Frische Feder Text: Mirjam Ayla Zürcher | Bild: Jeanne Jacob

Santé!

Ein Virus wie Glitzer – Mirjam Ayla Zürcher über das Leben in Spätcoronazeiten.

Maximale Lautstärke auf meinen Kopfhörern. Privatrave im Homeoffice. Meine Finger tanzen über die Tastatur. Freitagabend in Quarantäne. Ein Sofa, eine Küche, eine Gross- WG. Zehnmal Virenschleuder. Trash-TV oder Tatort schauen? Pressekonferenz vom Bundesrat. Was nun? Sollen wir alleine in unseren Zimmern essen? Unsere Zahnbürsten in separaten Gläsern lagern? Dürfen wir noch Besuch einladen? Zum Glück bin ich so single. Let’s flatten the curve. Uh Baby let’s flatten the curve.

Hilfeaufruf für meine Nachbarschaft, dezentrale Spendenaktion, Gabenzaun und Sorgentelefon. Besorgniserregende Statistiken und besorgniserregende Besorgte. Mein Feed zwischen Solidarität und Panikmache. Zukunftsforscher*innen prophezeien eine Post-Corona- Welt ohne Trash-TV und AfD. Hippies posten hoffnungsvolle Gedichte, wie die Erde nun endlich heilen wird. Findige besorgte Eltern im Netz zeigen, wie sie ihren Kids das Virus erklären. Einmal eine fette Portion Glitzer auf die Hand und dann, uuuh schau das Glitzer ist überall, ist überall. Auf der Türklinke, in deinem Gesicht, im Essen pfui! Glitzer, Glitzer überall. Das Virus ist wie Glitzer, das geht nie weg, glaube mir.

Dieses Virus wählt nicht, es kann alle treffen. Doch denen es gut geht, denen geht es besser. Du klatschst und jubelst von deinem Balkon runter zu denen, die unser System halten. Solidarität ist neu dein Lieblingswort und du klatschst es allen um die Ohren, während du dein Profilbild mit einem #staythefuckathome verzierst. Missbilligend beobachtest du alle, die draussen unterwegs sind. Die Kids im Quartier, die WG gegenüber, die zu fünft auf dem Balkon grillt, der Rentner im Garten, der seine Tulpen giesst. Deine Missgunst verscheucht das Virus nicht. You might just stay the fuck at home.

Und ich? Ich kipp von Ratlosigkeit zu Ohnmacht. Von «Was kann ich schon?» zu «Verdammt was kann ich schon?!» Ich kipp hin und her. Von gelassen zu panisch. Von «alles easy, noch haben wir Pasta und Klopapier» zu «Was, wenn uns das Geld ausgeht?». Und dabei immer, immer im Hinterkopf, «dir geht es gut, dir geht es gut, dir geht es verdammt gut». An den Grenzen sterben Menschen und ich sorge mich um Pasta und einen mageren März-Lohn? Und April, Mai, Juni?!

Ich schüttle mich. Der Rave in meinen Kopfhörern jubelt. Ich tanze im Kreis um meinen Tisch. Ich hebe mein Glas und proste virtuelle Liebesgrüsse. Santé! Auf die Vergessenen und Unterbezahlten! Auf die Zeiten, in denen wir wieder gemeinsam tanzen werden.