Krankenkasse Text: nina | Bild: aja

Gesundheitsleistungen in der Schweiz – Eine Klassenfrage?

Mit der obligatorischen Krankenversicherung werden Gesundheitskosten solidarisch von der Gesellschaft getragen. Soweit die Idee. Doch oft geht dabei eine bittere Realität vergessen, mit der sich viele Menschen konfrontiert sehen, wenn die Krankenkassenrechnungen herein flattern.

Seit 1996 ist die obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz gesetzlich vorgeschrieben¹. Das heisst, Krankenkassen müssen alle antragstellenden Personen bei sich aufnehmen, ungeachtet ihrer gesundheitlichen oder finanziellen Situation. Wenn hohe medizinische Kosten anfallen, kommt die obligatorische Grundversicherung zum Zuge. Sie garantiert – unter bestimmten Bedingungen – die Übernahme der Kosten.

Im Interview mit dem megafon betont Lana Rosatti, Co-Präsidentin der JUSO Bern, das Obligatorium sei «extrem wichtig». Damit könnten Szenarien verhindert werden, wie sie beispielsweise in den USA an der Tagesordnung sind: «Dort sieht man, dass Leute Operationen nicht bezahlen können, lebenswichtige Medikamente nicht kaufen können». Von solch dramatischen Szenarien hören wir in der Schweiz nicht. Doch das bedeutet nicht, dass Gesundheit hier ein gerecht verteiltes Gut wäre.

 

Der Preis der Gesundheit

Der solidarische Gedanke hinter dem Krankenkassensystem mag auf den ersten Blick überzeugend wirken. Alle zahlen, damit es allen gut geht. Grundsätzlich gilt; für alle Personen derselben Altersklasse sind die Prämien pro Versicherung und Jahr gleich teuer. Die mittleren Prämien fürs Jahr 2023 wurden vom BAG auf rund 335 CHF pro Monat bemessen²      .  Ein deutlicher Anstieg der Prämien im Vergleich zum Vorjahr. Und sie werden weiter ansteigen.

Alle zahlen, doch nicht alle zahlen gleich viel. Das genaue Angebot der Krankenversicherung, sowie die Höhe der Franchise, beeinflussen die Höhe der Prämie. Personen, die grundsätzlich gesund (oder einfach arm) sind, können bei den Prämien sparen, indem sie sich für die maximale Franchise entscheiden. Ist die Franchise tiefer, so steigt dafür die monatliche Prämie.

Egal, welche Option mensch wählt, am Ende ist die Krankenversicherung für viele vor allem eins: verdammt teuer: «Gerade für Leute mit tieferem Einkommen stellen die Prämien eine extreme monatliche Ausgabe dar. Durchschnittlich sind es 14% [des Einkommens], welche die Leute für ihre Krankenkasse bezahlen», so Rosatti. Für wohlhabendere Personen sind die Prämien ihrer Einschätzung nach hingegen kaum spürbar: «Natürlich, wenn man ein hohes Einkommen hat, ist das nur ein Bruchteil».

 

Kostenvermeidung – zu welchem Preis?

Beschwert sich jemensch über die hohen Prämien, so wird gerne an die Demut appelliert: «Wir haben es doch so gut hier in der Schweiz», impliziert: «Beschwer dich nicht und bezahl!» Auch wenn es pro Person im Extremfall fast ein Drittel des Nettoeinkommens sein kann, die monatlich draufgehen, wird gut und gerne daran erinnert, dass dies ja zum Vorteil aller sei.

Ist es das wirklich? Wer wenig verdient, kann und möchte wenig zahlen. Damit mehr zum Leben bleibt. Also wird die Franchise gerne mal aufs Maximum hochgesetzt. Dennoch liegt das verbleibende Minimum an Prämien immer noch schwer auf der Tasche. Das kann fatale Folgen haben. Denn nicht alle haben das Geld, um Rechnungen zu bezahlen, bis die Franchise ausgeschöpft ist. Vor jedem Ärzt*innenbesuch muss mensch sich die Frage stellen: Kann ich mir diese Behandlung leisten? Die logische Konsequenz: Termine in gesundheitlichen Praxen oder Spitälern werden so gut wie möglich vermieden. Mit einer chronischen Müdigkeit lässt es sich doch irgendwie besser leben als mit einer Rechnung von 350 CHF für einen einzelnen Termin. Hinzu kommt, dass Armut in einem direkten Zusammenhang mit mangelhafter Gesundheit steht. Kapitalistische Ausbeutung lässt grüssen.

