Patriarchale Gewalt Text: omg | Bild: sim

«Häusliche» Gewalt ist nicht privat

Ein neues Schweizer Online-Tool soll Betroffenen von «toxischen» Beziehungen und «häuslicher» Gewalt frühzeitig Informationen und Unterstützung leisten. Doch wie steht es eigentlich um die Prävention und Bekämpfung von Gewalt an TINFA*-Personen in der Schweiz? Ein patriarchats-kritischer Überblick.

Jede fünfte «Frau»(1) erlebt im Laufe ihres Lebens «häusliche»(2) Gewalt. Die Covid-19 Pandemie hat, laut Fachstellen und Expert*innen, das Risiko von «häuslicher» Gewalt betroffen zu sein, erhöht. Die Zahl der polizeilich registrierten Gewalttaten ist, wie in den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik ersichtlich, mit kleinen Schwankungen relativ stabil. Gesamthaft wurden im Jahr 2021 19’441 Gewaltstraftaten registriert. Im Vorjahr waren es 20’123 und 2019 waren es 19’669. Die Dunkelziffer ist allerdings weit grösser. Experten gehen davon aus, dass nur zwei von fünf betroffenen Personen Anzeige erstatten. Daraus kann laut Sophie Achermann, Präsidentin von «Tech against Violence», geschlossen werden, dass viele Betroffene die Angebote von Beratungsstellen und Hotlines nicht oder zu spät in Anspruch nehmen. Die Gründe dafür können in der fehlenden Niederschwelligkeit der Angebote, wie auch in der Stigmatisierung «häuslicher» Gewalt, verortet werden. Neben Angst und Scham führt auch die fehlende Erkenntnis, in einer toxischen oder gewaltvollen Beziehung zu stecken, dazu, sich keine Hilfe zu holen. Laut Achermann merken Betroffene oft erst spät, dass sie von Gewalt betroffen sind, da zum Beispiel psychische Gewalt oftmals nicht als Gewalt eingeordnet wird. Viele Betroffene hätten einfach ein «komisches» Gefühl.

#withyou
Das Online-Tool #withyou (3), lanciert von «Tech against Violence», einem Spin-off des schweizerischen Frauenverbandes «alliance F», will genau bei diesem Gefühl ansetzten. Das interaktive Online-Tool soll Betroffene, sowie Angehörige – welche oftmals die ersten sind, die «häusliche» Gewalt wahrnehmen – mit Informationen und Fragebögen darin unterstützen, diese Gefühle zu objektivieren. Das Online-Tool funktioniert wie eine Website damit der Browserverlauf nach dem Besuch der Website gelöscht werden kann und nicht wie bei einer App auf dem Handy für Zweite sichtbar bleibt. Ziel des Online-Tools ist es, Informationen auch bezüglich emotionaler, respektiver psychischer Gewalt einfach zugänglich zu machen. Toxische Dynamiken sollen frühzeitig erkannt werden, damit sich Betroffene Unterstützung suchen können. Ein Fragebogen zur «Gesundheit einer Beziehung», welcher von Expert*innen und Betroffenen entwickelt wurde, soll dabei helfen. #withyou ist keine Online-Beratungsstelle und kein Notfall-Tool sondern soll die bereits bestehenden Angebote ergänzen, damit Betroffene sich rechtzeitig Hilfe holen können.
#withyou setzt bei der Früherkennung und Prävention an. Das ist wichtig, wenn die Erhebungen des Bundesamtes für Statistik betrachtet werden. Die Statistik führt neunundzwanzig Formen von «häuslicher» Gewalt auf, welche seit 2009 polizeilich erfasst wurden – ausgeschlossen alle Taten, welche nicht erfasst wurden. Die Anzahl gesamthaft registrierter Straftaten stieg seit Beginn der Erfassung kontinuierlich an – von rund 16’000 auf 20’000 Fälle pro Jahr. Die effektive Zahl wird, unter Einbezug der Schätzung, dass nur zwei von fünf Betroffenen Anzeige erstatten, vermutlich um das Zweieinhalbfache höher sein.

