Arbeitsintegration Text: lea | Bild: rex

«Es ist ein kompletter Verzicht auf die Theorie»

Der Kanton Bern plant auf 2025 ein neues System der Arbeitsintegration. Das Projekt trägt den Namen AI-BE (Optimierung Arbeitsintegration Kanton Bern) und wurde von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) sowie der Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion (WEU) des Kantons Bern entworfen. Die Umsetzung des Projekts ist bereits in Gange. Kevin und Joel, die beide Soziale Arbeit an der Fachhochschule Bern studierten, haben sich in ihrer Bachelorarbeit mit dem Projekt auseinandergesetzt. Sie werfen einen kritischen Blick auf die geplante Umstrukturierung und sehen darin eine Entwicklung, welche sich grundlegend im Schweizer Sozialstaat abzeichnet.

m*: Wie seid ihr auf das Projekt AI-BE gestossen?
Joel: Wir haben zur Zeit, als das Projekt an die Sozialdienste zur Auswertung getragen wurde, gerade beide ein Praktikum dort gemacht.
Kevin: Das Projekt wurde an unser Team gereicht, mit der Aufforderung, dazu Stellung zu beziehen. Leider hatten wir sehr wenig Zeit, um uns angemessen mit der geplanten Umstrukturierung zu befassen. Wir haben dennoch versucht, einige kritische Fragen in unserer Rückmeldung zu formulieren, die wir dann an den Fachverband der Sozialdienste geschickt haben. Die Kritik, die der Fachverband schliesslich zum Projekt äusserte, hatte bisher jedoch keine Auswirkung auf die Realisation des Projektes.
Joel: Als ich das Projekt zum ersten Mal überflogen habe, war ich sehr irritiert.
Kevin: Wir waren mitten im Studium, die fachliche Auseinandersetzung mit Ideen, Erkenntnissen und Funktionen der Sozialen Arbeit war uns gerade sehr geläufig…
Joel: …und es zeigte sich, dass dieses Projekt sich einfach nicht mit den Inhalten deckt, denen wir in unserem Studium begegnet sind. Es wirft keinen kritischen Blick auf Zwänge als Anregung zur Arbeitsmotivation, es berücksichtigt nicht die Relevanz der Beziehungsarbeit und Kommunikation mit den Nutzer*innen(1) und es findet keine Auseinandersetzung mit den strukturellen Begebenheiten statt.

m*: Fangen wir mal von vorne an. In diesem Projekt geht es um Arbeitsintegration. Was genau ist denn Arbeitsintegration?
Kevin: Sagen wir so: Es gibt einen ersten Arbeitsmarkt, in dem Menschen arbeiten und dafür einen Lohn erhalten, mit dem sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Daneben gibt es einen ergänzenden Arbeitsmarkt. Dieser ergänzende Arbeitsmarkt wurde künstlich vom Staat geschaffen, um Erwerbslosigkeit zu «bekämpfen». Arbeitsintegration befindet sich also in diesem ergänzenden Arbeitsmarkt, mit dem Ziel, Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern. Mit der Arbeitsintegration hängen eben auch die IV (Invalidenversicherung), die ALV (Arbeitslosenversicherung) und der Sozialdienst zusammen. Die Vorstellung ist, dass der ergänzende Arbeitsmarkt nur vorübergehend ist: Du erholst dich im ergänzenden Arbeitsmarkt, erhältst staatliche Gelder, aber danach gehst du wieder in den ersten Arbeitsmarkt und verdienst dein Geld selber. Es geht also darum, die Menschen zu «aktivieren» ihr eigenes Geld zu verdienen.
Joel: Dabei wird versucht, im ergänzenden Arbeitsmarkt Formen von Arbeit zu finden, die der Ausbildung und/oder Berufserfahrung der Menschen im ersten Arbeitsmarkt entspricht.
Kevin: Im ergänzenden Arbeitsmarkt werden jedoch keine effektiven Löhne ausgezahlt. Deshalb gilt die Tätigkeit, die dort ausgeübt wird, auch nicht wirklich als Arbeit, sondern viel mehr als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung, die die Nutzer*innen erhalten. Das Ganze basiert auf der Idee der Eigenverantwortung – niemand soll unterstützt werden, ohne eine Leistung erbracht zu haben.

m*: Aus dem ergänzenden Arbeitsmarkt wird also kein Profit geschlagen?
Joel: Nein.
Kevin: Die sozialen Einrichtungen, die Arbeitsplätze im ergänzenden Arbeitsmarkt anbieten, machen in diesem Sinn «Umsatz». Sie haben einen Leistungsvertrag mit dem Kanton und erhalten pauschal Geld von diesem. Und genau in dieser Finanzierung liegt ein Knackpunkt des Projekts AI-BE.

