Historisch Text: cap | Bild: daf

Streiken in der Schweiz

Nirgends legen Arbeiterinnen und Arbeiter so selten ihre Arbeit nieder wie in der Schweiz. Doch war das schon immer so? Eine kurze Geschichte über nationale Identitätsnarrative, vermeintlichen Arbeitsfrieden und eine kleine Renaissance der Streikkultur.

Stell dir vor, es ist Streik und alle gehen hin…

Der öffentliche Verkehr steht still, tausende Arbeiter*innen ziehen Parolen skandierend durch die Strassen und liefern sich gelegentlich zwischen brennenden Barrikaden Scharmützel mit der Polizei. Es ist März 2023 und in vielen Städten Frankreichs wird wegen der geplanten Rentenreform gestreikt. Die Streiks sind laut, heftig und vielerorts äusserst militant. Wenn in Frankreich gestreikt wird, dann vibriert das ganze Land. Verglichen damit scheint die Streikkultur in der Schweiz äusserst bescheiden bis inexistent zu sein. Ein Blick in die internationale Vergleichsstatistik über arbeitskampfbedingte Ausfalltage (für den Zeitraum 2011 bis 2020), des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) bestärkt diesen Eindruck mit deutlichen Zahlen. Mit einem jährlichen Durchschnitt von 97 arbeitskampfbedingten Ausfalltagen auf 1`000 Arbeitnehmende liegt Belgien an erster Stelle, gefolgt von Frankreich mit 93 und Kanada mit 79 Tagen. Im Mittelfeld finden sich etwa die Niederlande mit 21 oder Grossbritannien und Deutschland mit je 18 Ausfalltagen. Die Schweiz, mit jährlich gerade mal einem (1!) arbeitskampfbedingten Ausfalltag pro 1`000 Arbeitnehmende, taucht erst im untersten Bereich der Tabelle auf. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz folglich ein sehr streikarmes Land. Das war aber nicht immer so. Da war doch mal vor über 100 Jahren dieser Landesstreik, der uns in jedem Geschichtsbuch begegnet. Aber wie hat sich eigentlich die Streikkultur in der Schweiz seither entwickelt? Und woran liegt es, dass Arbeitnehmende hierzulande so selten die Arbeit niederlegen wie kaum an einem anderen Ort?

Streik im 20. Jahrhundert

Der Landesstreik von 1918, mit über 250’000 Beteiligten war einer der wenigen branchenübergreifenden und grossflächig getragenen Arbeitsniederlegungen in der Schweiz. Aufgrund seiner Form, seiner Grösse und seines Konfliktpotentials, handelt es sich um den wohl prägendsten Streik in der Schweizer Geschichte, der das ganze Land spürbar erschütterte und langfristig zentrale Forderungen der Arbeitnehmenden voranbrachte. So waren etwa die Einführung der AHV, die 48-Stunden-Woche und weitere soziale Reformen Errungenschaften, die auf dem Landesstreik von 1918 basierten. Erst mit dem Frauenstreik von 1991 kam es erneut zu einer landesweiten, branchenübergreifenden Mobilisierung zur Arbeitsniederlegung, an der sich um die 500`000 Menschen beteiligten. Da sich die beiden Ereignisse punkto Dauer, Konfliktpotential, Anliegen und der herrschenden politischen Lage deutlich unterscheiden, ist ein direkter Vergleich kaum möglich. Fakt ist aber, dass in den gut 70 Jahren dazwischen die Streiktätigkeiten in der Schweiz einen deutlichen Rückgang erlebt hatten. Streikstatistiken des Bundesamts für Statistik (BFS) belegen dies eindrücklich. Zu Beginn und in der ganzen ersten Hälfte des 19. Jh. war auch hierzulande Streik noch ein äusserst beliebtes und häufig angewandtes Mittel im Arbeitskampf. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es aber zu einer deutlichen Abnahme der Streiktätigkeiten und ab der Hälfte des Jahrhunderts bis in die Neunzigerjahre wurde vergleichsweise kaum noch gestreikt. Dauerten Streiks früher durchaus noch mehrere Wochen, so sanken die Dauer der meisten Streiks nach dem Zweiten Weltkrieg auf lediglich wenige Tage. Auch die jährlich gesamtschweizerisch registrierten Ausfalltage wegen Streik oder Aussperrung verringerten sich ab den Fünfzigerjahren auf einen Zehntel der früheren Zahlen. Die jährlich registrierten Arbeitsstreitigkeiten sanken auf eine Handvoll Streikfälle pro Jahr, gegenüber zweistelligen Fallzahlen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Kurz gesagt: Streik als bedeutendes Mittel im Arbeitskampf verlor in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in der Schweiz massiv an Popularität und wurde nur noch selten angewendet. Eine ansatzweise Trendwendung, hin zu einem erneut erstarkenden Arbeitskampf begann sich erst in den letzten dreissig Jahren auszubilden.

