Grafikerin Ivie Onaiwu Text: daf | Bild: Ivie Onaiwu

Bist du Künstlerin?

In ihrem Atelier erzählt Ivie über ihre Geschichte, wie sie zur Grafikerin wurde und was sie politisiert hat. Dabei gewährt sie Einblick in ihr Schaffen, wie sie zu Ideen kommt und was sie an ihrer Arbeit motiviert. Auch Sexismen und Rassismen werden thematisiert.

Donnergeräusch. Ein Zug fährt in Richtung des Bahnhofs und streift beinahe den Dachgiebel des Reihenhauses an der Jurastrasse, wo Ivie Onaiwu arbeitet. Im Erdgeschoss befinden sich 10 Atelierplätze für Grafiker*innen, Illustrator*innen und für eine Jus-Studentin. Der Raum hat Fabrik-Flair, auf etwa hundert Quadratmetern Fläche sind die Arbeitsplätze – Tischplatten auf Bauböckli, mit schlanken iMacs darauf – verteilt. Zimmerpflanzen, Veranstaltungs-Plakate und Bauhausregale, Risodrucker und eine Siebdruckanlage unterstreichen das Kreativ-Ambiente. Wir setzen uns mit Prosecco, Oliven und Paprikachips in die Sofa-Ecke. Corny von Rema plätschert im Hintergrund durch die Monitorboxen. Ich drücke die Rekord-Taste und das Aufnahmegerät fängt an zu zählen. Meine Fragen werden unmittelbar beantwortet – als hätten wir den Fragekatalog vorbesprochen. Die anfängliche Interview-Plattitüde verwässert und ein Gespräch, das sich anfühlt wie ein informelles Feierabend-Apéro, entsteht.

Ausbildung, Studium

Der Vater Künstler, die Mutter kunstaffin und im Asylwesen tätig; Ivie zeichnete schon als Kind gerne. «Mein Vater wollte mich teachen in naturalistischem Zeichnen, aber das konnte ich nie.» sagt Ivie und lacht. Im Gymnasium Schwerpunktfach BG, dann Vorkurs in Biel, Abschluss Bachelor visuelle Kommunikation an der HKB. Mit 15 Jahren zog sie mit ihrer Familie von Bern nach Thun. «Dort fühlte ich mich aber nie Zuhause. Mein Zuhause ist dort, wo meine engsten Freund*innen sind.» Ivie wollte also weg von Thun, zog in die Kantonshauptstadt, brauchte Geld; arbeitete als Glacé-Verkäuferin, im Call-Center, einer italienischen Franchise-Kette und dann lange im lonelyplanet-angepriesenen Tramdepot. Während Gesprächen, zeichnet Ivie ganz nebensächlich auf kleine Zettel, wo Figuren und plastische Landschaften entstehen. Sie hat mir solche Skizzen geschenkt, die nun die Wand neben meinem Schreibtisch hängen.

Nicht Working-class aber auch nicht Mittelschicht, irgendwo dazwischen liegt das soziale Milieu der Familie Onaiwu. Das Milieu war für Ivie auch während der Ausbildung zu spüren. Wo viele Kommiliton*innen grosse finanzielle Rücklagen hatten und nicht arbeiten mussten, um das Studium zu bestreiten, ging Ivie während ihrer Ausbildung immer einem Nebenjob nach und wurde so schnell eigenständig. Die Krankenkasse wurde von ihrer Mutter bezahlt, für den Rest musste Ivie während der Studienzeit selbst aufkommen. Lohnarbeit im Niedriglohnsektor befeuerte den Wunsch, nach dem Studium in der Grafik zu arbeiten. Anfang 2020, noch im Lockdown und im Sog der kollektiven Lethargie, findet Ivie ein Praktikum in der Kommunikation des Schlachthaus-Theaters und bekommt eine Anstellung an der HKB als Grafikerin. «2020 ist gegen alle Seiten ein sehr bewegtes Jahr. In meiner gestalterischen Laufbahn hatte es einen riesen Impact.»

