Postsowjetische Perspektiven Text: E.S. | Bild: rex

Krieg und Narrative in der Ukraine

Es herrscht Krieg in der Ukraine. Eine Zuspitzung des Konflikts und der ihm zugrundeliegenden Narrative hat sich bereits vorher deutlich abgezeichnet. Ein Gespräch mit einer ukrainischen Aktivistin über die Bedeutung von Sprache, Geschichte und Werten.

Dies hätte ein Text darüber werden sollen, wie praxisnaher politischer Aktivismus in der Ukraine aussieht. Und wie westliche Werte und die Spannungen mit Russland sich darauf auswirken. Jetzt ist Krieg. Ein Krieg, den viele kommen sahen, aber an den bis zuletzt nur wenige glauben wollten.
Aber von vorne: Nach dem Zerfall der Sowjetunion sprachen sich die Menschen in der Ukraine am 1. Dezember 1991 mit einer Mehrheit von über 90 Prozent für die Unabhängigkeit ihrer Landes aus. Die Jahre, die folgten, waren geprägt von der Suche nach einem eigenständigen nationalen Selbstverständnis, nach einem eigenen Platz zwischen Ost und West. Mit der Orangen Revolution im Jahr 2004 und den Euromaidan-Protesten von 2014 verschob sich diese Positionierung allmählich immer mehr hin zu Europa und zum Westen, und weg von Russland. In einer Bevölkerungsbefragung des amerikanischen Meinungsforschungsinstitutes «International Republican Institute» von Ende 2021 gaben 58 Prozent der Befragten an, sich der EU anschliessen zu wollen. Lediglich 21 Prozent bevorzugten einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft.¹
Gleichzeitig nahm und nimmt die Ukraine im imperialistischen Selbstverständnis Russlands einen festen Platz ein. Das heutige Russland – ebenso wie Belarus und die Ukraine – hat seine Wurzeln im Kiewer Reich des 9. Jahrhunderts. Bereits unter Stalin kam der Ukraine eine zentrale Rolle als «Kornkammer» der Sowjetunion zu. Und so gibt es reaktionäre Stimmen, welche die Ukraine auch mehr als dreissig Jahre nach Zerfall der Sowjetunion noch immer als Teil eines russischen Grossreichs sehen. Der russische Präsident Vladimir Putin verfasste im Juli 2021 einen Essay mit dem Titel «Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer», in dem er an neofaschistische Denker, etwa Alexander Dugin, anknüpft. Von einem «Brudervolk» und einem von westlichen Mächten auseinandergerissen Land, welches es wieder zu vereinen gilt, ist da die Rede. Laut einer im Auftrag von CNN durchgeführten Online-Befragung von Anfang Februar 2022 sehen jedoch lediglich 28 Prozent der Ukraniner*innen die Russ*innen und Ukrainer*innen als «ein Volk».²
Das Gespräch mit der Sexarbeiterin und Aktivistin Alina³ fand im Februar kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine statt. Unweigerlich kamen wir dabei auch auf den Krieg, der aus ukrainischer Sicht bereits seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 im Gange ist, und die damit verbundenen Narrative zu sprechen.

Alina, wie kam es, dass du angefangen hast dich politisch zu engagieren?                                                                    Alina: Bis vor fünf Jahren habe ich nicht daran geglaubt, dass es möglich ist, durch Aktivismus etwas zu verändern. Aber dann bin ich mit zivilgesellschaftlichen Initiativen in Kontakt gekommen. Heute arbeite ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die NGO Club Eney und engagiere mich für die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Rechte von Sexarbeitenden und Drogenkonsumierenden. Ich bin auch für die prowestliche, rechts-liberale Partei «Demokratische Axt» bei den Stadtratswahlen in Kyiv angetreten, um mich auf diesem Weg für die Entkriminalisierung von Sexarbeit einzusetzen.

Welche politischen und sozialen Missstände sind für dich besonders drängend?
Alina: Geschlechterbasierte Gewalt ist in der Ukraine nach wie vor ein grosses Problem. Besonders betroffen davon sind Sexarbeiterinnen, Drogenkonsumentinnen, trans Frauen, Migrantinnen und Frauen mit HIV, für die wir uns mit unserer Organisation besonders einsetzen. Ein anderes grosses Problem ist aktuell natürlich die Verteidigung gegen die russische Aggression und den von Russland betriebenen Desinformationskrieg.

