Klima Text: flow | Bild: daf und Nora Ryser

Streik für die Zukunft!

Alles fing mit einem einsamen Protest an. Befeuert durch die Untätigkeit der Politik breitete sich die Welle des Widerstands von Stockholm in die ganze Welt aus. Eine unvollendete Chronologie.

2. Februar 2019

Die Erde bebt. Die Sonne strahlt, trotzdem ist es eiskalt. Tausende Füsse springen auf und ab, um sich aufzuwärmen. Die Decke der Tiefgarage unter dem Waisenhausplatz gerät in Schwingung. Wer einen Moment nicht mitspringt, fragt sich, wie viel sie noch aushält. Also besser springen und warm werden. In der Mitte der Menge steht auf einem improvisierten Podest eine Frau am Mikrofon. Sie peitscht die Menge an: «On est plus chauds, plus chauds, plus chauds que le climat». Wir sind heisser als das Klima und wünschen uns gleichzeitig, das Klima würde ein bisschen cooler werden. Tausend Kehlen stimmen immer wieder in den Schlachtruf ein. Überall wippen selbst gebastelte Kartonschilder auf und ab. Markige Sprüche, dringliche Aufrufe, Kinderzeichnungen. Viele Erwachsene haben ihre Kinder mitgebracht und tragen sie auf den Schultern oder halten sie an den Händen. Auch ältere Menschen mit grauen Haaren solidarisieren sich. «Was weimer?», fragt die Rednerin mit heiserer Stimme. Zwischen ihr und den Demonstrierenden ist ein kleiner Korridor, bevölkert von Kameras und Kabeln. Fotografinnen huschen mit teilnahmsloser Miene hin und her, um das beste Sujet zu ergattern. Sie versuchen, sich von der Energie nicht anstecken zu lassen. Dann folgen farbenfrohe Banner, laute Instrumente und schliesslich die Jungen. In ihren Gesichtern können wir Leidenschaft lesen. Auf ihren Lippen tanzt die Frustration. In ihren Köpfen brodelt der Wandel. «Klimagrächtigkeit!», antwortet die tobende Menge wie aus einem Mund. Gerechtigkeit; was für ein hehres Ziel. Aber wie würde sie wohl aussehen, unsere gerechte Zukunft? Werden wir noch die gleichen Privilegien wie heute haben? Müssten wir nicht vielleicht auch unser Glück radikal hinterfragen? Und werden wir diese gerechte Zukunft je erleben? Oder wohl eher unseren Planeten vorher an die Wand fahren? Aus ihm einen unwirtlichen Ort machen, wo Wirbelstürme an der Tagesordnung sind, wo ganze Landstriche wegen Dürren oder Überschwemmungen unbewohnbar sind, wo «Biodiversität» ein längst vergessenes Wort ist? Vielleicht wird es soweit kommen, dass wir den öden Mars tatsächlich unserer eigenen grünen Wassererde vorziehen. Dass es uns plötzlich normal vorkommt, dort mit Atombomben das Eis an den Polkappen zu schmelzen, weil die Alternative mindestens so schlimm ist. «Wenn weimers?» schreit die Frau wieder ins Mikrofon. Die Antwort der Menschen auf dem Waisenhausplatz ist vorhersehbar: «Itze!» Die Zeit für Reden ist abgelaufen, die Zeit der Taten ist da. 20. August 2018 Der Himmel über Stockholm ist bewölkt. Seit Wochen wüten in ganz Schweden Waldbrände. Auf einer Fläche so gross wie der Kanton Nidwalden brannten zwischen Mai und Juli fünfzig verschiedene Feuer. Ihr Rauch ist auf den Satellitenbildern klar zu erkennen; er breitet sich über Skandinavien aus wie eine Krankheit. Sie überschattet die grünen Wälder der Taiga und lässt sie grau und verkohlt werden. Aber die Brände sind nur ein Symptom von vielen, die Krankheit schlummert tiefer. Zehn Grad wärmer als üblich waren die Temperaturen Mitte Juli in ganz Skandinavien. Der Mai und Juli 2018 waren gar die wärmsten je in Schweden gemessenen. Ganz allein sitzt eine junge Frau vor der Sandsteinfassade des «Riksdag ». Hier tagt das Schwedische Parlament. Und wie überall in Europa, wo auch dieses Jahr neue Temperaturrekorde verzeichnet wurden, wird vor allem geredet. Sonst tut sich nichts. Vor allem tut sich nichts, um den drohenden Klimakollaps noch rechtzeitig abzuwenden. Ein pinker Rucksack ist neben der jungen Frau an die Wand angelehnt. Es wirkt, als mache die Frau einfach eine Mittagspause an einem normalen Tag im August. Doch neben ihr steht ein weisses, selbstgemaltes Schild: «Skolstrejk för Klimatet». Alle wissen mittlerweile, was hier gefordert wird, auch ohne Schwedisch zu können. In ihrer blauen Jacke streikt Greta Thunberg an diesem wolkigen Augusttag das erste Mal alleine für das Klima. Sie will nicht länger tatenlos sein, sie will nicht länger, dass andere tatenlos sind. Noch ahnt sie nichts von der Rolle, die sie in wenigen Monaten spielen wird. Noch kennen die Klimaleugner und Demagogen ihre neue Lieblingsfeindin noch nicht. Noch ist sie einfach ein Kind, das die Schule schwänzt. Vor den Parlamentswahlen im September will sie auf die missliche Politik im eigenen Land, ja in ganz Europa und der Welt aufmerksam machen. In den drei Jahren seit dem Klimagipfel in Paris hat sich merklich wenig getan. Es wurde viel geredet, doch geändert hat sich kaum etwas. Es wurde eine Einigung erzielt, doch wenn es um ihre Umsetzung geht, lässt der Tatendrang zu wünschen übrig. Gretas Mission ist auf einem Stapel gedruckter A4-Blätter zu lesen: «Wir Kinder tun oft nicht, was ihr uns sagt. Wir tun, was ihr tut. Und weil ihr Erwachsenen euch einen Dreck um meine Zukunft schert, tu ich das auch. Mein Name ist Greta und ich gehe in die neunte Klasse. Und ich streike bis zur Schwedischen Nationalwahl die Schule für das Klima.»