Femizid
Besonders deutlich wird die Herausforderung mit Dunkelziffern, wenn es um Femizide geht. Ein Femizid ist die Tötung einer «Frau» auf Grund ihres Geschlechtes. Auch wenn in der Öffentlichkeit in Zusammenhang mit Femizid meist von «Frauen» gesprochen wird, sind alle TINFA*-Personen (Trans – Inter – Nonbinär – Frau – Agender) betroffen. Offiziell gibt es keine Statistik für Femizide in der Schweiz. Dies und die Verwendung des Begriffs «Femizid» wurde im Sommer 2020 im Ständerat diskutiert und abgelehnt. Der Bundesrat begründet dies mit dem Argument, dass bereits eine fünfjährige Zusatzerhebung laufe, die detaillierte Informationen zu den Lebensumständen von Opfern und Tatverdächtigen, sowie Tatumstände, Motive und Ursachen erfasst. Die Ergebnisse dieser Zusatzerhebung, welche in Zusammenarbeit mit dem «Eidgenössischen Büro für die Geleichstellung von Frau und Mann (EBG)» seit 2019 läuft, werden 2025 vorliegen. Laut «EBG» erhofft man sich daraus genauere Kenntnisse, wie es zu den Gewalttaten kommt und könne daraus präventive Massnahmen ableiten. Die Nicht-Verwendung des Begriffs Femizid begründet der Bundesrat damit, dass Femizid auch in der Istanbul-Konvention von 2018 (4) nicht verwendet wird und in den bereits bestehenden Erfassungen des Bundesamtes für Statistik das Geschlecht der geschädigten Person, sowie die Beziehung zwischen dieser und der Tatperson ersichtlich sei.
Aus diesen Erhebungen wird sichtbar, dass in der Schweiz jede zweite Woche eine Person durch «häusliche» Gewalt» stirbt (durchschnittlich 25 pro Jahr) und jede Woche ein Tötungsversuch unternommen wird (durchschnittlich 50 pro Jahr). Von den getöteten Personen sind 75% «Frauen und Mädchen». Für Inter-, Nonbinäre-, Agender- und Transpersonen gibt es keine spezifischen Erfassungen, was diese Statistik unvollständig macht. Nicht das volle Ausmass der Problematik wird sichtbar und damit auch nicht die gesamte Verankerung in gesellschaftliche Strukturen. Auch das Nicht-Bennen dieser Tötungsdelikte als Femizide – also als strukturelle Gewalt an TINFA*-Personen – trägt dazu bei.

Stop Femizid
Das Schweizer Rechercheprojekt «Stop Femizid»(5) setzt sich dafür ein, dass diese Zahlen als das sichtbar werden was sie sind: Femizide. Sie führen eine Liste mit den Menschen, die jdurch Femizid ums Leben kommen. Sie machen damit darauf aufmerksam, dass Femizide Ausdruck struktureller, patriarchaler Gewalt sind, weshalb sie nicht nur Tötungsdelikte in folge «häuslicher» Gewalt dokumentieren, sondern grundsätzlich alle Tötungsdelikte an TINFA*-Personen. Sie fordern, dass es mehr Prävention und Aufklärung auch in den Kontrollinstanzen – bei der Polizei, in der Justiz und bei Gutachter*innen – braucht. Gerade hier zeigt sich, dass die Verwendung des Begriffs Femizid hilfreich wäre. Das könnte ermöglichen die Tötungsdelikte nicht mehr als Einzelschicksale, sondern als gesellschaftliches und strukturelles Problem zu verstehen und sichtbar zu machen. Es hat sich vermehrt gezeigt, dass Polizei und Justiz nicht genug Massnahmen ergriffen haben, um Betroffene zu schützen. Dabei sind Fehleinschätzungen gerade bei der Polizei oder der Justiz für Betroffene lebensbedrohlich. Es fehlt an Sensibilisierung für die Problematik, respektive das Verständnis, dass «häusliche» Gewalt, sowie grundsätzlich Gewalt an TINFA*-Personen, strukturelle Gewalt ist. Gerade bei der Polizei und der Justiz braucht es ein queer-feministisches Verständnis von Gewalt an TINFA*-Personen und das Verständnis für deren Verankerung in patriarchalen Strukturen. Laut «Stop Femizid» ist auch die Berichterstattung der Medien über diese Form der Gewalt entscheidend. Oftmals wird sie als «Familiendrama» oder «Beziehungstat» eingeordnet und damit die strukturelle Verankerung der Problematik verkannt. Denn es geht letztlich nicht um «Einzeltragödien» und «Dramen» sondern um Besitzansprüche, Macht und Geschlechterrollen. Im Privaten, wie in der Gesellschaft.