m*: Okay. Sprechen wir also über AI-BE. Wie kam es denn zu diesem Projekt?
Joel: Das Projekt wurde lanciert, um die jetzige Methode der Arbeitsintegration zu optimieren. Die Koordination zwischen den verschiedenen Netzen des Sozialstaates (IV, ALV, Sozialdienst und RAV) und den sozialen Einrichtungen im sekundären Arbeitsmarkt soll vereinfacht, Vorgänge der Arbeitsintegration standardisiert und die Finanzierung anders vergeben werden.
Kevin: Das jetzige System gilt als alter Schuh, obwohl das System der Arbeitsintegration, das wir bisher hatten, überhaupt nicht ausgewertet wurde. Aber im Grunde geht es darum, die Ablösung der Nutzer*innen von der Sozialhilfe(2) zu erhöhen.

m*: Handelt es sich also um eine Sparmassnahme?
Joel: Nicht direkt. In einem ersten Schritt wird ja auch alles teurer, da neue Fachstellen zur Koordination geschaffen werden und man sich erstmals an das neue System gewöhnen muss. Längerfristig erhofft man sich aber trotzdem, dass mehr Menschen sich schneller von der Sozialhilfe lösen, was natürlich einen Spareffekt erzielen sollte.
Kevin: Die Vertreter*innen des Projekts werben unter anderem damit, dass es durch die Standardisierung und die neuen Fachstellen zu einer schnelleren Arbeitsintegration kommt. Dies wird als etwas «emanzipatorisches» dargestellt: Man helfe den Menschen, möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen zu stehen – also im ersten Arbeitsmarkt zu landen. Wie «nachhaltig» dies jedoch ist, stelle ich jetzt mal infrage, denn den Menschen fehlt damit etwa die Möglichkeit, sich von einer Krise zu erholen.

m*: Worin seht ihr die grösste Veränderung?
Joel: Vieles verändert sich. Ein zentraler Aspekt ist sicherlich die Finanzierung. Hier sind wir an dem Punkt, den Kevin vorhin als Knackpunkt bezeichnet hat. Die sozialen Einrichtungen, die Arbeitsplätze im ergänzenden Arbeitsmarkt anbieten, erhalten keine fixen Gelder vom Kanton mehr. Das Geld erhalten sie erst im Nachhinein, also wenn dieser Arbeitsplatz auch besetzt wurde.

m*: Und worin seht ihr hierbei das Problem?
Kevin: Die sozialen Einrichtungen befinden sich ständig in der Gefahr, keine Gelder zu erhalten. Sie treten zueinander in Konkurrenz, da sie sozusagen um die «Arbeiter*innen» des ergänzenden Arbeitsmarktes kämpfen müssen. Wenn der Sozialdienst die Plätze einer sozialen Einrichtung nicht besetzt, erhält diese keine Gelder und geht zugrunde. Die sozialen Einrichtungen müssen deshalb auch eigens Gelder vorschiessen. Da sich die Bedingungen aufgrund der unsicheren Finanzierung immer wieder ändern, muss das Personal, das in solchen Einrichtungen arbeitet, flexibler sein. Die Qualität der Arbeit leidet dementsprechend.
Joel: Es wird künstlich ein System von Angebot-Nachfrage erschaffen. Die Einrichtungen müssen ein Angebot im ergänzenden Arbeitsmarkt schaffen, das dann von den Ämtern, also etwa dem Sozialdienst, gebucht wird. Das Ganze ist der freien Marktwirtschaft nachempfunden. Was überhaupt keinen Sinn macht, da die Nachfrage keine reale Nachfrage ist.
Kevin: Es ist der Versuch, die sozialen Einrichtungen zu verwerten. Mit diesen soll umgegangen werden, wie mit einem wirtschaftlichen Gut. Und eigentlich sollte es nicht so sein. Die Idee des Sozialstaates(3) liegt nämlich genau darin, dass er Probleme und Mängel des freien Marktes kompensieren sollte, weshalb die Institutionen des Sozialstaates, also Einrichtungen im Bereich Gesundheitswesen, Bildungswesen oder eben Sozialversicherungen und Arbeitsmarktpolitik ausserhalb der Marktwirtschaft stattfinden sollten.

