Alternative Wohnformen Text: Doris Gehring, CDMX | Bild: Lisa Kast

So wohnen wir

Der Himmel über der Ciudad de México (CDMX) ist grau, im Rachen kratzt es und die Augen sind rot, seit Tagen haben wir Smog. Die Schulbehörde hat die Weisung herausgegeben, dass Aktivitäten im Freien zu unterlassen seien und die Luftqualität der Gesundheit im Generellen schade. Ich bin auf dem Weg in den Stadtteil Santa Maria la Ribera, wo ich heute eine Hausgemeinschaft besuchen will, die Alternativen zum Leben im Konsum sucht.

Die Santa Maria ist einer der Stadtteile, die im Gegensatz zu den bei vielen Tourist*innen bekannten Stadtteilen Roma oder Condesa noch nicht von Tourist*innen übernommen wurde, sondern den Bewohner*innen der Nachbarschaft gehört. Der Stadtteil war vor dem grossen Erdbeben 1985, bei dem tausende Menschen in den Trümmern der eingestürzten Häuser starben, ein mittelständisches Viertel. Durch die Flucht der Bewohner* innen aus den zerstörten Häusern kam der soziale Abstieg. Leerstehende Häuser wurden besetzt und mit der Armut kam die Kriminalität. Heute gilt die Santa Maria als unsicher, ich spreche aus Erfahrung, auch ich wurde hier schon überfallen. Bei meiner Ankunft laufe ich direkt in ein Kundengespräch des Velokollektivs, denn direkt hinter dem grossen Eingangstor des alten Hauses befindet sich deren Werkstatt. Das Velokollektiv recycelt und repariert Velos und gibt das mechanische Fachwissen gerne an Interessierte weiter. Die Idee dahinter, wie mir später erklärt wurde, sei, dass in der Stadt, die an dem immer stärker werdenden Verkehrsaufkommen erstickt, weniger Auto gefahren werden soll, einerseits, um die Luftqualität zu verbessern, aber auch, weil Velofahren nach Ansicht des Kollektivs eine gleichmachende Funktion habe. Alle könnten sich ein Velo leisten, es sei besser für die Umwelt und man komme damit schnell und kostengünstig durch die Stadt. Aufgrund dieses Grundgedankens repariert das Kollektiv nicht nur die Velos der Nachbarschaft, sondern hilft auch aus, wenn ein*e Velokurier* in (in Mexiko Stadt wird etwa Trinkwasser oder Gas von Fahrradlieferant*innen transportiert) etwas reparieren lassen muss, aber gerade nicht bezahlen kann. In solchen Situationen wird gemeinsam eine Lösung gefunden, entweder darf später bezahlt werden, oder es wird ein Tausch ausgehandelt. Gegen die Reparatur des Velos kann zum Beispiel bei der Restaurierung des Hauses geholfen oder für alle gekocht werden. So ist das Kollektiv nicht nur ein Arbeitgeber, sondern auch ein wichtiger sozialer Angelpunkt in der Nachbarschaft. Ein weiteres Projekt, das im Haus vorangetrieben wird, ist ein Dachgarten. Dieser wird von einem weiteren Kollektiv, das nicht im Haus wohnt, geführt. Hier wird neben Blühendem etwa auch Gemüse zum Selbstkonsum angepflanzt. In einem Gewächshaus und auf dem grossen Flachdach entstand so eine kleine Oase mitten in der Stadt. Neben dem Gewächshaus und der Warmwassersolaranlage steht auch das neueste Projekt der Hausgemeinschaft – eine Komposttoilette. Wasserknappheit ist eines der akuten Probleme der mexikanischen Metropole. Einst auf einem riesigen See erbaut, hat das Bevölkerungswachstum und der zunehmende Wasserverbrauch dazu geführt, dass heute Wasser knapp ist. Vor allem in den ärmeren Stadtteilen ist die Wasserzufuhr oft unterbrochen, da kein Geld in die marode Infrastruktur investiert wird. Die Hausgemeinschaft versucht nun Gegenentwürfe zum modernen Wasserkonsum zu finden, daher wurde neben der Komposttoilette auf dem Dach auch ein Trockenpissoir im normalen WC installiert und eine Regenwasserfassungsanlage ist in Planung. Neben der Umweltproblematik beschäftigt die Gemeinschaft aber auch das soziale Zusammenleben. In einem grossen Raum, in dem Bücher in Regalen bis an die Decke gestapelt sind, wird eine feministische Bibliothek