11. September 2018

Drei Wochen später steht ein altes Fahrrad vor der Brücke zum Riksdag. Mit einem langen, rostigen Schloss ist es an einen Laternenpfahl angekettet. In zwei Holzkisten – eine vorne, eine hinten – blühen Blumen. Auch in den Speichen sind Sträusse eingewoben und dekorieren ein Holzschild. Darauf ist wieder ein Aufruf gemalt: «Der Klimawandel muss als Krise behandelt werden! Das Klima ist das wichtigste Wahlthema! #Klimatstrejk #BackaGreta» Wieder war Greta Thunberg am Werk. Ihr Streik hat nicht aufgehört, denn die Wahl war für das Klima ein Desaster. Die rechtsbürgerlichen Parteien – allen voran die rechtspopulistischen Schwedendemokraten – fuhren saftige Gewinne ein. Sowohl die sozialdemokratische Partei als auch die Grünen hatten das Nachsehen. Der Wind sollte eigentlich längst drehen. Stattdessen weht er jetzt noch rauer durch die Hallen des Schwedischen Reichstags. So nimmt sich Greta vor, von nun an jeden Freitag die Schule zu streiken und vor dem Parlament auf der kleinen Insel mitten in Stockholm auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Einige haben sich mittlerweile dazugesellt, sie haben ihr Tupperware mit Essen und Schilder mit Forderungen mitgebracht. Weltweit entdecken die Medien, dass hier etwas am Köcheln ist. Auch der angesehene «New Yorker » interessiert sich für die junge Aktivistin. «Ich glaube, die Wahl hat keine Rolle gespielt», erklärt sie einem Reporter. «Das Klima wird nicht kollabieren, weil eine Partei am meisten Stimmen erhalten hat. Um die Klimakatastrophe zu verhindern, braucht es eine Politik, die es heute noch nicht gibt. Wir müssen das System verändern, so als wären wir in einer Krise, so als wären wir mitten in einem Krieg.» Diese markigen Worte sind Wasser auf die Mühlen der Unzufriedenen. Denn mit ihrem Ruf nach systematischem Wandel trifft Greta überall auf der Welt einen Nerv. «System Change not Climate Change» werden die Demonstrierenden bald auf der ganzen Welt skandieren. Bereits jetzt versammeln sich in Den Haag täglich Mitstreitende vor der «Tweede Kamer ». Auch in Deutschland protestieren jeden Freitag Aktivist* innen vor dem Bundestag. In den kommenden Monaten wird die Masse der Bewegten ständig grösser werden, aus lokalen Klimabewegungen werden nationale und internationale. Das ist für ein globales Problem wie den Klimawandel nur angemessen. Aber ist das genug?

