Die Krise Text: hno | Bild: Jeanne Jacobs

Die Vielfalt der Angst

Die Angst spricht viele Sprachen, doch wo sie schreit, ist es meist stumm. Wie Menschen mit den Veränderungen der letzten Monate leben – mit der Angst, der Ungewissheit und einer bedrohlichen Zukunft.

Viele Menschen sind von den Veränderungen der letzten Monate stark betroffen – nach wie vor und auf unabsehbare Zeit. Sie berichten über die Angst. Dieses Gefühl verbindet die folgenden Geschichten. Die erste Geschichte endet damit, dass die Interviewpartnerin plötzlich von der Umwelt abgeschnitten ist. Eine junge Frau, die mit ihren Geschwistern und Eltern in einem Asylcamp im Kanton Bern wohnt. Sie ist meine Freundin. Plötzlich kann ich sie nicht mehr erreichen. Ich mache mir Sorgen um sie. Ich habe Angst.

Zum anderen ist da eine ältere Frau. Sie arbeitet als Sexarbeiterin. Sie hat Angst. Existenzängste. Seit beinahe vierzig Jahren arbeitet sie in diesem Bereich. Finanziell stand sie gut da. Doch von einem Tag auf den anderen kommt das «Arbeitsverbot im Erotikgewerbe». Ihr Einkommen fällt aus. Entschädigung kriegt sie keine. Sie muss sich zum ersten Mal in ihrem Leben fremde Hilfe suchen. Zum Glück gibt es diese öffentlich zugänglichen Kühlschränke von Madame Frigo, sagt sie. Es gibt aber Standorte, an denen sie keine Lebensmittel holen kann. Denn sie hat Angst, dass Kund*innen sie erkennen könnten und merken, dass sie arm ist.

Die Angst vor dem Jobverlust

Existenzängste, das haben auch die Betreiber*innen des Corona Solifons erlebt. Die Basisgewerkschaften FAU und IWW, das Gastrakollektiv und das Kafi Klick haben sich seit Beginn des Lockdowns zusammengeschlossen und die Hotline «Corona Solifon» eingerichtet. Mittlerweile haben sie in ungefähr fünfzig Fällen Verletzungen des Arbeitsrechts bearbeitet. Im Kollektiv ist die Wut gross. Diese richtet sich gegen die Politik und die Bosse: «Die Arbeitgeber*innen haben ihre Angestellten in den gemeldeten Fällen sogar noch stärker ausgebeutet, als unser Wirtschaftssystem dies eigentlich verlangt.»

Die Wut gegen die Politik teilen sie mit vielen Betroffenen. Die Hilfspakete sind geschnürt. Doch bei vielen Menschen kommen diese nie an. Unterdessen dürfen Sexarbeiter*innen wieder arbeiten: Mit Schutzkonzept und unter Aufnahme der Personalien. «Jetzt denken alle, dass ich wieder gut dran bin. Aber ganz ehrlich: Meine Kunden werden sich sicher nicht mit ihren Personendaten in eine Liste einschreiben!».

Als eine der Regelmässigkeiten, die sie bei den Anfragen feststellen, beschreibt das Solifon-Kollektiv: «Viele Reinigungskräfte – vor allem migrantische Frauen* –, die direkt bei Privaten angestellt sind, durften während dem Lockdown nicht arbeiten, weil das die Arbeitgebenden nicht wollten. Hier handelt es sich aber um einen sogenannten Annahmeverzug der Arbeitgebenden, deshalb ist der Lohn in diesem Fall auch ohne geleistete Arbeit geschuldet.»

Wenn ich mich in meinem Umfeld umhöre, stelle ich fest, dass die Ängste ganz unterschiedlicher Art sind. Die einen haben Zeit, sich die grossen Fragen zu stellen und empfinden Angst vor dem Unbekannten, der Unklarheit und der Ungewissheit. Eine Person hat Angst, dass die Menschheit nichts aus dieser Krise lernt. Andere erzählen von Ängsten, die sehr persönlich sind. Jemand hatte Angst um die Kinder im eigenen Umfeld. Am Anfang der Pandemie und bis zum Zeitpunkt, als die Person erfahren hat, dass Kinder nicht zu den Hauptüberträger*innen zählen. Auch bereits bestehende Leiden haben während den letzten Monaten keine Pause gemacht. Wer vor der Krise schon Depressionen hatte, muss mit diesen im Lockdown und in dieser unsicheren Zeit umgehen. So bleibt auch die Angst davor, wieder zum Tiefpunkt zu gelangen. Mit dem Lockdown verstärkte sich auch die Angst, alleine zu sein.

Aus der Angst wird Realität

«In der Schweiz muss niemand arm sein!». Dies ist für viele Menschen purer Hohn. Menschen, die vor der Coronakrise nahe der Armutsgrenze lebten und nun durch den Lohnverlust von 20 Prozent aufgrund Kurzarbeit oder dem Verlust von nicht-anerkannten Arbeiten in die Armut abgerutscht sind.

So geht es auch der Sexarbeiterin. Denn sie arbeitet in einem Gewerbe, das von vielen Menschen nicht als richtige Arbeit anerkannt wird. Wie könne sie erwarten, dass sich überhaupt irgendwer für sie einsetze. Während den Monaten des Lohnausfalls musste sie von ihrem Ersparten leben. Miete für ihr Arbeitszimmer muss sie trotzdem bezahlen.

Wie geht es nun weiter?

Die Solifon-Betreiber*innen sehen auch Positives: «Toll war auf der anderen Seite, dass sehr schnell eine Hotline über mehrere Regionen hinweg aufgebaut werden konnte. Seit über drei Monaten funktioniert sie und keine Schicht ist bisher ausgefallen. Das Klima untereinander ist super, wir helfen einander gerne und die Zusammenarbeit zwischen den Organisationen, welche das Solifon tragen, funktioniert gut – trotz Distanz und Lockdown.»

Die Solifon-Betreiber*innen gehen davon aus, dass die Fälle von Verletzungen des Arbeitsrechts weiter zunehmen werden. Fast alle staatlichen Unterstützungsprogramme laufen per Ende August aus. Und der Bundesrat hat klar gemacht, dass die Massnahmen nicht wiederholt werden, da sie zu teuer sind. Gleichzeitig rechnen die Betreiber*innen damit, dass die Schweiz diesen Sommer mehrere Kündigungswellen erleben wird. Aus diesem Grund überlegen die Betreiber*innen aktuell, ob sie die Hotline langfristig weiterführen wollen.

In all den Gesprächen merke ich, dass es jene am härtesten trifft, die vorher auch schon gelitten haben und diskriminiert wurden. Es geht um Existenzen, deren Daseinsberechtigung auch vorher schon kaum anerkannt wurde. Die Coronakrise bringt wie jede andere Krise nicht gänzlich neue Probleme. Bestehende Probleme und Ungerechtigkeiten kommen heftiger zum Vorschein und werden verstärkt.


 

Das Corona Solifon steht für arbeitsrechtliche Fragen allen unter der Nummer 076 620 95 74 zur Verfügung. Es ist zu folgenden Zeiten bedient: Montag, Mittwoch, Freitag: 18-20 Uhr Dienstag: 10-12 Uhr Donnerstag: 14-16 Uhr Information: Deine Rechte App Neu gibt es das Deine Rechte Heftchen in einer App! Es ist wichtig, dass du deine Rechte kennst oder weisst, was zu tun ist, wenn du Unrechtes beobachtest. Der Download ist gratis und über die herkömmlichen Applikationsanbieter möglich.