m*: Ist das die Definition des Sozialstaates?
Kevin: Schauen wir uns doch die Geschichte an. Im 19. Jahrhundert wurden viele soziale Kämpfe geführt. Die Menschen gingen auf die Strasse und forderten bessere Arbeitsbedingungen und soziale Leistungen. Die Politik hat anerkannt, dass es soziale Ungleichheit gibt und dass diese vom Staat angegangen werden muss. Die Probleme wurden als kollektive und strukturelle Probleme anerkannt, die über die Einzelperson hinausgehen. Der Sozialstaat wurde dafür geschaffen, um die Ungleichheit, die aufgrund des Marktes entstand, abzufedern. Als die Wirtschaft in der Schweiz ab den 1950er Jahren zu florieren begann, wurde die Idee der Eigenverantwortung grösser. Man fragte sich, warum der Staat für Menschen finanziell aufkommt. Hier entstand auch die Idee, dass die Institutionen des Sozialstaates ineffizient, viel zu teuer und nicht der Wirtschaft förderlich seien, sondern eine Gefahr für die Wirtschaft darstellten.
Joel: In den 90er Jahren kam der Trend auf, staatliche Prozesse betriebswirtschaftlich zu führen, was eben auch den Sozialstaat und seine Institutionen betrifft. Seither erhält diese Form von «Management» immer mehr Einzug in Bereiche, die ausserhalb von wirtschaftlichen Gesetzen stattfinden sollten. Für die Institutionen des Sozialstaates ist das paradox. Damit verliert der Sozialstaat seinen eigentlichen Daseinsgrund.
Kevin: Und diese Art des «Management» ist ein kompletter Verzicht auf die Theorie. Die Theorien und Erkenntnisse der Sozialen Arbeit sollten eine Voraussetzung für die Ausgestaltung von Projekten wie AI-BE sein. Aber da sich Erkenntnisse der Sozialen Arbeit nicht mit betriebswirtschaftlichem Vorgehen decken, werden sie nicht berücksichtigt.

m*: Wer ist denn abgesehen von den Einrichtungen, die Plätze für die Arbeitsintegration anbieten, noch von den Umstrukturierungen betroffen?
Kevin: Also eigentlich alle, die da mit drin sind. Am meisten wohl die Nutzer*innen.
Joel: Die Nutzer*innen sollten ja eigentlich im Vordergrund stehen. Die zentrale Frage sollte davon handeln, wie die Personen, die den Sozialdienst nutzen, am besten unterstützt werden können. Die neuen Massnahmen zielen jedoch nicht auf die Nutzer*innen ab.
Kevin: Da würde ich jetzt widersprechen. Die neuen Massnahmen zielen sehr wohl auf die Nutzer*innen ab, aber eben ausschliesslich. Es geht nicht um die strukturellen Bedingungen, welche die Nutzer*innen erst in die prekäre Lage gebracht haben, sondern lediglich darum, aus der betroffenen Person das Beste herauszuholen. Klar können wir infrage stellen, ob das Ganze dem Wohl der Nutzer*innen dient. Aber kritisieren würde ich vor allem den Ansatz. Politische, wirtschaftliche sowie rechtliche Bedingungen müssten in die Mängel genommen werden und nicht die Nutzer*innen. Eigentlich handelt es sich um ein System des «Victim-Blaming» – kritisiert und verändert wird, wer unter den Bedingungen im ersten Arbeitsmarkt leidet und dessen Anforderungen nicht gerecht werden kann. Dies ist allerdings eine Problematik, die bereits jetzt besteht.

m*: Und wie zeigt sich der Nachteil für die Nutzer*innen konkret in den geplanten Umstrukturierungen?
Kevin: Die Anforderungen, um in die Arbeitsintegration zu gelangen, steigen. Es wird also auch einen Teil der Nutzer*innen geben, die diesen Anforderungen nicht gerecht werden und die dementsprechend nicht in der Arbeitsintegration landen. Bei diesen Personen wird dann versucht, ihre Situation schnellstmöglich zu stabilisieren, damit auch sie bald der Arbeitsintegration zugewiesen werden können. Diejenigen wiederum, die in der Arbeitsintegration landen, erhalten nicht wirklich Zeit, um sich zu erholen. Sie müssen ein klares Ziel verfolgen, das so schnell als möglich erreicht werden muss. Dieser Prozess wird in allen Institutionen standardisiert. Ganz nach dem Motto: «Wir erwischen alle».
Joel: Das wird alles durchgetaktet sein. Für die verschiedenen Schritte im Arbeitsintegrationsverfahren gibt es vorgegebene Zeiträume, von der Einschätzung ob und wie arbeitsfähig die Person ist bis hin zu ihrer Integration in den ersten Arbeitsmarkt.