Mythos Arbeitsfrieden  und ein verklärtes
Identitätsbild

Zu Beginn des 20. Jh. war der Widerstand der Arbeiter*innenklasse auch in der Schweiz noch äusserst stark und die Bereitschaft zum Arbeitskampf mit härtesten Mitteln dementsprechend hoch. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs kam es aber in vielen Branchen zu einer steten Zunahme von Gesamtarbeitsverträgen. Zudem kam es im Angesicht der Bedrohung durch den Faschismus während des Zweiten Weltkriegs zu einem «Burgfrieden»  zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum. Diese Entwicklungen verbesserten zwar die Situation vieler Arbeitnehmenden, nahmen dem Arbeitskampf allerdings schrittweise den Wind aus den Segeln. Zudem wurde die Schweiz ab dem Zweiten Weltkrieg als «ein Land der Sozialpartnerschaft und des Arbeitsfriedens» hochstilisiert und es kam zu einer regelrechten mythischen Verklärung der Vorstellung von friedliebenden und neutralen Schweizer*innen, welche Konflikte am Verhandlungstisch regeln würden und eine friedliche Einigung quasi «in den Genen» hätten. Unternehmer*innen und Gewerkschaften folgten den neuen Narrativen, sahen ihr gegenseitiges Verhältnis zunehmend als Sozialpartnerschaft und beschworen gemeinsam den Arbeitsfrieden anstelle von Kampfmassnahmen. Durch die erschaffenen nationalen Identitätsbilder und propagierten Wertehaltungen wurde der Mythos eines Arbeitsfriedens zudem auch unter breiten Teilen der Arbeiter*innenschaft ideologische zementiert. Hochkonjunktur und Wirtschaftsboom in der Nachkriegszeit begünstigten diese Entwicklung zusätzlich und die Gewerkschaften verlagerten ihre Tätigkeiten zunehmend an den Verhandlungstisch. Dadurch wurden zwar einige Verbesserungen auf friedlicher Verhandlungsbasis erreicht, die Arbeiter*innen verlernten aber nach und nach das Streiken. So kam es schliesslich während der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre auch kaum zu einer Zunahme von Streiks, da zum einen die Gewerkschaften ihre Streikfähigkeit verloren hatten und zum anderen hauptsächlich Frauen und Ausländer*innen vom Stellenabbau während der 70er Jahren betroffen waren, welche allerdings damals gewerkschaftlich noch schlecht organisiert waren. Diese Situation eines «zahnlosen», resp. streiklosen Arbeitskampfs hielt in der Schweiz bis in die 90er Jahre an.

