Pariser Kommune Text: ffg | Bild: Uniformen von Kommunardinnen nach A. Raffet

Republik im Blutrausch

Vor 150 Jahren endete die revolutionäre Selbstverwaltung der Menschen von Paris in einem Massaker. Ein kurzer Blick zurück in eine Zeit, in der die Utopie in grösster Not zum Greifen nah schien.

Kostenloser Zugang zu Schulen für alle? Der Zehnstundentag für die Arbeitenden? Eine Regierung, die die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft widerspiegelt? Die Anerkennung des Konkubinats? Die Selbstverwaltung der Fabriken durch die Arbeitenden? 1870 beantwortet das kaiserliche Frankreich all diese Fragen mit einem «Nein». Und nicht nur Frankreich gibt seiner Bevölkerung eine eindeutige Antwort: Die Völker Europas sind nach der Niederschlagung der Märzrevolutionen 1848 immer noch fest im Griff der Fürsten, Monarch*innen und Kaiser. Es sind und bleiben aber unruhige Zeiten: Die Schweiz ist gerade 20 Jahre alt, Italien ist soeben entstanden, das Deutsche Reich in Planung. Demokratischen Ideen sind seit der Französischen Revolution 1789 nicht mehr wegzukriegen; der Kampf zwischen autoritären Systemen und aufrührerischen Massen spitzt sich laufend zu. Das Kommunistische Manifest ist bereits über 20 Jahre alt und dabei, seine Wirkungsmacht voll zu entfalten. 1871 manifestieren sich viele der genannten Konflikte im Paris der Commune.

Revolutionsversuch im Krieg

Im Vorjahr hat Frankreich einem der aufstrebenden Staaten den Krieg erklärt: Preussen. Die eigene Stärke überschätzend, bläst Paris siegessicher zum Marsch auf Berlin. Doch es sind die Preussen mit ihren Verbündeten, die nach Westen ziehen, nach wenigen Wochen Kaiser Napoleon III. festnehmen und auf Paris marschieren. In Paris zwingt die Bevölkerung den alten Staatsapparat, abzutreten; es entsteht eine republikanische Übergangsregierung, deren wichtigste Männer bald nach Bordeaux fliehen. Nur wenige Tage trennen die Preussen noch vor dem geistigen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Zentrum Frankreichs. König Wilhelm I., Otto von Bismarck und Konsorten entschliessen sich zur Belagerung von Paris, die rund drei Monate dauern wird und die Bevölkerung zum Hungern zwingt. Mehrere Versuche der französischen Armee, den preussischen Belagerungsring zu durchbrechen, scheitern. Ende Januar kapituliert Frankreich gegen den Willen der Pariser*innen. Auf Schloss Versailles wird das Deutsche Reich ausgerufen – Wilhelm I. ist nun Kaiser. Am 1. März defiliert die deutsche Armee durch die Boulevards von Paris, wo es brodelt, wie seit 1789 nicht mehr.

Die Bevölkerung, die aus ihr heraus gebildete Nationalgarde und auch viele Soldaten der regulären Armee wollen sich der Niederlage gegen Preussen nicht fügen und sich ebenso wenig einer eher monarchistisch-autoritären, als republikanischen französischen Regierung unterstellen, die sich in Bordeaux herauskristallisiert. Erfüllt von den Idealen einer demokratischen, egalitären Welt und einem Leben in Freiheit und Solidarität erheben sich die Pariser*innen und jagen die eigene Armee aus der Stadt. Die französische Armee sammelt sich in Versailles, die Preussen beobachten die sich anbahnende Konfrontation aus dem Norden des Landes, den sie besetzt halten.

