stundenlohn. «Und wir brauchen auch ein Polster für die Zukunft. Wir wollen in die Infrastruktur und in die bei uns auftretenden Gruppen investieren.» Im Gegensatz zu den freischaffenden Künstler*innen ginge es aber relativ gut.
«Längerfristig wünsche ich mir eine andere Kulturpolitik », sagt Sandro. Die Förderung auf Projektbasis funktioniere gerade in einer so unsicheren Situation wie der Pandemie einfach nicht. «Hier bräuchte es ein radikales Umdenken.» Hinzu kommt: «Es steht die Vermutung im Raum, dass dem Staat durch ein bedingungsloses Grundeinkommen weniger Kosten anfallen würden, als mit dem aktuellen System.»
Auch Riesen wäre über neue Lösungen froh. «Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde in dieser schwierigen Situation die Gedanken im Kopf etwas beruhigen», sagt sie. Und auch sie glaubt, dass die aufwändige Bürokratie im Moment wohl teurer ist als eine einfache Grundversorgung.
In Zürich und Basel findet nun ein kleines Umdenken statt. So finanziert Zürich zumindest selbständige Kunstschaffende für die nächsten drei Monate. Nur leider fallen auch hier viele aus dem Rahmen, denn Freischaffende, die sich von Anstellung zu Anstellung hangeln, gehen leer aus.
Dennoch würde ein Grundeinkommen eine Existenzsicherung und auch die Freiheit bieten, sich langjährigen Projekten zu widmen – die dann natürlich noch zusätzliche Projektförderung bräuchten. Riesen denkt dabei auch an die aktuelle Produktion des Kollektivs «Riesen Blöchlinger»: «Anna Blöchlinger und ich sind beide Mütter und tragen das Projekt um den Spagat zwischen Theater und Mutterschaft schon lange mit uns herum. Seit sechs Jahren beschäftigt uns das Thema, jetzt hätten wir es eigentlich endlich mit der Finanzierung und der Realisierung geschafft.» Aber nach zwei Wochen proben mussten sie die Arbeit schweren Herzens einstellen. Zu unsicher ist die Lage, ohne Aussicht auf Premiere. «Wir wollen lieber erst dann wieder proben, wenn auch tatsächlich Vorstellungen möglich sind.»
«Bei mir stellt sich eine gewisse Ohnmacht ein», sagt Riesen. «Wir sind der Situation extrem ausgeliefert und können sehr wenig machen, was eine wirkliche Resonanz hat.» Auch sei es unter den aktuellen Bedingungen schwierig, die Motivation und die Energie hochzuhalten. «Ich brauche einen Endpunkt, auf den ich hinarbeiten kann.» Da ist auch die Verlagerung ins Internet schwierig. «Streamen scheint die Lösung für alles zu sein», spricht Sandro ein oft gehörtes Argument an. «Aber es ist nicht Theater. Es ist kein Ersatz für das Stehen auf der Bühne vor einem Publikum. Das Soziale ist im Theater unglaublich wichtig; auch ästhetisch ist es völlig verschieden.»
Und trotzdem: Je länger die Situation anhält und die Unsicherheit besteht, desto stärker müssen sich Kulturschaffende mit dem Thema auseinandersetzen. «Theater ist nicht das Gleiche wie Film», gibt Riesen zu Bedenken. «Es ist ein Medium, das von der Begegnung lebt. Die Unmittelbarkeit macht das Theater lebendig.» Natürlich will sie jetzt auch digitale Möglichkeiten ausprobieren. Doch das verlangt nach neuer Planung, neuen Konzepten, neuem Knowhow, neuer Finanzierung. «Wenn alles unsicher ist, kann das lähmen.»

Ungestilltes Kulturbedürfnis

«Die aktuelle Situation ist natürlich lähmend», sagt auch Sandro. Eine Zwangspause, die man nicht schönreden kann und will. «Ohne Austausch mit Publikum und anderen Menschen kann man nicht kreativ sein.» Gleichzeitig gibt ihm Hoffnung, dass das Kollektiv durch die Pandemie auch zusammengewachsen sei. «Es gibt Platz für Diskussionen neben dem Normalgeschäft.»
«Natürlich wünsche ich mir, dass es bald wieder zu einer gewissen Normalität kommt», sagt Riesen. «Die aktuellen Lockerungen könnten aber auch den Todesstoss für uns Kulturschaffende bedeuten.» Wenn man jetzt nicht vorsichtig sei, könne das zu einem weiteren Jahr voller Einschränkungen führen. Und: «Es ist nicht absehbar, dass sich für uns gross etwas ändert.»
Trotz allem bleibt da die Hoffnung. Dass sich die Menschen an der Nase nehmen. Dass irgendwann wieder Auftritte vor kleinem Publikum möglich sind. «Auch wenn sich das natürlich finanziell nie lohnt», wendet Sandro ein. Denn im Hinterkopf arbeitet die Überzeugung, dass die Menschen die Kultur vermissen. «Ich merke aus der Umgebung einen grossen Zuspruch», sagt Riesen. «Sie vermissen das Theater, das Kino, die Auftritte, die Konzerte, das Tanzen. Und sie würden auf jeden Fall wiederkommen. Denn die fehlenden Kulturveranstaltungen sind ein Problem. Es gibt ein grosses Bedürfnis.»