2. Februar 2019

Ein junger Bub hat sich einen Karton umgehängt. Wie eine wandelnde Werbetafel läuft er still und trotzdem engagiert am Rande des Umzugs durch die Stadt. Sein Blick ist suchend, er wirkt entschlossen. Hier steht ein Kind, das kämpfen will. Hier steht ein Kind, das Veränderung sucht. «Die Eisbären sterben aus. Wir müssen etwas unternehmen», steht in kindlicher Schrift über einer matten Zeichnung. Dort liegen die Eisbären mit rosa Ohren im schmelzenden Schnee und werden von gnadenlosen Sonnenstrahlen gebrutzelt. Es sind diese einfachen Bilder, die den drohenden Kollaps verdeutlichen. Es wird wärmer. Das Eis der Polarmeere schmilzt. Wir könnten sicher auch ohne Eisbären leben – auch wenn es eine traurige Welt wäre –, aber können wir das auch ohne ein Klima, das einigermassen unter Kontrolle ist? Die Krankheit, die wir in unsere Welt geholt haben, nimmt langsam aber sicher Überhand. In einer solchen Situation werden die Jungen zum Symbol der Klimabewegung. Denn sie werden am meisten unter den veränderten Bedingungen zu leiden haben. Sie werden unseren Dreck aufräumen müssen. Sie werden mit unserem Kohlendioxid zurechtkommen müssen. Sie werden unser Plastik im Ozean zusammensammeln müssen. Sie werden verschmutzte Minen, abgeholzte Wälder und Berge von Tierscheisse, die wir im Fleischwahn produzierten, von uns erben. Auf einem Schild steht «Warum für die Zukunft lernen, wenn ihr sie zerstört?» Es ist eine klare Schuldzuweisung. Die Alten haben es verbockt. Nun sind sie zu faul, zu arrogant, zu blind, um aufzuräumen und den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Sie ruhen sich aus auf ihren fetten Polstern und verhöhnen die Bewegung, anstatt ihr den nötigen Aufwind zu geben. Doch ihre Vorwürfe und ihr Spott sind absurd und zynisch. Jahrelang beschwerten sie sich, die Jugend sei apathisch, politikverdrossen, zu faul, um wählen zu gehen. Nun strömt die Jugend auf die Strassen, blockiert die Eingänge zu Banken, Pharmakonzernen und Versicherungen, fordert Verantwortung ein und wählt die Sesselpupser aus den Parlamenten. Und jetzt ist es den Alten plötzlich zu viel. Sie sehen die Bewegung als links-grüne Verschwörung, kontrolliert und instrumentalisiert durch Lehrerpersonen und Eltern. Allen voran geifern sie über Greta Thunberg und diffamieren sie bei jeder Gelegenheit. Als lernten junge Menschen erst dann selbständig denken, wenn sie abgestumpft in den Kammern der Politik mitmischen und sich an die althergebrachten Regeln halten. Als seien die Jugendlichen erst dann eine ernstzunehmende politische Stimme, wenn sie sich ruhig und systemangepasst verhalten. Aber das sind Ausreden, die von Tag zu Tag leiser werden. Das ist gut so, denn «euch gehen die Ausreden aus, uns die Zeit» verlautet ein weiterer Pappkarton, während sich der Umzug am Bahnhofsgebäude vorbeischlängelt und den Verkehr kurzfristig lahmlegt. Das System ist kaputt, es bringt nichts, sich daran anzupassen. Natürlich gibt es auch den Vorwurf, die Jungen wollten einfach die Schule schwänzen. Es sei bloss Faulheit und pubertärer Widerstand, sie seien dem «Klimawahn» erlegen und glauben jetzt, für eine gute Sache einzustehen. Dass an diesem 2. Februar – einem Samstag – trotzdem so viele Menschen auf der Strasse sind und sich den Frust aus den Kehlen schreien, straft diese Menschen Lügen. Irgendwann zieht die Menge beim Bahnhof weiter. Die Banner voraus, die Kartonschilder hinterher. Auf dem Weg zum Bollwerk bleiben wieder alle stehen. Die Fotografinnen und Instagramer sind bereits vorausgeeilt und haben sich auf der Fussgängerbrücke positioniert. Beste Sicht auf den Umzug, der sich nochmals ordentlich aufwärmt, denn es wird immer schwieriger, heisser als das Klima zu sein – bei dieser Kälte hilft nur hüpfen. Hüpfen gegen die Klimaapathie. Wie ein Ozean aus Menschen ziehen Wellen von vorne nach hinten, von links nach rechts durch die Demonstration.