Die kleine Renaissance des Streiks

Als die Schweiz zu Beginn der 90er Jahre von einer Rezession erfasst wurde, die durch falsche politische Massnahmen noch verlängert wurde und die Arbeitslosenquote in die Höhe trieb, kam es zu einer grösseren gesellschaftlichen Polarisierung und der lange beschworene Arbeitsfrieden wurde zunehmend kritisch hinterfragt. Unter vielen Arbeitnehmenden kehrte ein gewisses Bewusstsein für Klassen- und Arbeitskampf zurück und damit verbunden auch der Streik als äusserstes Mittel in der Auseinandersetzung. Obschon die jährliche Anzahl der Streikfälle klein blieb, kam es aber seit den 90er Jahren zu einer bedeutenden Zunahme der, an Protest- und Streikaktionen beteiligten Arbeitnehmenden. Die Streikbeteiligung bewegte sich ab 2000 zahlenmässig wieder auf dem Niveau der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Dieser Trend der höheren Beteiligung hält auch souverän bis heute an. Einen grossen Unterschied zu früher gibt es aber bei der Dauer der Arbeitsniederlegung. Bis auf einige wenige Ausnahmen dauerten die Streiks der letzten dreissig Jahre nicht länger als ein bis zwei Tage. Womit die Gesamtzahl jährlicher Ausfalltage in den letzten Jahren, trotz der hohen Beteiligung von Arbeiter*innen an Protest- und Streikaktionen jeweils relative bescheiden ausfällt. Auch zu beobachten ist, dass die meisten Streiks der neueren Periode mit grosser Mehrheit einzelne Unternehmen betreffen. Nur selten (vorwiegend im Bausektor) kommt es zu ansatzweisen Branchenstreiks. Auch branchenübergreifende Streikaktionen sind eine Seltenheit. Der Frauenstreik 1991 (sowie der Frauenstreik 2019 und die feministischen Streiks zwischen 2021 und 2023) waren praktisch die einzigen wirklich grossflächigen und branchenunabhängigen Streik- resp. Protestaktionen. Wobei diese feministischen Streikaktionen in den meisten Arbeitskampfstatistiken nicht mitberücksichtigt werden, da sie nicht auf konkreten Arbeitsstreitigkeiten fussen und somit eine gewisse Sonderrolle einnehmen. Nichtsdestotrotz ist der Zeitpunkt des ersten Frauenstreiks 1991 sinnbildlich für die Entwicklung und die Wiedererstarkung des Arbeitskampfs in den letzten gut 30 Jahren (u.a. auch durch eine bessere Organisation und Mobilisierung aller Geschlechter). Auch die Tatsache des Erfolgs von Streikaktionen förderte das Wiedererstarken des Arbeitskampfs, endeten doch über die Hälfte aller Arbeitskämpfe der letzten 30 Jahre mit einem eindeutigen Erfolg.

Den Arbeitskampf wieder auf die Strasse tragen

Auf den ersten Blick mögen uns also die anfänglich präsentierten Vergleichszahlen mit anderen Ländern das Gefühl geben, in der Schweiz würde kaum gestreikt. Verglichen etwa mit Frankreich bewegt sich die Streitkultur in der Schweiz auch tatsächlich in einem viel kleineren und sehr bescheidenen Rahmen. Es lässt sich aber festhalten, dass der Streik hierzulande in den letzten gut dreissig Jahren als politisches Mittel in Auseinandersetzungen um Lohn, Arbeitsbedingungen und soziale Errungenschaften eine kleine Renaissance erlebt hat. Auch wenn heute noch in vielen Köpfen eine romantisierte Vorstellung von Arbeitsfrieden und ein Identitätsbild der Konfliktvermeidung durch Verhandlungen festhängen, so zeichnet sich doch auch ein gewisses Erstarken der Kampfbereitschaft unter den Arbeitnehmenden ab. Vor gut dreissig Jahren noch praktisch von der Bildfläche verschwunden, ist der Streik heute in der Schweiz wieder ein wichtiges Instrument im Arbeitskampf. Gewerkschaften sind wieder streikfähig geworden und der Mythos Arbeitsfrieden hat Risse bekommen. Trotzdem ist die notwendige Mobilisierungs- und Gewerkschaftsarbeit noch lange nicht abgeschlossen und es bleibt viel zu tun, um die Streikfähigkeit der Arbeitnehmenden zu erhalten und stets weiter auszubauen. Auch der vergleichsweise hohe durchschnittliche Wohlstand der Schweizer Bevölkerung hemmt die Streikkultur. Zu viele Menschen aus tiefen Lohnsektoren wähnen sich als Teil des angeblichen «Mittelstandes» und lassen sich durch falsche Narrative der Arbeitgeber*innen-Lobby blenden. Es gilt daher verstaubte und falsche Identitätsbilder zu überwinden und im herrschenden kapitalistischen System stets bereit zu sein, den Arbeitskampf auch mit den äussersten Mitteln zu führen, um Ausbeutung und Unterdrückung von Arbeitnehmenden zu verhindern. Es gilt bereit zu sein, den Arbeitskampf bei Bedarf auch in die Betriebe und auf die Strasse zu tragen.