Die ganze Welt kennt die Schweiz als das Land der Schokolade, der Uhren und der Neutralität. Teilweise Mythen, die auf der Romantisierung der Schweizer Geschichte basieren. Die Uhrenindustrie findet allerdings tatsächlich im Schweizer Jura ihre grosse Entwicklung. Erst waren es einzelne kleine Familienbetriebe, die in der Region Vallon gegründet wurden und dort ihre bescheidene Produktion führten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Uhrenindustrie immer grösser und wurde Teil des Wirtschaftmarktes. Die Fabriken erlangten durch die, zu dieser Zeit boomenden, Industrialisierung ihren Aufschwung. Die Produktionen wurden ausgeweitet und automatisiert, was den Heimarbeiter*innen, die Zuhause oder in kleinen Ateliers für die Uhrenfabriken arbeiteten, zum Verhängnis wurde. Die Arbeitsschritte wurden Stück für Stück von Maschinen abgenommen. Zudem durchlebte die Industrie mehrere grosse Wirtschaftskrisen, was sich auf die Löhne der Arbeitenden auswirkte und zur teilweisen Verarmung der Arbeiter*innenklasse führte.
Selbsthilfe durch Freisinn und Gewerkschaften
Die Politiker und Bürgerlichen des Tals wollten keine Verantwortung für die verarmten Arbeiter*innen übernehmen und isolierten diese sozial oder verwiesen sie sogar dem Tal. Auch über Arbeitsmigrant*innen, die im Vallon vorbeikamen, erfreuten sie sich wenig. Die Stadt Sonvilier im Tal war von extremer ökonomischer und sozialer Ungerechtigkeit gezeichnet. Deswegen gründeten Teile der Bevölkerung Fürsorgeinstitutionen für die Armen, was aber nicht allen Menschen die Grundversorgung sicherte. Immer wieder fielen einzelne Personen sowie ganze Familien durch das «fürsorgliche» Netz der Freisinnigen. Besonders betroffen waren chronisch Kranke, Arbeiter*innen der untersten Schicht, Frauen, die zu jener Zeit ein Drittel der Arbeitenden in der Uhrenindustrie ausmachten, strafrechtlich Verurteilte oder Menschen, die sich entgegen den sittlichen Moralvorschriften verhielten. In späteren Jahren, als das Tal mehr und mehr von anarchistischem Gedankengut erreicht wurde, wurden diese eher freisinnigen, zwar sozial engagiert, doch dem Patriotismus und Kapitalismus treu gebliebenen Institutionen teils durch anarchistische Gewerkschaften ersetzt. Diese hatten das Ziel, den Arbeiter*innen die Ursachen der sozialen Ungerechtigkeit aufzuzeigen und sie zu radikalisieren.
Die Juraföderation
Die Uhrenmacher*innen wurden durch ausländische Broschüren und Zeitschriften, die von den dortigen Abstürzen der Arbeitsmärkte erzählten, darauf aufmerksam gemacht, was ihnen als verhältnismässig privilegierte Arbeiter*innen bevorstehen könne. Die bekannten Revolutionäre und Freunde Bakunin und Guillaume hielten im Tal von Saint-Imier Reden und Vorträge mit anarchistischem Gedankengut, was die Leute neugierig machte und anzog. Kreise der als «freisinnige Hochburg» bezeichneten Region Vallon radikalisierten sich zunehmend und banden sich in die Juraföderation ein. Die Föderation war eine Bewegung, bestehend aus den antiautoritären und anarchistisch geprägten Sektionen der «Internationale Arbeiterassoziation» (IAA).
Ausschluss und Gründung der Antiautoritären
Im Jahr 1864 gründete sich in London die «Internationale Arbeiterassoziation» (IAA), auch «erste Internationale» genannt – ein Zusammenschluss von Arbeitsgesellschaften der ganzen Welt. Ihr Ziel war der Schutz, der Fortschritt und die vollständige Emanzipation der Arbeiter*innenklasse. Ein schon von Anfang an laufender Konflikt zwischen verschiedenen politischen Vertreter*innen mündete Jahre später in der Spaltung der IAA. Der Konflikt, angeführt von Karl Marx und Michail Bakunin, basierte auf der Frage, ob eine zentralistische Führung von Arbeiter*innenparteien sinnvoll sei oder nicht. Die Anarchist*innen waren gegen die Idee einer zentralistischen Führung. Bakunin und Guillaume wurden daraufhin aus der ersten Internationalen ausgeschlossen. In der niederländischen Stadt Den Haag wurde ein Kongress ohne die Anarchist*innen abgehalten. Als Reaktion hielten diese wenige Tage später einen Gegenkongress in Saint-Imier ab: das erste internationale Anarchistische Treffen von 1872. Daraus entsprang die «Antiautoritäre Internationale», die sich gegen die zentralistischen Ideen stellte. Trotz der Rivalitäten führten Bakunin und Marx in den Jahren darauf eine Freundschaft.
Der Kongress
Wer alles an diesem Kongress teilnahm, ist unklar, da keine Teilnehmer*innenliste angefertigt wurde. Aufgrund der Memoiren von Teilnehmenden kann davon ausgegangen werden, dass mindestens 43 Personen anwesend waren. Jedoch ist von einer höheren Quote der Teilnehmer*innen auszugehen, wenn man bedenkt, dass die Juraföderation zu der Zeit um die 300 Mitglieder zählte. Vertreter*innen aus mindestens sechs Ländern (Italien, Spanien, Frankreich, England, der Schweiz und Russland), waren anwesend. Auch die Uhrmacher*innen von Saint-Imier hatten eine viel grössere Teilnahme am Kongress als oft erwähnt wird. Sie stehen im Schatten der bekannten und «grossen» Revolutionären wie Bakunin und Guillaume, die innerhalb der Bewegung viel Bewunderung und Anerkennung genossen.