Frau sein im Kunstbetrieb

«Als Frau bin ich im Kunstbetrieb einfach nicht vertreten und als Schwarze Frau noch viel weniger.» Fehlende Repräsentation, keine Vorbilder und wenige Frauen, die zu Wort kommen. Männliche Kommilitonen starten mit einem anderen Selbstverständnis in das Studium, präsentieren ihre Arbeit mit einer Selbstverständlichkeit, die anstrengend ist und die es als Frau zu erarbeiten gilt. «Ich nerve mich, dass ich oft sehr viel Zeit in meine Arbeiten gesteckt habe, mir aber bei der Präsentation weniger zutraute und somit auch schlechtere Bewertungen erhalten habe – ich denke das liegt an der Attitüde, dem Selbstbewusstsein.» Sich klein machen, kleiner als mensch ist, gehört in vielen Frauenbiographien zur Normalität. Ivie benennt diese strukturelle Benachteiligung und ich frage sie, wie sich ihr Schwarzsein zusätzlich auf ihre Arbeit und das Studieren in einer vorwiegend weissen Gesellschaft auswirkt.

«Es ist für mich nicht so ein grosses Thema in meiner gestalterischen Arbeit. Ich wollte während der BLM-Bewegung im Sommer 2020 etwas machen, hatte das Bedürfnis mich auszudrücken, fand aber keine Form für alles, was ich in dieser Zeit empfand. Ich hatte Angst vor Kritik und davor, ein Klischee zu bestätigen. Aber das Thema hat mich auf meinem ganzen Bildungsweg begleitet. Ich war ab der Sek die einzige PoC in der Klasse. Als ich an der HKB studiert habe, waren wir in der ganzen Schule drei, die nicht weiss waren.» Auffallen und anders sein gehört für Ivie zum Alltag. In einer Arbeit über ihre Herkunft hat sich Ivie mit ihren Eltern auseinandergesetzt. In einer alten Kiste entdeckte sie Fotos, die ihre Eltern als junges Paar zeigen. Dies war Anlass, um die Geschichte ihrer Eltern zu erzählen und dabei auch in ihrer eigenen Vergangenheit zu stöbern. «Iloi Oba – Könige» heisst das Buch, das dabei entstanden ist. «Woher kommen meine Eltern, woher komme ich? Ich habe dort tief gegraben, zu meinen emmentalerischen und nigerianischen Wurzeln. Bei dieser Aufarbeitung habe ich gemerkt, wie wenig ich über meine Herkunft wusste und wieviel auch noch unklar ist.»

Im Gestaltungsbereich fühlte sich Ivie nicht benachteiligt wegen ihrer Hautfarbe, reflektiert aber gleichzeitig, dass in anderen Bereichen, die nicht mit Gestaltung oder Kultur zu tun haben, vieles weniger einfach wäre. «Ich denke, wenn ich mich für ein Jurastudium entschieden hätte, wäre es schwieriger gewesen, mich durchzusetzen. Aber im gestalterischen Kontext ist das Exotische erwünscht und passt gut in das offene Image einer Kunsthochschule. Ich denke, dass meine Herkunft nicht zwingend ein Nachteil ist in der Gestaltung, als Frau spüre ich Diskriminierungen stärker.» Die Bilanz im progressiven Kunstschulumfeld ist dennoch ernüchternd. Ivie erzählt, wie es sich anfühlt aufzufallen, exotisiert zu werden und auch davon zu profitieren. Alle wollen es richtig machen und reproduzieren positive Rassismen. Trotzdem wirkt Ivie zuversichtlich, wenn es um ihre Arbeit geht.

Wir verlassen das Atelier, vorbei an einem Plakat von der Studyzitig-Party 2019 und stehen nahe am Abgrund, der beim Aareufer endet. Die Brücke ächzt, als der Zug einfährt. Ivie raucht. Das Aufnahmegerät ist aus, wir diskutieren über das letzte Atelierfest, an dem alle Tische zur Seite geräumt wurden. Es war einer der letzten warmen Abende Ende September, als die zweite Welle noch ein Gerücht war. Die Zigarette ist Asche und die Türe zum warmen Atelier öffnet sich.

