Gassenarbeit Text: daf & rom | Bild: daf & rom

Gassenarbeit und Corona

Ein Interview mit Eva Gammenthaler

m*: Noch beim letzten Interview (siehe m* 450) konnten wir mit Armutsbetroffenen selbst sprechen. Heute ist das nicht möglich. Durch die neue Situation mit dem Corona-Virus dürft ihr Menschen nicht mehr in euer Büro lassen. Wie erlebt ihr diese neue Situation?

Eva: Als die Massnahmen bekannt wurden, mussten wir unsere Arbeit umdisponieren. Weil in unserem Büro das Einhalten der Distanzregeln nicht möglich ist, können wir nicht regulär öffnen. Für uns war aber klar, dass wir weiterhin für die Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Gasse da sein wollen. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass wir weiterhin telefonisch erreichbar sein wollen. Gleichzeitig sind wir zu den normalen Öffnungszeiten da, jetzt halt vor dem Büro und nicht mehr drinnen.

m*: Wie haben die Menschen auf die neue Situation reagiert? Was hat sich für sie verändert?

Eva: Viele unserer Klient*innen haben die Einkommen verloren. Einige Menschen waren in einem Beschäftigungsprogramm und erhielten dadurch einen kleinen „Zustupf“ oder sie verdienten Geld mit Strassenmusik, Betteln oder auch Schwarzarbeit. Durch die Corona-Krise blieben diese Einkommensquellen von einem Tag auf den anderen aus. So haben sich die Bedürfnisse der Menschen auf der Gasse verändert. Sie sind nun beispielsweise angewiesen auf Grundnahrungsmittel. Dabei unterstützen uns viele Gastrobetriebe, die auch von der Schliessung betroffen sind und uns Lebensmittel gespendet haben.

m*: Wie bewältigt ihr diese neue Herausforderung?

Eva: Wir haben uns nun in dieser neuen Situation zurechtgefunden und arbeiten mit vielen Helfer*innen, was wir vorher nicht gemacht haben. Momentan unterstützen uns pro Woche 15 Freiwillige. Dienstags und donnerstags verteilen wir Essens-Säcke mit Grundnahrungsmitteln, sowie Gemüse und Früchte. Dazu gibt es jeweils noch verschiedene Sandwiches und manchmal auch Migros-Gutscheine.

m*: Wie finanziert ihr euer jetziges Angebot?

Eva: Wir haben von der katholischen Kirche zusätzliches Geld gesprochen bekommen. Menschen, die plötzlich in Not geraten sind, können wir nun mit Direkthilfe unkompliziert unterstützen. Wir konnten auch unser Pensum erhöhen. Auch die Glückskette unterstützt uns. Mit diesem Geld kaufen wir Lebensmittel.

m*: Du sagtest, die Bedürfnisse eurer Klient*innen haben sich verändert?

Eva: Die jetzige Situation zeigt, wie schnell Menschen ihr Einkommen verlieren können, und in welchen prekären Situationen sich viele Menschen befinden. Als Beispiel: In Bern gibt es einige Menschen, die vom Pfandflaschen-Sammeln in der Reitschule leben. Durch die Schliessung haben sie ihr Einkommen verloren. Wegen der Massnahmen des Bundes – Stichwort Social-Distancing – haben viele Menschen ihre Tagesstruktur verloren, soziale Kontakte sind weggefallen, im öffentlichen Raum darf man sich auch nicht mehr treffen. Das hat starke negative Konsequenzen, insbesondere für armutsbetroffene Menschen und Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Gasse. Wir merken, dass die Menschen, die draussen leben, ein viel grösseres Bedürfnis haben, mit uns zu sprechen und sich auszutauschen.

Gerade am Anfang war die Not sehr gross und es fehlte am Nötigsten: Essen, Zigaretten und so weiter. Wir haben versucht, dort einzuspringen. Zu Beginn des Lockdowns waren wir sehr oft aufsuchend unterwegs. So konnten wir die Leute informieren, dass wir noch weiter arbeiten. Viele andere Institutionen konnten ihre Angebote nicht aufrechterhalten und sind zurzeit kaum erreichbar. Beim Sozialdienst gibt es keine Termine mehr, Entzugskliniken machten keine Neuaufnahmen , psychiatrische Kliniken haben Leute entlassen. Dieses Runterfahren bekommen wir extrem zu spüren. Wir müssen also viel kompensieren.

m*:Wieso haben so viele Institutionen geschlossen?