Da hilft es auch wenig, dass das System eine Prämienverbilligung vorsieht für Personen mit niedrigem Einkommen. An und für sich eine gute Idee, doch in der Praxis kommt die Hilfe oft zu spät oder fällt zu gering aus. Wer zum Beispiel im Kanton Bern einen Antrag auf Prämienverbilligung stellt, wartet gut und gerne ein Jahr darauf, dass diesem stattgegeben wird. Das Geld, das für die Prämie bereits bezahlt wurde, wird dann rückwirkend auf einen Schlag ausgezahlt. Das ist auf jeden Fall besser als nichts, hilft aber nicht weiter, wenn das Geld auf dem Konto nicht mehr für die horrende Prämienrechnung, geschweige denn einen Ärzt*innenbesuch ausreicht. Administrative Hürden können die Erwirkung von Prämienverbilligung weiter erschweren, insbesondere für Personen mit sprachlichen Barrieren.

Was machen unterdessen die Reichen? Für sie ist es gut möglich, die Franchise tief zu halten und deswegen ein «kleines bisschen» extra pro Monat zu bezahlen. Es zahlt sich schliesslich aus. Und so können sie nicht nur im Falle von Erkrankungen, sondern auch für ausgiebige Vorsorgeuntersuchungen jede medizinische Praxis aufsuchen. Ist die Franchise ausgeschöpft, so übernimmt die Krankenkasse. (Unter anderem) mit dem Geld jener, welche sich aus finanziellen Gründen davor drücken, sich behandeln zu lassen.

So viel zum solidarischen Gedanken. Die Realität ist: Das Mass an gesundheitlicher Sicherheit ist auch in der Schweiz abhängig von der ökonomischen Klasse.

 

Was macht die institutionelle Politik?

Traditionell ist das Thema Krankenversicherungen ein linksdominiertes Thema. Doch inmitten des Wahlkampfes für die anstehenden National- und Ständeratswahlen 2023 wurde das Thema nun auch von rechts eingenommen: Das Krankenversicherungssystem sei aus finanzieller Sicht gescheitert. Der Vorschlag der Abschaffung des Krankenkassenobligatoriums stammt von Nathalie Rickli, SVP Regierungsrätin Kanton Zürich3.

Obwohl die Kritik am Krankenkassenobligatorium grundsätzlich legitim ist, hält Lana Rosatti es für «sehr ironisch, dass von rechter Seite ein solcher Vorschlag kommt. In den letzten 20 Jahren haben die Bürgerlichen im nationalen Parlament sowie auch auf kantonaler Ebene immer mehr dazu beigetragen, dass die Prämienverbilligungen abgeschafft, beziehungsweise heruntergesetzt werden».

Auch in dieser Debatte bleibt xenophobe («fremdenfeindliche») SVP-Rhetorik leider nicht aus. So will die Vizepräsidentin der SVP Schweiz, Martina Bircher, die Schuld an den steigenden Gesundheitskosten der Zuwanderung in die Schuhe schieben4. Rosatti protestiert: «Das stimmt einfach nicht, dass die Prämien aufgrund der Einwanderung gestiegen sind». Ihrer Meinung nach ist es «ein typisches rechtspopulistisches Argument», auf Zugewanderte abzuschieben, «dass wir unser Gesundheitssystem nicht mehr im Griff haben».

Der Vorschlag der Abschaffung des Obligatoriums ist wenig überzeugend. Denn die Leidtragenden einer Abschaffung wären laut Rosatti – einmal mehr – vor allem Leute mit niedrigem Einkommen: «Diese werden sagen, ‹na schau, dann nehme ich eben keine Krankenkasse, das ist günstiger› . Wenn man dann aber einen Unfall hat oder von einer Krankheit betroffen ist, kann man die Kosten nicht tragen und muss sich entweder verschulden oder kann die Behandlung gar nicht bezahlen.»

 

Die Alternativen

2007 wurde über die Volksinitiative «Für eine soziale Einheitskrankenkasse» abgestimmt. Die Idee: Die individuelle Prämie errechnet sich an der Höhe des Einkommens. Die Initiative wurde mit über 70% Nein-Stimmen deutlich abgelehnt. Dennoch, so ist Rosatti überzeugt, sei die Einheitskrankenkasse der richtige Weg: «Diese Einheitskrankenkasse müsste sicher grösstenteils dem Staat gehören». Damit keine Boni abgeschöpft werden könnten, wie das heute mit den privaten Krankenkassen möglich sei. Eine Einheitskrankenkasse würde keine grösseren Probleme des Kapitalismus lösen. Doch stellte diese eine etwas sozialere Alternative zum aktuellen System dar.  Damit Gesundheitsleistungen ein Gut werden, das für alle da ist.

 

1 Siehe Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG)

2 Webseite des BAG, Medienmitteilung vom 27.09.2022

3 Siehe SRF «Natalie Rickli: Krankenkassen-Obligatorium allenfalls abschaffen» vom 27.08.2023: https://www.srf.ch/news/schweiz/zuercher-gesundheitsdirektorin-natalie-rickli-krankenkassen-obligatorium-allenfalls-abschaffen

4 Siehe SRF «Diskussion um Prämien wird zum SVP-Balanceakt» vom 28.08.2023: https://www.srf.ch/news/schweiz/krankenversicherung-diskussion-um-praemien-wird-zum-svp-balanceakt