23. März 2019

Seit Wochen beschiessen die «Weltwoche», Roger Köppel, die SVP und all die anderen Rechtspopulisten und Klimawandelleugnerinnen die Bewegung. Die Schüler*innen sollten sich vor einer Ideologie hüten, die das freiheitliche System ändern möchte. Es bestehe kein Anlass zur Panik. Das sagen die, die ein System für freiheitlich halten, das den globalen Süden systematisch ausbeutet. Das sagen die, die ein System für freiheitlich halten, das den zukünftigen Generationen systematisch Freiheit verunmöglicht. Von diesem System wollen die Jungen nichts wissen. Die Zeit der Panik, die Zeit des Widerstands ist da. «Wenn der Schweizer Finanzplatz mit seinen Investitionen über 20 Mal mehr CO2-Emissionen als die gesamte Schweiz verursacht, wird ersichtlich, dass die Reduktion von Kaffee-Plastikdeckeln nicht mehr als Kosmetik ist», schreiben einige in einem offenen Brief an die «wohlgemeinten Vorschläge» der Rechten. «Stattdessen brauchen wir strukturelle Veränderungen unserer Wirtschaft, die eine nachhaltige Gesellschaft ermöglicht.» Und sie tappen dabei auch nicht in die alte neoliberale Falle des «grünen Wachstums». Sie verstehen, dass es nur mit Verzicht und «degrowth» geht. Im Gegensatz zu den Alten haben die Streikenden verstanden, dass ihr Wohlstand auf Kosten der anderen geht. Dass unsere hochgelobte Freiheit eine Freiheit für wenige ist. Sie fordern einen «energischen Wandel hin zu einem demokratischeren System, das auf den Interessen aller basiert». Die Besänftigungsversuche der Alten prallen am Kampfgeist und am Glauben an eine bessere Zukunft der Jungen ab. Denn diese stellen ihren Mut zur Veränderung der Angst entgegen.