Politisierung

Ein Schlüsselerlebnis aus dem sich ein Narrativ stricken liesse, gibt es nicht. «Vieles hat mich genervt und nervt mich immer noch.» Mit 16 Jahren fuhr Ivie von Thun nach Bern, um die Nächte vor der Reitschule zu verbringen. Männer testen Grenzen aus, deren sie sich selbst noch nicht sicher sind und überschreiten Grenzen anderer. Ivie lernt, sich zu wehren. Aufdringliche und übergriffige Begegnungen im Ausgang sind für die 16-jährigen Frauen keine Seltenheit. «Das waren sicher prägende Erlebnisse. Solche Belästigungen haben unsere männlichen Freunde nicht erlebt, nur wir Frauen.» Auch bei der Arbeit im Service musste sich Ivie mit Rassismen und Sexismen auseinandersetzen, doch hier auf eine andere Weise als im Ausgang. Es sind Blicke, Sprüche, suggestive Fragen wie «Von wo kommst du?», die sie als Fremde markieren, sie exotisieren. «Wenn du Biere an einen Tisch bringst und dir Männer komische Blicke zuwerfen, fühlst du dich unwohl, kannst aber nichts sagen, weil die Gesten zu subtil sind. Trotzdem reichen sie, damit du dich blossgestellt fühlst.»

Wie kommst du zu Ideen?

Ivie sammelt analog in einem Ordner Drucksachen, die ihr gefallen und digital speichert sie viel auf ihrem Instagram-Account, was ihr von älteren Dozierenden schon Kritik einbrachte. Sie solle lieber in die Bibliothek gehen, war der Ratschlag. Die Technik passt sie ihrer Lust an: «Es ist sehr von meiner Lust abhängig, manchmal will ich etwas zeichnen und es entsteht eine Illustration, die ich dann als Ausgangslage für etwas Neues verwende. Oder eine Fotografie, die eine neue Idee für einen Teppich anfeuert. Wenn ich einen konkreten Auftrag habe, erarbeite ich normalerweise zuerst ein Mindmap und trage dann die Ideen eine Weile mit mir rum, bevor ich einen konkreten Ansatz verfolge.»

«Mein Hauptbeweggrund bei der Gestaltung ist die Freude am Tun. Die Suche nach den Grenzen des Mediums. Bei meinem Teppich (Bachelorarbeit) interessierte mich die Grenze des Mediums, weil der Teppich nicht nur ein Einrichtungsgegenstand ist, sondern auch eine Botschaft mit sich tragen kann. Auch wenn bei meinem Projekt der Inhalt unterwegs etwas verloren gegangen ist. Das Gefäss war jedenfalls da.»

«Was würdest du an dir ändern?»

«Was ich an mir ändern würde? Definitiv mehr Selbstbewusstsein aufbauen. Um aber mehr auf mich vertrauen zu können, bräuchte ich sehr viel mehr Erfahrung.»

«Und ich würde meine Arbeiten gerne von mir distanzieren können. Je nachdem, wem ich meine Sachen zeige, nimmt mich das Urteil ganz schön mit. Das würde ich gerne ablegen. So dass ich objektiver sagen könnte, ob etwas stark oder schwach ist.»

«Hast du dir überlegt, dir eine Kunstfigur zuzulegen?», frage ich.

Ivie lacht und meint, wenn sie selbständig wäre, würde sie sich nur Ivie Ada nennen und ihren Familiennamen ablegen. Das gäbe dann vielleicht ein wenig Distanz. «Grafik verbinde ich mit Dienstleistung. Wenn ich meinen Namen ändern würde, dann wäre das eine Künstlerinnen-Identität und nicht die einer Grafikerin.» Für Ivie ist klar, dass sie Grafikerin ist und nicht Künstlerin. Kunst hat für sie einen viel freieren Ansatz. «Wenn ich in meinem Verständnis Kunst mache, stehen meine gestalterischen Bedürfnisse im Vordergrund und das Zielpublikum und der mögliche Verkauf ist zweitrangig.»

Die Uhr zeigt den Beginn eines neuen Tages an, der Prosecco ist leer und wir verlassen das Atelier. Dann denke ich an meine Selbstkritik und mir wird bewusst, dass ich nie so streng war zu mir, wie Ivie zu sich ist. Vielleicht könnte ich mir eine Scheibe abschneiden von ihrer selbstkritischen Art. Ich fahre mit dem Velo nach Hause und sehe eine Plakatwand mit HKB-Werbung, die von Ivie gestaltet wurde und finde es schade, dass da unten rechts kein Name steht.