In Paris wird ein neuer Gemeinderat – die «Commune » – gewählt. Die Nationalgarde gibt freiwillig Teile der Macht an die Bevölkerung und die verschiedenen Bewegungen ab. Noch sind es nur Männer, die wählen dürfen, aber erste feministische Organisationen entstehen und kämpfen für Emanzipation, Lohngleichheit, die Säkularisierung der Schulen. Zwischen den verschiedenen Gruppierungen – die wichtigsten unter ihnen sind Kommunist*innen verschiedener Prägung, Proudhonist* innen, Jakobiner und Anhänger*innen von Auguste Blanqui, einem bekannten Revolutionär, der seit Jahrzehnten Unruhe in Frankreich stiftet, gibt es erhebliche Meinungsunterschiede. Soll man nach Versailles marschieren, und so die Commune auf ganz Frankreich ausdehnen? Soll erst in Paris reiner Tisch und Revolution gemacht werden? Der «Wohlfahrtsausschuss» erlässt verschiedene Dekrete, in denen Eigentum kollektiviert, Mieten erlassen, Löhne erhöht, die Todesstrafe abgeschafft, das Konkubinat anerkannt, die Kirche entmachtet wird. Viele Akte sind symbolisch aufgeladen, wie der Sturz der königlichen Vendôme-Säule oder die Zerstörung der Guillotinen.

Die Niederschlagung der Commune

Auch in Lyon oder Marseilles erheben sich Teile der Bevölkerung zur Commune – die französische Armee ist hier rasch zur Stelle und zerschlägt die Aufstände. Paris wird danach von fast Zweihunderttausend Soldaten belagert, von denen Preussen auf Bitten Frankreichs viele vorzeitig entlassen hat, um dem anarcho-kommunistischen Spuk ein blutiges Ende zu bereiten. Der Durchbruch in die Stadt gelingt am 21. Mai 1871. Paris ist ein Flammenmeer – die Kommunarden fackeln Paläste und andere Gebäude ab. Der Barrikadenkampf beginnt. Eine Woche später ist der letzte Widerstand der Kommunard*innen gebrochen (die letzte Schlacht fand auf dem riesigen Friedhof Père Lachaise statt). Wer nicht im Kampf erschossen wurde, wird es sofort und ohne Prozess nach der Festnahme. Paris ertrinkt im Blut; die genaue Zahl der Toten ist unklar, die Schätzungen belaufen sich von unter Zehntausend bis über Dreissigtausend. Zehntausende werden festgenommen, eingesperrt und deportiert – zum Beispiel nach Neukaledionien. Die Ordnung in Frankreich ist wiederhergestellt – Preussen zieht bald ab und nimmt Elsass-Lothringen unter seine Fittiche. Die überlebenden Revolutionär* innen von Paris sind traumatisiert, müssen sich verstecken oder verlassen Frankreich.

Zehn Jahre später amnestiert der Staat viele an der Commune Beteiligte. Einige kehren aus der Verbannung nach Hause zurück. Führende Persönlichkeiten der Commune sind uns bis heute bekannt oder hatten grossen Einfluss auf das weitere Geschehen innerhalb der kommunistischen, anarchistischen oder sozialdemokratischen Bewegung, die die Welt fortan in Atem halten sollte: Die Anarchistin Louise Michel war Sanitäterin und Agitatorin und war nach ihrer Freilassung bis zu ihrem Tod 1905 militant politisch aktiv. Der Dichter der «Internationalen », Eugène Pottier, war im revolutionären Paris vor Ort, oder Léo Frankel, ein enger Vertrauter von Marx und Engels, der 1872 für den Ausschluss Michail Bakunins aus der «Ersten Internationalen » stimmte. Auch Dichter*innen wie Victor Hugo waren zugegen. Schriftsteller*innen und Politiker*innen werden sich in Zukunft auf die Commune beziehen. Sie hatte zwar nur gut zwei Monate gehalten (aber immer noch länger als beispielsweise die Münchner Räterepublik 48 Jahre später), dafür aber ein kaum zu überschätzendes Zeichen an die Welt gesendet: Die Bevölkerung gibt sich nicht mit Lumpen oder Brot und Spielen zufrieden. Die Menschen wollen ihre eigene Regierung sein, selbstbestimmt und frei von staatlichen, kirchlichen und ökonomischen Zwängen. Und sie sind bereit, dafür zu kämpfen, selbst wenn sie das mit dem Leben bezahlen müssen. Diese Gewissheit hat Trotz der Brutalität und Bestialität der «republikanischen» Regierung überlebt und die rote Fahne bis zum heutigen Tage weitergereicht.