m*: Das Projekt «AI-BE» setzt sich zwei übergeordnete Ziele, nämlich die «nachhaltige» und «rasche» Arbeitsintegration. Ist diese Zielsetzung eurer Meinung nach realistisch?
Kevin: Hier sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt. Das Wort «rasch» widerspricht meinem Auftrag als Sozialarbeiter. Es geht doch darum, sich Zeit zu nehmen, um mit einer Person gemeinsam eine möglichst langfristige und stabile Situation aufzubauen, ohne zeitlichen Druck. So verstehe ich diesen Beruf. Aber innerhalb der Logik von «AI-BE» ist zeitliche Flexibilität weder relevant noch möglich. Ansonsten könnte das standardisierte Verfahren nicht umgesetzt werden. Dadurch bewegt sich die Soziale Arbeit weg von der Beziehungsarbeit mit Nutzer*innen hin zu einem administrativen und technischen Beruf. Beratung, Prozess und Beziehung sind nicht mehr relevant.
Joel: Nachhaltig und rasch. Ich erkenne hier den Effizienzgedanken, der sich in der Marktwirtschaft wiederfindet. Aber aus Sicht der Sozialen Arbeit ist beides zusammen nicht möglich.

m*: Was wäre denn eurer Meinung nach sinnvolle Arbeitsintegration?
Kevin: Das Ziel sollte darin bestehen, dass eine Person mit einem Gefühl der Ermächtigung aus einer Massnahme kommt und nicht etwa mit einem Gefühl der Entrüstung oder Enttäuschung. Die Programme der Arbeitsintegration sollten den Nutzer*innen jeweils angepasst werden, also individueller gestaltbar und stärker an den Bedürfnissen orientiert sein. Einer kranken Person, die im ersten Arbeitsmarkt keinen Job findet, da sie krankheitsbedingt häufig ausfällt, hilft eine Arbeitsintegrations-Massnahme nicht weiter. Es ist nicht das, was sie braucht. Und dennoch wird es so praktiziert.
Joel: Die kranke Person bräuchte einen Arbeitsplatz, in dem es möglich ist, teilweise auszufallen und reduziert zu arbeiten. Im Moment ist es so, dass die Arbeitsintegration sich an den Unternehmen orientiert. Wir vom Sozialdienst gehen also hin und fragen: Wie müssen die Menschen sein, damit sie bei euch arbeiten können? Dabei sollte es doch umgekehrt sein. Eigentlich sollten wir hingehen und sagen: So sind die Menschen, schafft die Bedingungen, damit sie bei euch arbeiten können. Die Wirtschaft sollte sich den Bedürfnissen der Arbeiter*innen anpassen und nicht die Arbeiter*innen den Bedürfnissen der Wirtschaft. Mit dem Projekt AI-BE passt sich nun auch der ergänzende Arbeitsmarkt den Bedürfnissen der Wirtschaft an.

(1) Die Menschen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, werden in diesem Text als Nutzer*innen bezeichnet. Im Vergleich zu den häufig verwendeten Begriffen «Kund*in» oder «Klient*in» deutet der Begriff «Nutzer*in» nicht an, dass die Personen, die soziale Leistungen beanspruchen, diese selbstbestimmt nutzen können.
(2) Die Sozialhilfe ist auf kantonaler Ebene für die finanzielle Unterstützung von Menschen in Notlagen zuständig, die von den Sozialversicherungen (wie IV,ALV oder AHV) keine Gelder (mehr/noch nicht) erhalten und ihren Lebensunterhalt nicht selber finanzieren können. Der Sozialdienst führt diese Hilfe aus, das heisst, Menschen, die im Sozialdienst arbeiten, begleiten die Menschen, die von der Sozialhilfe finanzielle Unterstützung erhalten.
(3) (Ergänzung) Der Sozialstaat umfasst die Bereiche Arbeiter*innenschutz, Sozialversicherungen, Bildungswesen, Gesundheitswesen und Arbeitsmarktpolitik. Er ist dazu da, eine soziale Sicherheit zu gewährleisten. Der Sozialstaat soll also einen Mindestlebensstandard der bewilligt in der Schweiz lebenden Menschen ermöglichen, unabhängig von ihrer Leistung auf dem Markt. Neben der finanziellen Sicherung des Lebensstandards ist der Sozialstaat dazu da, Menschen einen Zugang zu Dienstleistungen, wie Kultur und Bildung zu gewährleisten. Dem Sozialstaat zugrunde liegen festgeschriebene Rechte in der Bundesverfassung, wie das Recht auf Bildung, das Recht auf Hilfe in Notlagen etc.