Asylregime Text: Erika Gómez Ardila | Übersetzung: Mohn | Bild: Paolo Riva

«Das SEM schickt uns in die Höhle des Löwen»

Liliana Mideros Montenegro, Ludy Dayanna Hernández Ruiz und Erika Gómez Ardila haben sich vor ein paar Monaten in der Schweiz in einem Bundesasylzentrum kennengelernt. Sie flohen mit ihren Kindern aus Kolumbien, weil sie in Todesgefahr lebten. Nun droht ihnen in der Schweiz die zwangsweise Ausschaffung durch das Staatssekretariat für Migration (SEM).

Anhaltende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Cauca und Nariño, Kolumbien

In Kolumbien begehen bewaffnete Gruppen regelmässig schwere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung(1), insbesondere in ländlichen Gebieten. 2016 kam es zu einem Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla. Als die Guerilla daraufhin die von ihnen kontrollierten Gebiete verliess, begannen sich paramilitärische Gruppen um das frei gewordene Land zu streiten. Dies führte zu einem erneuten Anstieg von Gewalt und einer Verschärfung der humanitären Krise(2). Die Formen der Gewalt reichen von Entführungen, Zwangsrekrutierungen und Drohungen über Morde, sexualisierte Gewalt bis hin zu Massakern. Neben Paramilitärs und Guerillagruppen zählen auch staatliche Einheiten zur Täter*innenschaft. Menschen werden auf Schritt und Tritt von vorherrschenden paramilitärischen Gruppen überwacht, was eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit zur Folge hat. Zu den am stärksten betroffenen Departementen gehören Cauca und Nariño(3), Regionen, in denen Mideros Montenegro und Hernández Ruiz mit ihren Familien lebten. Sowohl in Nariño als auch in Cauca kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen paramilitärischen Gruppen und Behörden. Besonders besorgniserregend sind die erheblichen Zunahmen von Zwangsrekrutierungen und Entführungen von Kindern in den letzten Jahren(4).

Staat und Justiz versagen

Kolumbien ist derzeit das Land mit der weltweit höchsten Rate an Morden von Menschenrechtsverteidiger*innen. Im vergangenen Jahr wurden gemäss dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (UNHCR) mehr als hundert von ihnen getötet. In den letzten Jahren gab es mehrere Erklärungen internationaler Organisationen, die den kolumbianischen Staat aufforderten, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Aktivist*innen besser zu schützen. Doch auch die eigens kreierte kolumbianische «Nationale Schutzeinheit» (UNP), welche Menschenrechtsverteidiger*innen schützen soll, bietet keinen angemessenen Schutz. Nach Angaben des UNHCR gab es allein im Jahr 2022 acht Fälle, in denen Menschenrechtsverteidiger*innen getötet wurden, obwohl sie unter dem Schutz der UNP standen. Viele Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltaktivist*innen und Journalist*innen fliehen aufgrund erfahrener oder drohender Gewalt. Auch die kolumbianische Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Erika Gómez Ardila wurde aufgrund ihrer Arbeit zur militärischen Zielscheibe. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat sie sich für die Opfer des bewaffneten Konflikts eingesetzt. Trotz des offensichtlichen Risikos, das die Anwältin mit ihrem Engagement einging, wurde ihr von den Behörden nicht der notwendige Schutz gewährt. Als sie zu einem militärischen Ziel erklärt wurde, erstattete Gómez Ardila Anzeige bei der zuständigen Behörde. Es wurde offiziell eine Untersuchung aufgenommen, allerdings wurde Gómez Ardila nie vorgeladen und  der Fall schliesslich ohne Resultate zu den Akten gelegt. In den allermeisten Fällen werden erfahrene Gewalt oder Gewaltandrohungen deshalb gar nicht erst bei den offiziellen Behörden angezeigt. Das Vertrauen in den Staat und die Justiz ist kaum vorhanden.

Angst um die Familie

Sowohl Mideros Montenegro als auch Hernández Ruiz lebten in Regionen, in denen sie bewaffneten Auseinandersetzungen ausgesetzt waren. Sie sahen sich gezwungen, umzuziehen und ihr gesamtes Hab und Gut zurückzulassen. Doch damit war noch nicht genug. Beide Frauen haben, wie auch Goméz Ardila, nächste Familienmitglieder wegen der bewaffneten Konflikte verloren: Goméz Ardilas Stiefsohn, der damals minderjährig war, wurde von der Guerilla rekrutiert und wird derzeit vermisst. Hernández Ruiz  hat einen verschwundenen Onkel, der als Menschenrechtsaktivist(5) tätig war. Der Onkel von Mideros Montenegro  wurde von Paramilitärs ermordet. Alle drei Frauen haben Kinder, die den Risiken von Zwangsrekrutierung, Entführung oder Ermordung ausgesetzt waren.