Spanien als Vorbild
Spanien hat die Umsetzung der Istanbul-Konvention bereits 2014 unterzeichnet und geht in Sache «häusliche» Gewalt und Femizide als Beispiel voran. Es gibt Gerichte, die auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisiert sind und seit 2004 Gewaltschutzgesetze, die Betroffene in den Mittelpunkt stellen. Auf Polizeistationen gibt es zudem Abteilungen, die sich ausschliesslich mit Opferschutz befassen. Unter anderem wird eine Software mit standardisierten Fragen verwendet, die das Risiko für die betroffene Person berechnet. Damit soll erreicht werden, dass Betroffene besser geschützt werden können und zum Beispiel nicht wieder nach Hause geschickt werden, wenn die Risikoeinschätzung dies nicht zulässt. Zudem wird der Begriff Femizid in Gesellschaft, Politik und Justiz, sowie von den Medien verwendet. Damit ist in Spanien ein Bewusstsein für die strukturelle Problematik entstanden. Seit Anfang 2022 besteht nun auch eine Statistik für Femizide und stellvertretende Tötungsdelikte, zum Beispiel an Kindern, welche in Spanien seit diesem Jahr ebenfalls als Femizide gelten. Auch wenn in Spanien die Gewalt an TINFA*-Personen noch lange nicht vollständig bekämpft ist und viele Dinge noch nicht ausreichend funktionieren, wird sichtbar, dass Spanien auf gesellschaftlicher, staatlicher und rechtlicher Ebene wichtige Schritte gemacht hat.
In der Schweiz kann das Online-Tool #withyou ein Schritt sein in diese Richtung. Neben dem Fragebogen zur «Gesundheit einer Beziehung» gibt es einen zweiten Fragenbogen der eine Einschätzung der «Gefahr in der Beziehung» ermöglichen soll. Zudem sind Informationen zum Schutz von Kindern, dem Erstellen eines Notfallplans, der Erstattung einer Anzeige oder der eigenen psychischen Gesundheit zu finden. Als nächstes soll zudem ein Online-Speicher für Beweismittel entstehen. Dies soll bei einer allfälligen Anzeige helfen die nötigen Beweise aufbringen zu können. Dieser Bereich wird, im Gegensatz zum Rest des Online-Tools, zweifach verschlüsselt und nur mit Login zugänglich sein. Ein solches digitales Unterstützungsangebot kann Betroffene und Angehörige sensibilisieren, sowie (frühzeitig) Hilfe und Unterstützung bieten, wo Unsicherheit und Unwissen besteht.

Verantwortung übernehmen
Es liegt allerdings weiterhin auch in der Verantwortung von Politik, Gesellschaft und Justiz, dass sich die jetzigen Zustände verändern. Der im Juni 2022 veröffentlichte «Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention» des Bundesrates setzt drei Schwerpunkte, die sich in diese Richtung bewegen – unter anderem die Sensibilisierung der Bevölkerung, sowie Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen, beispielsweise im Gesundheitsbereich, bei der Polizei und in der Justiz. Dies ist ein wichtiges Zeichen für die Situation in der Schweiz. Damit patriarchale Besitzansprüche, Machtgefälle und Geschlechterungleichheiten abgebaut werden, braucht es ein gesamtgesellschaftliches Verständnis dafür, dass «häusliche» Gewalt, sowie Femizide keine Einzelfälle und tief in unseren patriarchalen, gesellschaftlichen Strukturen verankert sind. Die Verwendung des Begriffs Femizid kann bei der Sichtbarmachung der Problematik helfen. Auch wenn der Bundesrat dies anders sieht, zeigt das Beispiel Spanien, dass es durchaus wirksam sein kann. Es braucht zudem Sensibilisierung zur Erkennung von toxischen und gewaltvollen Beziehungen auf gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Ebene, sowie das Verständnis, dass diese patriarchalen Bedingungen gesellschaftlich gemacht sind und dementsprechend abgebaut werden können und müssen – durch Aufklärung, Prävention und strukturelle Veränderungen auch in Bezug auf Beziehungen und Geschlechterrollen. Es liegt in der Verantwortung aller drei Ebenen hierbei eine queer-feministische Haltung und Perspektive einzunehmen. Es ist zu hoffen, dass die Massnahmen des Bundesrates, sowie die unentbehrliche Arbeit und das wertvolle Engagement all der Organisationen, Verbände, Vereine und Aktivist*innen diesen Wandel bewirken werden. #withyou als neuestes Beispiel voran. Es liegt aber auch in deiner Verantwortung deinen Teil dazu beizutragen Gewalt- und Ungleichheitsstrukturen abzubauen. Im Privaten, wie auch in der Gesellschaft.

(1) Die bestehenden Statistiken ordnen Betroffene im binären Geschlechtersystem (Frau und Mann) ein. Ich setzte in diesem Text «Frauen» in Anführungszeichen, weil mit dieser Kategorie nicht alle Personen benannt werden, die von der beschriebenen Gewalt betroffen sind, die Forschungsergebnisse allerdings
auf diesen Kategorien basieren. Wenn möglich verwende ich den Begrifft TINFA*-Personen, um Trans-, Inter-, Nonbinäre und Agender Personen mit einzuschliessen.
(2) Ich setze den Begriff «häusliche» Gewalt in Anführungszeichen, weil mir die Reduzierung auf «häuslich» zu einfach scheint. Sie reduziert die Gewalt an TINFA* Personen auf einen Kleinfamilien- Beziehungskontext. Die Gewalt an TINFA*-Personen geschieht auch in anderen partnerschaftlichen oder familiären
Kontexten, so wie ausserhalb von Beziehungskontexten. Sie ist letztlich patriarchale Gewalt.
(3) https://with-you.ch
(4) 2018 ist die Istanbul-Konvention in der Schweiz in Kraft getreten. Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen «Frauen» und «häusliche» Gewalt auf internationaler Ebene. Die Schweiz verpflichtet sich damit zu Massnahmen unter anderem in den Bereichen Opferschutz, Gewaltprävention und Strafverfolgung.
(5) https://www.stopfemizid.ch