Italien Text: Roman Vonwil | Bild: leo

In der Schule sterben

In Italien müssen Gymnasiast*innen während der Schulzeit ein Praktikum absolvieren. Dabei kommt es immer wieder zu schweren Arbeitsunfällen – auch mit tödlichem Ausgang. Der Protest unter Schüler*innen und Studierenden wächst. Ende letzten Jahres wurden landesweit sechzig Gymnasien besetzt.

Rund 300 Schüler*innen und junge Studierende versammeln sich am 21. Januar beim Circus Maximus. Es ist einer der kältesten Tage hier in Rom. Die Versammelten machen sich bereit für die Demo, die nach Umwegen durch Wohnquartiere und Hauptverkehrsstrassen schlussendlich über den Tiber in das ehemalige Arbeiter*innenviertel Trastevere und vor das Bildungsministerium führen wird. Auf Transparenten und Schildern ist zu lesen: «Se si muore, se si è sfruttatз – Non è scuola, non è lavoro» («Wenn du stirbst, wenn du ausgebeutet wirst – Ist es keine Schule, ist es keine Arbeit») «Basta St(r)age» («Fertig Praktikum (Massaker)») und «Lorenzo vive».

Ausbeutung und Tod im Praktikum
Genau vor einem Jahr starb der 18-jährige italienische Gymnasiast Lorenzo Parelli, nachdem er bei seiner Arbeit in einer Fabrik in Lauzacco, einer kleinen Stadt in Norditalien, von einem schweren Metallträger getroffen worden war. Der Unfall ereignete sich am letzten Tag von Lorenzos «competenze trasversali e l’orientamento (PCTO)», einem obligatorischen Berufspraktikum für Gymnasiast*innen.
Dieses Praktikumsprogramm, das vor allem unter seinem ehemaligen Namen «alternanza scuola-lavoro» bekannt ist, wurde 2015 als Teil der neoliberalen Reformen des ehemaligen Premierministers Matteo Renzi eingeführt. Die Privatisierung des italienischen Bildungssektors sollte so vorangetrieben werden. Alle Schüler*innen von Mittelschulen sind verpflichtet, während der letzten drei Jahre ihrer Schulzeit zwischen 90 und 150 Stunden in unbezahlten Praktika zu arbeiten. Dies sei laut dem italienischen Bildungsministerium eine «innovative Lehrmethode» um Schüler*innen durch «auf ihren Lehrplan abgestimmte Projekte» besser auf ihre Studien- und spätere Berufslaufbahn vorzubereiten. Die Realität: Schulen in reichen und innenstädtischen Gegenden ermöglichen Angestelltenpraktika zum Beispiel in Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien oder IT-Unternehmen; diejenigen in den städtischen Randgebieten oder ländlichen Regionen bieten «Chancen auf Arbeitserfahrung» bei der Essensausgabe in Kantinen, in der Produktions- und Industriearbeit oder in einigen Fällen in der Armee – alles unbezahlt. Seit seiner Einführung ist das Programm heftig kritisiert worden. In den Worten des Journalisten Roberto Ciccarelli «werden Schüler*innen im Alter von 16 bis 19 Jahren in arbeitswillige Menschen verwandelt […] die in Nebenjobs, Gelegenheitsjobs und Hilfsjobs flexibel eingesetzt werden können», indem unter dem Deckmantel der Bildungserfahrung kostenlose Arbeit aus ihnen herausgepresst werde. Anders gesagt: Bildung soll Gehorsam gegenüber einem System vermitteln, das Ausbeutung von Arbeitskraft in prekären Jobverhältnissen erlaubt. Nicht-ausgebildete und teilweise schlecht instruierte Schüler*innen landen durch dieses System der freien Ausbeutung ihrer Arbeitskraft auch an gefährlichen Arbeitsplätzen. Seit Lorenzos Tod sind dutzende weitere Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit der alternanza hinzugekommen, zwei davon ebenfalls mit tödlichem Ausgang: Der sechzehnjährige Giuseppe Lenoci starb bei einem Unfall im Lieferwagen eines Thermohydraulik-Unternehmen und der achtzehnjährige Giuliano De Seta wurde in einer Fabrik in Noventa di Piave (Venedig) von einer herabstürzenden Metallplatte erschlagen.