Eva: Einerseits konnten viele Institutionen, wie wir die Distanzregeln nicht einhalten; andererseits, weil viele Institutionen auf Freiwilligenarbeit angewiesen sind und diese Arbeit meist von älteren Menschen geleistet wird, die zur Risikogruppe der Überfünfunfsechzigjährigen gehören. Deshalb mussten sie den Betrieb einstellen. Beispielsweise musste La Prairie, wo man ein Mittagessen bekam und auch einen Aufenthaltsraum hatte, schliessen. Eine grosse Gruppe von Menschen die sich regelmässig dort aufgehalten haben, können dieses Angebot nicht mehr nützen. Die Elternvereinigung von Drogenabhängigen Jugendlichen musste auch aufhören – sie haben jeweils am Montagabend eine Gassenküche organisiert und Sandwiches verteilt. Dort sind wir eingesprungen und haben die am Montagabend die Gassenküche übernommen. Auch die Stadt bot jeweils am Sonntagabend eine Gassenküche an. Dieses Angebot wurde auch eingestellt. Das Angebot „Tischlein deck dich“ musste ihr Angebot auch einstellen, diese Leute kommen nun auch zu uns. Am Dienstag und Donnerstag kommen extrem viele Menschen und stehen in einer Schlange die ca. 50 m lang ist. Wir erreichen so natürlich auch extrem viele Leute.

m*: Mit welchen Institutionen arbeitet ihr momentan zusammen?

Eva: Seit Beginn der Krise stehen wir in regelmässigem Austausch mit diversen Institutionen im Raum Bern. So sind wir zum Beispiel gut vernetzt mit Xenia, der Fachstelle für Sexarbeit, oder mit der Beratungsstelle für Sans-Papiers., Beide Organisationen schicken nun auch einige ihrer Klient*innen für die Lebensmittelabgabe zu uns.

m*: Wo kommen die Menschen von der Gasse im Moment unter?

Eva: Als Reaktion auf die aktuelle Situation hat die Stadt unter anderem in einer ehemaligen Asylunterkunft 30 Zimmer bereitgestellt, um erkrankte Menschen unterzubringen und eine Isolation zu ermöglichen. Leider ist nicht damit zu rechnen, dass dieses Angebot längerfristig bestehen bleibt.

m*: In Bern gibt es noch kein Housing-First?

m*: Nein, aber ich wünsche mir, dass sich die Stadt diesem Konzept annehmen und ihre Obdachlosenhilfe grundlegend überdenken würde. Housing-First ist momentan in aller Munde, und in den USA und einigen europäischen Länder hat dieses Konzept grossen Erfolg. Es funktioniert besser als das Drei-Stufen-Modell, das wir in der Schweiz haben, bei dem du zuerst in der Notschlafstelle bist, danach in einem begleiteten Wohnprojekt und erst danach selbstständig wohnen darfst. Es ist einfach besser, wenn man diese Logik umkehrt, und den Menschen als erstes bedingungslos eine Wohnung zur Verfügung stellt und von diesem Ausgangspunkt aus mit den Leuten arbeitet. Das gibt es aber noch nicht in der Stadt Bern.

m*: Gibt es schon eine Perspektive für die Zukunft?

Eva: Das ist sehr schwierig vorauszusagen, da wir nicht wissen, wie lange die Situation andauert. Sie wird wohl längerfristige Folgen haben und uns noch lange beschäftigen. Ein positiver Aspekt dieser Situationen ist, dass wir gespürt haben, wie gross die Solidarität in Bern mit den Menschen auf der Gasse ist. Es haben sich sehr viele freiwillige Helfer*innen gemeldet, die uns sehr geholfen haben. Das soziale Netz, auf das wir zurückgreifen können, ist sehr wichtig. Was uns erwartet kann ich aber noch nicht sagen.

Wir besprechen uns Woche zu Woche wie wir weiterfahren wollen und evaluieren unsere Arbeit. Für uns ist wichtig, dass andere Institutionen wieder aufmachen, dann können wir auch unser Angebot wieder anpassen. Wir wissen auch noch nicht, wann wir unser Büro wieder öffnen können. Es ist nicht die Idee, dass wir als Gassenarbeit primär Essen verteilen. Wir machen es einfach weil es niemand anderes macht. Eigentlich wollen wir uns auf Beratungen konzentrieren und den Menschen einen Raum geben, wo sie sich ausruhen, sich Kleider aussuchen und einen Kaffee trinken können. Das ist im Moment alles nicht möglich. Den Menschen fehlt ein Rückzugsraum. Wenn du auf der Strasse lebst, ist die Aufforderung „stay the fuck at home“ schwierig umzusetzen.

Es ist aber wichtig zu betonen, dass auch schon vor Corona viele Leute nach Nahrungsmittel gefragt haben. Diese Situation wird uns längerfristig begleiten.

m*: Von staatlicher Ebene werden vor allem Strategien zur Bekämpfung der Pandemie propagiert, die auf der individuellen Ebene ansetzen. Jeder soll sich selber um Isolation kümmern. Auf der anderen Seite gibt es viel Solidarität von unten. Ignoriert der Staat bzw. die Stadt Bern, dass es auch um ein Problem des Systems handelt?