angeboten. Gemütliche Lesesessel laden zum Schmökern ein und im grossen Patio sitzt gerade ein Grüppchen Tessiner*innen und Italiener*innen bei einer Flasche Wein zusammen und diskutiert angeregt. Nach der Führung durch das Haus trudeln langsam einige der Bewohner*innen der WG, aber auch aus den verschiedenen Projektgruppen zum mitgebrachten Abendessen ein. Der Schweizer Käse kommt gut an, vor allem der Gruyère scheint den Geschmack zu treffen und das mexikanische Bier passt an dem warmen Abend gut dazu. Wir kommen ins Gespräch, vor allem interessieren sich die Bewohner*innen für die Idee der Reitschule und sind begeistert zu hören, wie breit deren Angebot ist. Nur die Frage nach der Autonomie einer Einrichtung, die Unterstützung vom Staat erhalte, beschäftigt meine Gesprächspartner*innen. Es bricht eine hitzige Diskussion darüber aus, wie man im Generellen neue Wege fi nden kann, das herrschende System zu verändern und einen Weg aus dem kapitalistischen Mainstream zu fi nden. Eine Lösung dafür hat man auch heute Abend nicht, aber die Bewohner*innen sind sich einig, dass man die eigene Lebenswelt so gestalten sollte, dass sie das Umfeld positiv beeinflusst. Meine Gesprächspartner*innen sind ein bunt gemischter Haufen von Frauen und Männern aus aller Welt, die Besitzerin des Hauses ist Francesca, feministische Philosophin aus Italien, die mit ihrer Tochter, einer Studentin, im Haus wohnt. Die beiden leben mit Brenda aus San Salvador und Nina aus Zürich, sowie Gustavo, einem Mathematiker, und Checo aus Mexiko zusammen. Es gesellen sich noch weitere Gäste zu uns, welche manchmal auch länger bleiben, heute sind das Claudia und Juan vom Gartenkollektiv, sowie Poke und Ricardo vom Velokollektiv. Ihre Lebensgeschichten und Hintergründe sind unterschiedlich und doch vereint sie die Idee, dass man durch den Versuch, Dinge anders zu machen, die Welt verändern kann. Das Zusammenleben und Arbeiten läuft erwartungsgemäss nicht immer friedlich ab, die Gruppe erzählt grinsend von Auseinandersetzungen und Diskussionen, die auch mal ausufern könnten. Man ist sich jedoch einig, dass man durch solche Situationen auch vieles von und übereinander lernen könne und miteinander wächst. Die Stimmung wird düsterer als die Bewohner*innen von der letzten grossen Herausforderung erzählen. Nach einem sexuellen Übergriff vor einem halben Jahr im Umfeld der Gruppe beschloss die Gemeinschaft sich vertieft mit sich als geschlechterheterogener Gruppe auseinanderzusetzen und das unbequeme Thema gemeinsam aufzuarbeiten, anstatt es zu verdrängen. Der Vorfall habe viele Fragen aufgeworfen, die mit Hilfe einer geleiteten professionellen Gesprächsführung mit bioenergetischen Übungen angegangen wurden. Nie habe man gedacht, dass einer der ihren diese Grenze überschreiten könnte, aber genau dies war der Auslöser einer tiefschürfenden existentiellen Krise, welche zu einer grundlegenden Veränderung der gesamten Gruppe führte, die nicht als abgeschlossen betrachtet werde. In diesem intensiven Prozess entstand ein neues Gemeinschaftsgefühl. Heute können sie von sich als Gruppe sagen, dass sie sich als Feminist*innen verstehen, im Sinne der Gleichheit aller Menschen und gegen die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen der Unterdrückung. Das gemeinsame Leben sei eine Herausforderung in vielerlei Hinsicht, unter der einige schon mal an ihre Grenzen oder darüber hinausgekommen seien, aber der Wille, eine Lösung zu fi nden, sei stärker. In mehr oder weniger wöchentlichen Treffen werden nun anstehende Projekte besprochen, aber auch Unstimmigkeiten ausdiskutiert. Aus der Hausgemeinschaft ist eine Ersatzfamilie geworden, die sich selbst, die Nachbarschaft und hoffentlich auch die Gesellschaft positiv beeinflusst und verändert. Bei mir hat das Haus jedenfalls einen tiefen Eindruck hinterlassen.