Per Lorenzo, Giuseppe e Giuliano
Nach dem Tod von Lorenzo kam es landesweit zu wütenden Protesten von Schüler*innen gegen das System der alternanza. In Rom traf der Proteststurm auf eine bereits engagierte Schüler*innenbewegung: Im November und Dezember des vorangehenden Jahres wurden rund 60 Gymnasien in der ganzen Stadt besetzt, um sicherere COVID-19-Massnahmen, kleinere Klassengrössen und dringend notwendige Reparaturen an der bröckelnden Schulinfrastruktur zu fordern. Aus diesen Besetzungen entstand eine Bewegung, die von den Medien in Anspielung auf den römischen Gründungsmythos den Spitznamen La Lupa erhielt. Gemeinsam mit anderen Organisationen rief La Lupa bereits für den Tag nach Bekanntwerden des Todes von Lorenzo zu Flashmobs auf. Der Versuch, vor dem Bildungsministerium zu protestieren, wurde von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Auch in anderen Städten ging die Polizei mit Repression gegen Schüler*innen vor. Am 28. Januar folgte eine erste koordinierte, landesweite Mobilisierung. In 30 Städten gingen Schüler*innen mit der Forderung nach Abschaffung der alternanza auf die Strasse. Am 5. Februar fand eine nationale Schüler*innenversammlung in Rom statt, an der über 300 Teilnehmer*innen aus ganz Italien ihre Erfahrungen (auch in Bezug auf Polizeigewalt) austauschten und weitere Schritte planten. Auch einheitliche Forderungen wurden formuliert: Die vollständige Abschaffung der alternanza, die Einführung einer obligatorischen Gewerkschafts- und Arbeitssicherheitsausbildung an allen Schulen, eine umfassende Finanzierung öffentlicher Schulprogramme, eine radikale Umgestaltung des gesamten Bildungssektors und Investitionen in Programme für psychische Gesundheit und Beratung. Während des ganzen Jahres fanden immer wieder Proteste gegen die alternanza statt, bei denen sich zehntausende Schüler*innen beteiligten – die tödlichen Unfälle dienten dabei als Katalysatoren, die das Thema und den Widerstand in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit brachten. Doch auch abseits der Strasse ist die Bewegung aktiv. So haben La Lupa und andere Organisationen zahlreiche Zeugnisse von Schüler*innen gesammelt oder dokumentieren Arbeitsunfälle, um das Ausmass der Ausbeutung zu erfassen. Diese Methode erinnert stark an die «Militanten Untersuchungen», mit denen in den 1960er-Jahren die politische Bewusstseinsbildung in den Betrieben durch die direkte Befragung von Arbeiter*innen über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen gefördert werden sollte.

Gemeinsam gegen Ausbeutung und Tod am Arbeitsplatz?
Dass durch die alternanza ein politisches Bewusstsein entstehen kann, liegt auf der Hand. Mittelschüler*innen werden mit ausbeuterischen und lebensgefährlichen Bedingungen konfrontiert, die für Arbeiter*innen in Fabriken und auf Baustellen und insbesondere für prekär Beschäftigte schon immer Realität waren. 2022 starben in Italien fast 1’100 Menschen durch Arbeitsunfälle (2021: 1’221). Bietet sich hier ebenfalls eine neue Gelegenheit, Kämpfe zu verbinden, Schüler*innen und Arbeiter*innen zusammenzubringen? Basisgewerkschaften wie Unione Sindicale di Base oder die Unione Popolare haben sich dem Kampf gegen die alternanza bereits angeschlossen und fordern die sofortige Abschaffung des Praktikumprogramms. Auf der anderen Seite fordern grossen Gewerkschaften wie die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL), die dem Partito Democratico nahesteht, blosse Reformen: Mehr Kooperation zwischen Schulen und Praktikumsbetrieben, mehr Kontrolle und weniger Missbrauch. So ist es nicht verwunderlich, dass La Lupa die Teilnahme der grossen Parteien und Gewerkschaften an den Protesten explizit ablehnt. Diese seien mitverantwortlich für die in den letzten Jahren getroffenen Entscheidungen im Bereich der Schulbildung und würden weiterhin das bestehende Praktikumsprogramm verteidigen und legitimieren, indem sie Verbesserungen fordern und das Märchen von einer «guten» alternanza erzählen. Im Moment sieht es so aus, als könnte die italienische Regierung an der Aufrechterhaltung der alternanza festhalten und die Empörung rund um die tödlichen Unfälle, die zumindest kurzfristig jeweils auch eine breitere Öffentlichkeit erreicht, aussitzen. Weder linke Parteien noch Gewerkschaften üben genügend Druck aus, um daran etwas zu ändern. Die anhaltenden Proteste auf der Strasse und die Radikalität der Forderung nach vollständiger Abschaffung des Praktikumprogramms zeigen aber, dass die Schüler*innen längst begriffen haben: Gegen ein System, das für die zunehmende Überausbeutung von Arbeitskraft Tote aus immer mehr Gesellschaftsgruppen in Kauf nimmt, muss und kann auch ausserhalb der politischen Institutionen Widerstand geleistet werden. Es ist zu hoffen, dass diese Erkenntnis sich weiterverbreitet.