Eva: Bis jetzt haben wir nicht viel von der Stadt bemerkt. Es gab meines Wissens nach keinen Pandemieplan für die Obdachlosenhilfe. Sie haben es aber geschafft, 30 Zimmer für Menschen auf der Gasse bereitzustellen, die an Covid-19 erkrankt sind. Das finde ich beinahe amüsant, da die Stadt seit Jahren abstreitet, dass es überhaupt Obdachlose gibt in Bern. Uns interessiert, wie die Situation sich weiter entwickelt. Ich denke, wenn die Massnahmen wegfallen, werden auch diese Zimmer verschwinden, und die Leute die nun dort leben, werden rausgeschmissen. Ich denke nicht, dass die aktuelle Situation einen längerfristigen Einfluss auf die Obdachlosenhilfe haben wird, leider.

m*: Wie arbeitet ihr mit anderen Akteur*innen wie der Polizei oder Pinto zusammen?

Eva: Diese Institutionen sind noch aktiv. Die Kantonspolizei ist sehr aktiv unterwegs, mit ihrem „Angebot“. Ihr „Dispositiv“ – so nennt sie es – wurde extrem erhöht. Sie ist sehr präsent. Das Thema Repression, Wegweisung und Verdrängung ist momentan allgegenwärtig auf der Gasse. Pinto hat sein Angebot auch raufgefahren. Ihre Leute sind momentan sieben Tage in der Woche unterwegs – auch am Wochenende. Sie haben mit dem „Punkt 6“ ein Angebot, das täglich ab 6 Uhr offen ist und ein Frühstück anbietet. Das ist nun neu bis 17:00 offen. Am Mittag gibt es jetzt dort auch Essen. Das Lokal ist aber sehr klein, und deshalb können nur obdachlose Menschen das Angebot nutzen. Armutsbetroffene oder Leute, die einfach das Bedürfnis haben, irgendwo zu essen, werden ausgeschlossen.

Seit Beginn der Krise ist die Zusammenarbeit erstaunlich gut, und wir hatten regelmässig Kontakt mit Pinto, der Kantonspolizei, dem Contact und der Heilsarmee. Wir waren viel am Telefon und wir haben uns ausgetauscht und geschaut, welches Angebot von wem abgedeckt werden kann.

m*: Wir haben nun erfahren, was bis jetzt alles unternommen wurde. Nun müsste doch die Politik handeln. Weisst du von irgendwelchen parlamentarischen Vorstössen in diese Richtung?

Eva: Für mich ist ein wichtiger Punkt, dass die diversen Angebote, welche während der Krise ins Leben gerufen wurden, auch längerfristig aufrechterhalten bleiben. Es wäre zudem auch wichtig, dass die Stadt einen Pandemieplan für die Obdachlosenhilfe bereitstellt. So könnte schneller reagiert werden, falls eine ähnliche Situation wieder eintrifft. Andererseits ist es aus meiner Sicht elementar, dass wir uns Gedanken um Obdachlose und Armutsbetroffene machen und uns besser überlegen, wie man den Menschen ein Obdach gibt.

Eine solche Krise trifft immer die Schwächsten zuerst. Darauf müssen wir jetzt hinweisen. Viele Menschen wurden vertrieben. Viele unserer Klient*innen haben Bussen gesammelt und in einem halben Jahr dürfen sie alle ins Regionalgefängnis diese Bussen absitzen. Was den Staat ein x-faches der Bussen kostet. Das kann nicht sein. Die Stadt beschliesst einfach, dass sie den öffentlichen Raum «dicht macht», ohne daran zu denken, dass es Menschen gibt, die auf diesen Raum angewiesen sind, weil es ihr Zuhause ist. Ihr Wohnzimmer. Das finde ich sehr krass. Rund um den Bahnhof Bern wurden alle Bänke weggenommen oder abgesperrt.

m*: Was wolltest du sonst noch sagen.

Eva: Ich möchte noch darauf hinweisen, dass es mega schön ist, dass private und Quartierorganisationen mobilisiert haben und für ältere Menschen oder Risikogruppen eingekauft haben. Aber hier müssen sie etwas ausbügeln, was eigentlich die Stadt machen sollte. Einzelpersonen müssen einspringen und aus der eigenen Tasche für die Menschen einkaufen, die kein Bargeld mehr haben.

Und zum Abschluss ein paar Impressionen, die in den letzen Wochen während der Freiwilligenarbeit bei der Gassenarbeit entstanden sind.

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