 8. Oktober 2018

Der Sitz des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist ein moderner ovaler Glasbau an der «Avenue de la Paix» in Genf. Auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse befindet sich die Idylle des botanischen Gartens, im gleichen Gebäude wohnt auch MétéoSuisse. Mit dem Wetter und dem Klima kennt man sich aus. Der Sitz der Welthandelsorganisation (WTO) ist ein Steinwurf entfernt, auch die Zentrale des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes ist nicht weit. Hier ist die Globalisierung zum Greifen nah. Was sich sonst nur in den Parlamenten und an den Flughäfen, in den zollfreien Onlineläden und dem weltweiten Warenstrom manifestiert, liegt hier physisch ausgebreitet. Es erstaunt nicht, dass an diesem Tag die Musik am anderen Ende der Welt spielt. Dort, in Südkorea, stellt das IPCC einen neuen Sonderbericht vor. Er ist alarmierend und bestätigt die Befürchtungen, die Greta Thunberg und viele Aktivist*innen auf die Strasse treiben. Die zentrale Frage: Was geschieht mit unserer Welt, wenn wir eine globale Erderwärmung von mickrigen 1,5 Grad erreichen? Das ist der Wert, den die Politik in mühsamsten Verhandlungen 2015 am Pariser Klimagipfel als Obergrenze festgelegt hat. Die Antwort des Sonderberichts zeigt schnell: Es ist auch dann eine düstere Zukunft. Die wissenschaftliche Sprache im Bericht ist unmissverständlich: Unsere gegenwärtige Politik reicht nicht. Nicht einmal annähernd. Machen wir so weiter wie bisher, landen wir locker bei 3 Grad Erwärmung. Nur wenn wir bis 2030 den Ausstoss von CO2 gegenüber 2010 um 45 Prozent senken – und bis 2050 auf Null reduzieren – könnten wir das ursprünglich definierte Ziel noch erreichen. Und selbst wenn wir das schaffen sollten: Es wird weitere Hitzewellen, Überschwemmungen und Dürren geben. Wir werden das Artensterben und die Verringerung der Biodiversität weiter vorantreiben. Der Sauerstoff im Meer wird weniger werden. Und uns wird er auch bald ausgehen. Aber wieder braucht es die Stimme der Jugend, um dieser Erkenntnis Gewicht zu geben. Wieder tun die Mächtigen wenig, um uns auf Kurs zu bringen. Ausgerechnet in einem Land, das sich vehement gegen den Kohleausstieg wehrt, findet zwei Monate später die 24. UN-Klimakonferenz statt. Es ist ironisch, dass Greta Thunberg hier im polnischen Katowice zur Rede ansetzt. An der Wand hinter dem Podium flattert die polnische Flagge, daneben wiederholt sich ein Schriftzug «Changing together». Es sind hohle Worte, die durch die Wiederholung bloss noch abgestumpfter, noch bedeutungsloser wirken. Ihre Haare hat sie zu zwei Zöpfen geflochten. Sie erinnert an Pipi Langstrumpf. Nicht nur wegen ihrer klaren Ansage und ihrer unverblümten Sprache. Auch, weil sie sich nicht an die Spielregeln der Welt der Erwachsenen halten will. «Ich habe gelernt, dass niemand zu klein ist, um einen Unterschied zu machen», redet sie den Anwesenden ins Gewissen. «Ihr redet lediglich von ewigem grünem ökonomischem Wachstum, weil ihr Angst habt, unpopulär zu sein. Ihr redet davon, mit denselben schlechten Ideen weiterzufahren, die uns in dieses Schlamassel geführt haben. Dabei wäre das einzig vernünftige, die Notbremse zu ziehen. Ihr seid nicht reif genug, um die Wahrheit zu sagen. Sogar diese Bürde gebt ihr uns Kindern mit.» Es ist still im Saal, vereinzelt blitzen ein paar Kameras auf. Die Anwesenden lauschen aufmerksam, was die junge Aktivistin zu sagen hat. «Es ist mir egal, beliebt zu sein. Ich interessiere mich für Klimagerechtigkeit und einen lebendigen Planeten», fährt sie fort. «Wir können eine Krise nicht lösen, wenn wir sie nicht wie eine Krise behandeln. Wir müssen fossile Brennstoffe im Boden lassen und uns auf Gerechtigkeit konzentrieren. Wenn die Lösungen unmöglich im System zu finden sind, müssen wir vielleicht das System verändern.» Die Ansprache dauert drei Minuten, Thunberg verlässt die Bühne, die Leute klatschen. Die feministische Aktivistin und Philosophin Silvia Federici erklärt die Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen als ein Produkt der Aufklärung. «Der Frühkapitalismus erweiterte den Abstand zwischen Erwachsenen und Kindern. Mit ihm hielt auch eine sehr strenge Haltung gegenüber Kindern Einzug, nämlich dass sie gebrochen werden müssen», erklärt sie in einem Gespräch mit Fiona Jeffries. Mit der Trennung wurde eine Hierarchie von Macht und Wissen konstituiert. Kinder hatten von nun an willige Automaten zu sein, die man in die richtige Form giessen muss. Doch nun leisten die vermeintlichen Automaten plötzlich energisch Widerstand. Kein Wunder fühlen sich die alten Herren durch das Aufbegehren der Jungen in ihrem Weltbild hinterfragt. Es geht nicht nur um ein bisschen bessere Ökobilanzen oder ein bisschen weniger Treibhausgase. Wofür hier gekämpft wird, ist ein radikaler Wandel. Es ist eine neue Welt, in der nicht mehr das Diktat des Wachstums und der ständigen Ausbeutung dominiert.