In der Schweiz: Asylanträge abgelehnt

Da der kolumbianische Staat den Schutz ihres Lebens und das ihrer Familienangehörigen nicht garantieren konnte, sind die drei mit ihren Kindern in die Schweiz geflüchtet. Sie haben Asyl beantragt, doch ihre Anträge wurden abgelehnt. Gegenwärtig sind Mideros Montenegro und Gómez Ardila zusammen mit ihren Kindern aufgefordert, die Schweiz zu verlassen. Dies, obwohl Klarheit darüber herrscht, dass der kolumbianische Staat nicht in der Lage sein wird, sie angemessen zu schützen. Die negativen Asylentscheide in allen drei Fällen basieren auf juristisch fragwürdigen Entscheidungsprozessen. Das von den drei Frauen im Rahmen der vorgegebenen Fristen vorgelegte Beweismaterial haben die Behörden nicht als ausreichend eingestuft. Es ist hervorzuheben, dass, obwohl  das Beweismaterial die Aussagen der Frauen stützt, nicht berücksichtigt oder auch nur erwähnt wurde, dass sie Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht waren, d.h. dass es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen handelt. Die Schweizer Migrationsbehörden erwähnten lediglich, der kolumbianische Staat würde «die erforderlichen Schutzgarantien» bieten und damit seien die Ausschaffungen legitim. Was offensichtlich nicht zutrifft: Die drei  haben in der Vergangenheit mehrmals den Schutz des kolumbianischen Staates gefordert und ihn nicht erhalten. Nun wollten sie dieses grundlegende Menschenrecht in der Schweiz einfordern.

Ausschaffungen stehen bevor – Wer trägt die Verantwortung?

Das SEM sieht dafür keine Notwendigkeit. Mideros Montenegro und Gómez Ardila müssen die Schweiz mit ihren Kindern in den nächsten Tagen verlassen. Ansonsten droht ihnen die zwangsweise Ausschaffung. «Sie schicken uns in die Höhle des Löwen zurück. Stellen sie sich die Gefahr für unsere Kinder vor, wenn uns etwas zustösst. Wer wird dann für sie sorgen?», sagen die beiden. Die Frauen sind verzeifelt. Hernández Ruiz hat vor wenigen Wochen ebenfalls einen negativen Asylentscheid erhalten und dagegen Einspruch eingereicht –  doch ihr droht dasselbe Schicksal: In ein Land ausgeschafft zu werden, welches ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit nicht schützen wird.

Leider sind diese drei Fälle nicht die einzigen. Und es werden auch nicht die letzten sein. Die Schweiz schafft regelmässig zwangsweise Personen mit der Begründung aus, dass die Bedingungen in ihrem Herkunftsland «sicher genug» seien. Dabei scheint der Spielraum für die Definition von «sicher» haarsträubend gross zu sein. Welche Verantwortung trägt das SEM für die Zukunft von Mideros Montenegro, Goméz Ardilas, Hernández Ruiz und ihrer Kinder? Macht sich die Schweiz aufgrund ihrer menschenfeindlichen Migrationspraxis zur Komplizin, wenn ihnen was zustösst?

(1) Human Rights Watch, Informe Mundial 2024

(2) In mindestens 311 Gemeinden der 32 Departemente des Landes wurden 2023 Angriffe auf die Zivilbevölkerung gemeldet. Zudem wurden gemäss Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) 2023 in Kolumbien insgesamt 98 Massaker verübt. Unter Massaker versteht mensch die vorsätzliche Tötung von drei oder mehr Zivilpersonen bei einem einzigen Vorfall.

Vgl. COLOMBIA: Informe anual del Alto Comisionado de las Naciones Unidas para los Derechos Humanos – 2023

(3) OCHA -Oficina de coordinación de Asuntos Humanitarios de las Naciones Unidad- Colombia: Informe de Situación humanitaria 2023 -enero – agosto 2023 (publicado el 22 de septiembre de 2023

(4) Human Rights Watch, Informe Mundial 2024

(5) Kolumbianische Menschenrechtsaktivist*innen bezeichnen sich oft als líderes sociales.