Text: jrm | Bild: lka

Willkommen im spätkapitalistischen Versuchslabor

Keine Frage: Die Wirtschaftskrise, an deren Schwelle wir uns wegen des neuen Coronavirus befinden, ist eine Tragödie für die Menschheit. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen bangen um ihre Lebensgrundlage und es ist anzunehmen, dass die vergessenen Seelen der Gesellschaft – geflüchtet, unterdrückt, vielleicht eingesperrt – den höchsten Preis zahlen werden.

Trotzdem ist verständlich, warum viele in der Krise eine Chance sehen. Ein längst totes Gespenst scheint unter uns lebendigen zurück zu sein: jenes der Solidarität. Das und der Umstand, dass die Widersprüche unseres Wirtschaftsystems so plakativ wie nie entlarvt werden, versüsst vielen aus der linken Bubble die bittere Pille.
Lange schienen alle so zu tun, als könne uns Corona nichts anhaben. Zu stolz auf unsere Gesundheitssysteme, zu sicher der eigenen Überlegenheit war sich der Westen. Die Krankheit? War noch weit weg. Immer wieder: Der tief verankerte Rassismus manifestierte sich im Alltag mit Tiraden gegen Menschen, die so aussahen, als könnten sie aus dem subjektiven Epizentrum der Pandemie stammen.
Als klar wurde, dass die Grenzen nur in den Köpfen existieren: zu spät! Erste Symptome der Panik liessen kaum auf sich warten: Die Märkte husteten, Kurse fielen. Ab diesem Zeitpunkt nur ein Credo: Wie schützen wir unsere Wirtschaft? Der Staat wird von der Wirtschaft als Geisel genommen. Um die Menschen ging es nie.
Nun ist die Katastrophe da. Sie lässt uns gar keine Wahl, als zu handeln, denn was die Menschen bedroht, blockiert die ganze Maschinerie. Mit diesem Gedanken ziehen wir uns alle brav ins Homeoffice zurück. Jenseits unserer Grenzen werden Menschen über ihre Handys verfolgt und in virtuellen Käfigen vor dem Virus «bewahrt». Welche Risiken das bergen könnte, ist hier längst kein Thema mehr. Es gibt ja dringendere Probleme. In Zeiten der Krise wünschten sich die Menschen starke Autoritäten, sagen die Medien.
Vergessen wir nicht: Alles was folgt, ist Blindflug. Selbst wenn die Krise die Verletzlichkeit des globalisierten Kapitalismus entlarvt – wir denken an das kaputtgesparte Gesundheitswesen, die totale Abhängigkeit von der globalen Produktion. etc. –, bringt das Virus eine Art Schocktherapie mit sich. Einerseits gibt uns die Welle der Solidarität Halt. Andererseits verschleiert das Chaos, was auf uns lauert.
Selbst die wildesten neoliberalen Fetischist*innen konnten nicht erkunden, was hier und jetzt zur Realität wird: Was wäre, wenn wir Millionen Menschen von heute auf morgen in ihren eigenen vier Wänden zur Arbeit zwingen könnten? Unbezahlte Carearbeit auf die Stufe elf drehen? Kein Problem! Selbst Totalüberwachung und Repression im öffentlichen Raum erscheinen plötzlich nicht mehr radikal.
Heute bezahlen wir für einen Crash, der von Jahrzehnten der neoliberalen Politik präzediert wurde. Zu glauben, dass die gesammelten Widersprüche nun plötzlich einen Umschwung auslösen, wäre naiv: Die soziale Revolution bleibt bis zum Ende Handarbeit. Wenn wir in Schockstarre geraten, könnten wir wieder zu den Kaninchen im grossen Versuchslabor werden. In diesem Sinn: Anschnallen, hinschauen und organisieren, denn keine*r weiss, wohin diese Reise geht.