2. Februar 2019

Ein Mann Mitte 30 hält ein Schild in die Höhe. «Meine Kohle in Kohle investieren? So nicht, liebe Pensionskassen!» Während rund um ihn die Schilder mit Witz und Anspielungen experimentieren, geht es hier ans Eingemachte. Die schwarze Schrift auf Recyclingkarton zeigt mit dem Finger auf die grössten Klimasünder der Welt: Banken, Versicherungen und Pensionskassen. Sie alle pumpen Milliarden in Firmen, die sich der alten Ordnung verschrieben haben. Denn auch wenn Öl, Gas und Kohle bei manchen bereits verachtet sind, sind sie nach wie vor beliebte Investitionsgefässe. Die meisten Pensionskassen der Schweiz haben Anleihen bei der klimaschädigenden Industrie. Wer trägt die Verantwortung? Eine schwierige Frage. Die Pensionskassen wollen stabile Renditen, sie sind ein weiteres Symptom der Krankheit unserer Welt. Und wir wollen im Alter mit Seniorinnen-GA eine ruhige Kugel schieben. Das Resultat: Der Schweizer Finanzplatz verursacht mit Investitionen in klimaschädigende Industrie gemäss der «Klima-Allianz» 22 mal so viele Treibhausgase, wie in der Schweiz direkt ausgestossen werden. Und wieder zeigt sich, dass ein kleines, reiches Land global kräftig mitmischt. Mit erhobener Faust stehen mehrere Menschen auf dem Rücken von Pferden. Im Wasser schwimmt ein grünes Kanu hinter einer Gruppe von Protestierenden. Sie schützen sich mit blauen Matten vor den Geschossen der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten, die an Land stehen. Es ist eine Mauer aus schwarz gekleideten und behelmten Hütern des Gesetzes. Sie versprühen kanisterweise Tränengas. Wie Nebelschwaden hängt es über dem Boden. Die Hüter des Gesetzes kennen keine Rücksicht auf Verluste. Sie haben einen klaren Auftrag: Das System am Laufen zu halten. Die Menschen im Wasser verhalten sich friedlich, es fliegen keine Steine, es brennen keine Barrikaden. Trotzdem geht die Polizei gewaltsam vor. Immer wieder klatschen Gummigeschosse im Wasser vor den Menschen auf. Die Aktivist* innen schreien verzweifelt aber kämpferisch: «Shame on you! Shame on you!» und dazwischen immer wieder «Save our water!» Hier in North Dakota, dem Amerikanischen Bundestaat an der kanadischen Grenze, kämpften zwischen April 2016 und Februar 2017 indigene Lakota und Umweltschützer*innen gegen die «Dakota Access Pipeline». Sie soll das unweit der kanadischen Grenze geförderte Öl zweitausend Kilometer ins Landesinnere transportieren. Die Planung der Pipeline ignorierte die Befürchtungen der indigenen Bevölkerung, sie ignorierte die Zeichen der Zeit, denn es gab Geld und es lockte eine Rendite. Es ist ein symbolischer Kampf gegen eine vom Öl befeuerte Wirtschaft. Eine Wirtschaft, die auch tatkräftig mit Schweizer Kapital am Laufen gehalten wird. Hauptsache, die Quartalszahlen stimmen und die Boni sprudeln am Ende des Jahres. Der Staat geht – mit freundlicher Unterstützung privater Sicherheitsfirmen – brutal gegen die friedlichen Protestierenden vor. 300 Verletzte und über 400 Festnahmen später hat das Kapital gewonnen. Die Pipeline ist ein paar Monate später fertiggestellt. Ab 14. Mai 2017 fliesst das erste Öl.