Und welche Lösungsvorschläge siehst du?
Alina: Organisationen – insbesondere TV-Stationen und Zeitungen – die von Russland finanziert sind und russische Propaganda verbreiten, gehören geschlossen. Und wir sollten alle darauf achten, russische Propagandabegriffe nicht einfach zu übernehmen – der Begriff «postsowjetisch» zum Beispiel suggeriert, dass es eine Einheit unter den Mitgliedstaaten der ehemaligen Sowjetunion gibt. Und das macht es einfacher, Machtansprüche mit dieser angeblichen Einheit zu rechtfertigen.

Du bist also der Meinung, dass es eine klare Distanzierung von Russland braucht?
Alina: Ganz klar, ja. Denn auch Begriffe wie «Bruderschaft» und «Einheit» sind Begriffe, die regelmässig in russischer Propaganda verwendet werden, um der Ukraine ihre Unabhängigkeit abzusprechen.

Welche Rolle spielt dabei für dich die Sprache?
Alina: Eine sehr wichtige. Es gibt inzwischen mehrere Sprachgesetze, welche den Gebrauch des Ukrainischen an Schulen und in den Medien vorschreiben. Die ukrainische Sprache und ukrainischer Content auf Social Media sind inzwischen «in» und werden als Merkmal von guter Bildung und Privilegien betrachtet. Ich selber zum Beispiel stamme aus einer russischsprachigen Familie, spreche aber sehr gut Ukrainisch. Wenn ich Interviews gebe, glauben mir die Leute deshalb oft nicht, dass ich Sexarbeiterin bin. Dass die Leute inzwischen mehrheitlich Ukrainisch sprechen, hilft bei der Orientierung weg von der russischen Informationssphäre und hin zum Westen.

Wenn wir schon bei Begriffen und Narrativen sind: Was hältst du von Formulierungen wie «die Ukraine ist zwischen West und Ost hin und her gerissen»?
Alina: Solche Statements machen mir Angst. Sie implizieren, dass wir eine Wahl haben. Aber wir befinden uns in einem Krieg – und das ist das Gegenteil einer Wahl. Wir haben vor 30 Jahren eindeutig für unsere Unabhängigkeit gestimmt.Seither befinden wir uns in einem Entwicklungsprozess weg von Russland und hin zum Westen. Das wiederspiegelt sich inzwischen auch in unseren Werten: Wir haben zum Beispiel beim Schutz vor häuslicher Gewalt und der Entstigmatisierung von LGBT Fortschritte gemacht, auf die ich stolz bin. Fortschritte, die ich nicht wieder verlieren möchte.

Was sind deine Hoffnungen und Sorgen für die Zukunft?
Alina: Ich haben erst gerade die Möglichkeit bekommen, ein PHD-Programm zu absolvieren. Ich möchte mehr forschen, an einer Universität unterrichten und noch mehr Advocacy-Arbeit gegen Diskriminierung machen. Ich hoffe deshalb sehr, dass ich weiterhin in einem friedlichen, zum Westen hin orientierten Land leben und es zum Bessern verändern kann. Und dass der Krieg nicht weiter eskaliert und meine Freund*innen und Familie am Leben bleiben.

1 «Public Opinions Survey of Residents of Ukraine» (November 2021). Das International Republican Institute ist eine US-amerikanische, der Republikanischen Partei nahestehende Organisation. Frühere Befragungen durch ukrainische Meinungsforschungsinstitute kamen zu ähnlichen Resultaten.
2 «Russia Ukraine Crisis CNN Poll» (Februar 2022). Die niedrigen Zustimmungswerte unter Ukrainer*innen stehen im Gegensatz zu denen unter Russ*innen, von denen 64 Prozent der «ein Volk»-Aussage zustimmen.
3 Alina lebt überlebt in Kiew Kyjiv und arbeitet für die NGO Club Eney als Sanitäterin für die ukrainische Territorialverteidigung.