Frauen im Anarchismus
Im Schatten standen in der Politik auch die Frauen. Ihnen wurden die Möglichkeiten zu politischer Bildung und Aktivismus oft verwehrt. Sie galten als nicht kompetent für diese Bereiche und sollten sich lieber um das Wohlergehen der Ehe und der Familie kümmern. So wurde auch die «Sektion 12», die sich aktiv für Frauenrechte einsetzten, aus der ersten Internationalen ausgeschlossen. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Frauen einen viel grösseren Einfluss auf die Arbeiter*innenbewegung und insbesondere auf den Anarchismus hatten als bisher angenommen. Oft fehlen Nachweise in den klassischen Quellen zu den Tätigkeiten der politischen Bewegung über die Teilhabe der Frauen. Beim Betrachten von Biografien und Tagebüchern wird jedoch klar, dass sie genauso Teil der Bewegung waren. So zum Beispiel die sieben russischen Revolutionärinnen, die zusammen an der Universität Zürich Medizin studierten. Dort hielten sich zu jener Zeit schon andere revolutionäre Gruppierungen auf. Durch diese wurden die Studentinnen zunehmend politisiert und radikalisiert. Die Frauen waren revolutionär eingestellt und nahmen auch am Kongress von Saint-Imier teil.
Die Resolutionen
Der Kongress wurde auf Grund des Ausschlusses aus der ersten Internationalen und zur Besprechung des weiteren Vorgehens abgehalten. Es wurden vier Resolutionen (Schriftliche Erklärung, beruhend auf einem Beschluss, einer politischen, gewerkschaftlichen Versammlung) verfasst, in welchen die Mängel und Übel der Gesellschaft im Allgemeinen erwähnt werden. Die Teilnehmer*innen wünschten sich politische Macht für die unterste Klasse und sprachen sich gegen die Idee einer zentralistischen Führung aus. Das Proletariat sollte kollektive Entscheidungen über seine Güter treffen können und nicht durch eine Minderheit geführt werden. Sie bezeichneten den deutschen Kommunismus als autoritäre Funktion, der krank mache. Letztendlich bestanden die Resolutionen allerdings nicht nur aus Bemängeln des Ist-Zustands, sondern zeigten auch vier Lösungsansätze auf. Die ersten beiden Resolutionen beziehen sich auf die noch bestehende IAA. Es wurde festgelegt, dass sich die Antiautoritäre Internationale von den Beschlüssen in Den Haag und dem geplanten Vorgehen distanziert. Auch bestanden sie darauf, den Kerngedanken der Internationalen, die Vernetzung der Proletarier*innen aller Länder auf Basis freier Föderationen (Bündnisse) zur länderübergreifenden Durchsetzung der Arbeiter*innenschaft, weiterzuführen. Sie schlossen somit einen Freundschafts- und Solidaritätspakt. Die dritte Resolution schlägt einen konkreten Aktionsplan vor: «Die Pflicht des Proletariats ist die Zerstörung der bestehenden politischen Ordnung, eine soziale Revolution als gewaltsamer und kompromissloser Umsturz der Regierungen». Der Kampf solle ausserhalb der bürgerlichen Politik geführt werden. Der Umsturz verlange, laut Resolution, Spontanität und militante Überzeugung. Die vierte Resolution spricht die Organisierung der Arbeiter*innenklasse an. Für die Revolution sei der Aufbau von Gewerkschaften und organisierten Arbeiter*innengruppen unerlässlich. Streiks und ein Bewusstsein über das Bürgertum und Proletariat seien die Mittel, die gestärkt werden sollen für den revolutionären Kampf.
Anarchistisches Treffen
Die ersten beiden Resolutionen beziehen sich auf eine zu dieser Zeit bestehendenOrdnung. Trotzdem haben die Ideen der ersten Internationalen heute noch Einfluss auf das politische Denken. Einige Parteien und Gewerkschaften wurden von ehemaligen Mitgliedern der ersten Internationalen gegründet und blieben bis heute bestehen. Die Idee der dritten Resolution sah man in den darauffolgenden Jahrzehnten an anarchistischen Attentaten realisiert, die auf der ganzen Welt verübt wurden – heute allerdings nicht mehr gängige Praxis sind. Die vierte Resolution ist mit ein Grundstein für die später und bis heute bestehenden Gewerkschaften und die Theorien des Anarchosyndikalismus und der des Anarchokommunismus.
151 Jahre später
Manche würden vielleicht sagen, dass an diesem Treffen der Grundstein des Anarchismus gelegt wurde. Diesen Sommer, mehr als 150 Jahre später, wird es vom 19.-23. Juli wieder so weit sein. Anarchist*innen aus der ganzen Welt treffen sich in Saint-Imier. Allerdings nicht um dem vergangenen Ereignis zu gedenken, sondern um sich über Erfahrungen und laufende Kämpfe auszutauschen – über die Verschiedenheiten der diversen anarchistischen Ausrichtungen hinweg. Es wird sich zeigen, was sich in diesen 151 Jahren verändert hat und aus diesem Treffen resultieren wird.