14. Dezember 2018

Die Schweizer Schüler*innen haben genug. Es ist bewölkt und kalt an diesem Freitag in Zürich. Trotzdem versammeln sich 500 Junge vor dem Stadthaus und fordern lauthals den Klimanotstand. Nur drei Tage zuvor ist auch in der gemächlichen Schweiz das Fass übergelaufen. Alles, was der Nationalrat in zwölf Stunden Debatte erreichte, war ein Scherbenhaufen. Eigentlich sollte die Totalrevision des CO2-Gesetzes ein entscheidender Schritt sein, endlich den Abmachungen von Paris Taten folgen zu lassen. Und auch wenn es angesichts der Dringlichkeit eher einer Pflasterpolitik glich, wären doch strengere Anforderungen bei Fahrzeugen, Erhöhung der Treibstoffpreise oder eine Steuer auf Flugtickets ein Zeichen gewesen. Ein Zeichen an die Bevölkerung, dass man etwas versucht. Aber am Ende wurde daraus nichts. Selbst die harmlosesten Forderungen wurden durch das rechtsbürgerliche Parlament sukzessive gestrichen oder verwässert. So blieb keine andere Wahl, als die ganze Geschichte bachab zu schicken. Und damit die Wut der Jugend zu wecken. Lautstark ziehen sie durch die engen Gassen mit ihren heute typischen selbstgemalten Kartonschildern. Ein einsames Banner wird von vier Frauen und einem Mann getragen. Sie marschieren durch die Altstadt voraus, der Rest zieht mit. Sie bringen die Schilder, sie bringen die Parolen, sie bringen die Energie. «We will go to school – if you keep the climate cool!» Nach zwei Stunden erreichen sie die ETH, diese Hochburg der Klimaforschung. Jährlich pumpt der Staat Milliarden in diese ehrwürdigen Gebäude, um die Forschung dann einfach zu ignorieren. Was für ein Spiel wird hier gespielt?

20. Februar 2019

Endlich ein Zeichen. Seit Monaten fordern die Jungen den Klimanotstand. Seit Wochen nimmt man sie nicht ernst. Was in anderen Städten wie London oder Vancouver bereits Realität ist, dauert in der Schweiz. Doch der Kanton Basel-Stadt legt vor. Können wir den Verheissungen Glauben schenken? Wird sich jetzt etwas ändern? Das Basler Parlament beschliesst, die Eindämmung des Klimawandels prioritär zu behandeln. Jetzt heisst es abwarten. Eine Woche später folgt Liestal. Am 19. März zieht der Kanton Waadt nach. Delémont am 28. März. Einen Tag später auch Olten. Die Bewegung rollt. Die Bewegung rollt. Die Bewegung rollt …