Männlichkeit Text: xrg | Bild: daf

Eine schöne Jacke

Der «kritische Mann» ist ein Komplize des Systems, er verliert seinen eigenen Status nie. Er ist eine schöne Jacke, die sich wohlig anfühlt.

Neben dem Fussballplatz am Waldrand in der Nähe des Flusses steht ein schlichtes Holzhaus. Es bietet Raum für eine kleine Buvette, den Materialraum mit Fussbällen und Ballpumpe und die Garderoben mit Duschen. Weisse Kacheln, um die 12 Duschen nebeneinander, kaltes Licht. Der Fussballspieler beim Duschen. Das Juniorentraining früher – ein Destillat männlicher Sozialisation. «Wow, du hast einen grossen Schwanz». «Verarscht». Anpinkeln. Dominanzgehabe.

Auch in anderen Umkleidekabinen, auf dem Pausenhof, überall, wo sie unter sich sind – Spassprügeln, halbherziges Jochbeinbrechen. Und gepetzt wird nicht. Die Boys, sie verstehen den Wettbewerb, sind auch nach Schlägen solidarisch. Mädchen – wäh. Sie konstruieren ihre Männlichkeit mit jedem Schlag, mit jedem Wort – Doing masculinity.

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Zuhause erlebt der Sohn eine andere Welt. Sein Vater – bemüht, Männlichkeit differenziert zu betrachten, traditionelle Rollenbilder aufzubrechen. Er trifft sich in einer kritischen Vätergruppe. Auch nicht immer gefeit vor dem Abrutschen in autoritäre Erziehungsmethoden, nicht immer hundertprozentig konsequent. Aber immer die Forderung nach Reflexion. Nach kritischer Einordnung. Diese Forderung bekommt der Sohn vermittelt. Er lernt, reflektiert zu wirken und zu reden. So lange bis sein Vater zufrieden ist.

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Später findet sich der Linke in einem kritisch-männlichen Umfeld wieder. So kann er die Umkleidekabinen irgendwann hinter sich lassen, er kann die Situationen von damals beurteilen und klar sagen, dass diese Auswüchse männlicher Sozialisation als schlecht, als toxisch zu bewerten sind. Ohne jemals in der Lage zu sein, genau sagen zu können, was an ihm selbst männlich ist.

Der Redner und sie reden über Weiblichkeit, Männlichkeit, Angst und Sexualität. Die gefühlt zwanzigste Kippe auf dem Balkon, das vierte Glas Billo-Rotwein, redselig nehmen sie zusammen die Welt auseinander. Er erzählt vom Training früher, sie erzählt ihm von Leidensmomenten aus ihrem Leben als Frau. Wie lange es gedauert hätte, bis sie endlich begriffen hat, dass die Ursachen ihrer Probleme strukturell verankert sind. Der Redner versteht sie und versteht sie gleichzeitig nicht. Nie musste er sich damit auseinandersetzen, ob sich für persönliche Probleme in seinem Leben eine Ursache in einem System verbirgt, das ihn benachteiligt. Später sagt sie, das, was sie jetzt über andere Männer sage, gelte für ihn nicht im selben Masse. Er sei anders, kritisch, reflektiert.

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Der Beschützer steht an einem Wochenendabend auf dem Vorplatz und irgendein Typ ergiesst sich labernd über eine seiner Freundinnen. Sie sagt ihm zum dritten Mal, er solle sich verpissen. Der Typ ist sturzbetrunken – Nähe-Distanz-Kontrolle my ass. Der Beschützer wartet ab, doch je länger er dasteht, desto klarer materialisiert sich ein Gedanke in seinem Kopf: Klopf ihm auf die Scheiss-Schulter und sag ihm: «Fahr ab!». Tu es endlich. Du weisst, wie das läuft. Bei dir wird er es kapieren. Gedacht, getan. Der Typ geht seiner Wege. Der Beschützer fühlt sich schlecht aber irgendwo tief drinnen vielleicht auch ein bisschen stolz.

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Der Urteilende ist in der Lage, jederzeit seine Meinung zu einem Thema kund zu tun. Das kann er, weil er denkt, er wisse vieles. Das kann er, weil ihm sein Leben lang gesagt wurde, dass er das kann. Das merkt der Urteilende aber nicht. Er kann Texte so lesen, dass er im Anschluss genau zu wissen glaubt, was an ihnen nicht richtig ist. Wenn Aussagen formal nicht richtig sind, merkt er nicht, dass er auf der inhaltlichen Ebene taub war.

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Der «kritische Mann» ist Komplize eines Systems, das er nicht mit offenen Worten unterstützen muss, gegen das er sich sogar offen äussern kann. Dessen Dividende ihm aber in jedem Moment ausbezahlt wird. Und dessen Codes in seiner Identität verankert sind. Der «kritische Mann» lässt sich abstrakt darauf ein, eigene Verhaltensweisen einzuordnen und in einen strukturellen Kontext zu setzen. Das tut er manchmal, wenn er das Gefühl hat, es tun zu müssen. Durch seine Kritik verliert er den eigenen Status aber nie – je nach Milieu, je nach Anforderung ist er wieder Fussballspieler, ist er Beschützer und Urteilender. Und wenn es nötig ist, ist er «kritischer Mann». Der «kritische Mann» ist eine schöne Jacke, die von aussen gut aussieht und sich von innen wohlig anfühlt. Doch darin bleibt er schlussendlich er.