Gassenarbeit Text: rom & xrg | Bild: daf

«Wir halten uns an die Regeln der Leute auf der Gasse»

Seit 31 Jahren bietet die kirchliche Gassenarbeit Bern Begleitung für Menschen an, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Gasse haben. Das m* hat mit Nora und Eva gesprochen, die für den Verein als Gassenarbeiterinnen arbeiten.

Ihr arbeitet bei der kirchlichen Gassenarbeit in Bern. Was heisst das genau?

Eva: Zweimal in der Woche ist unser Büro offen, am Dienstag nur für Frauen. Es gibt ein Zvieri, es hat Kleider, Essen und Hundefutter zum Mitnehmen, Computer und Telefon dürfen gebraucht werden und wir bieten Beratungen an. Daneben gehen wir im Schnitt drei- bis viermal in der Woche zu unterschiedlichen Zeiten auf die Gasse. Wir sind nicht uniformiert. Aber wir sind bekannt und kommen draussen schnell mit den Leuten in Kontakt.

Unsere Zielgruppe ist sehr breit. Dadurch unterscheiden wir uns auch von anderen Institutionen im Raum Bern Die meisten anderen Institutionen definieren sich über eine Problematik. Es gibt eine Anlaufstelle für Drogenabhängige oder das Alkstübli für Alkoholkonsument*innen. Wir hingegen definieren uns über den Lebensraum der Leute, die wir unterstützten. Und in diese Zielgruppe fallen ganz unterschiedliche Leute mit sehr verschiedenen Lebensrealitäten.

Wir versuchen möglichst niederschwellig zu sein. Bei uns gibt es keine Eingangskontrolle, niemand muss einen Namen nennen und etwas über sich erzählen. Es wird niemand registriert. Alles basiert auf Freiwilligkeit. Wir kennen die Leute sehr gut, und sie vertrauen uns. Das ist zentral für unsere Arbeit.

Das also im Unterschied zum Beispiel zu Pinto, die Akten anlegen?

Eva: Alle Institutionen im sozialen Bereich führen Akten, da sind wir schon die Exot*innen. Das ist nur möglich, weil wir ein kleines Team sind. Wir sind nur drei Mitarbeitende und können uns schnell über einen Fall austauschen. Der grundsätzliche Unterschied zu Pinto ist aber der Auftrag und die Arbeitshaltungen. Sie haben einen ordnungspolitischen Auftrag, wir arbeiten anwaltschaftlich und parteiisch. Wenn wir unterwegs sind, sind wir zu Besuch bei den Leuten von der Gasse und wir halten uns an ihre Regeln.

Gibt es auch Leute, die ihr nicht erreicht, die nichts mit euch zu tun haben wollen? Oder Orte, von denen ihr ausgeschlossen seid?

Eva: Es ist nicht sehr angenehm sich als Frau und alleine im öffentlichen Raum aufzuhalten. Wenn eine Frau draussen unterwegs ist, versucht sie möglichst nicht aufzufallen oder hält sich an anderen Orten auf. Ich habe das Gefühl, dass wir deshalb viele Frauen nicht erreichen. Mit unserem frauenspezifischen Angebot wirken wir dem etwas entgegen. Die andere Gruppe, die wir vermutlich nicht gut erreichen, sind minderjährige Drogenkonsument*innen. Die existieren in der öffentlichen Wahrnehmung eigentlich gar nicht. In die Drogenanlaufstelle dürfen Menschen erst ab 18 Jahren hinein. Sie verstecken sich, weil sonst rasch eine Gefährdungsmeldung kommt und sie in die psychiatrische Klinik oder den Entzug kommen. Sie halten sich beispielsweise in Privatwohnungen auf. So erreichen wir sie nicht.

Gibt es spezifische Probleme für Frauen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Gasse haben?

Eva: Hygiene ist ein grosses Problem, über das nicht viel gesprochen wird. In der Notschlafstelle gibt es zum Beispiel nur ein Badezimmer. Ich würde mich dort nicht wohl fühlen und waschen, wenn 20 Männer in der Notschlafstelle sind. Viele Frauen suchen andere Möglichkeiten und übernachten gegen Leistungen, die nicht immer auf Freiwilligkeit basieren, bei Leuten zuhause.

Nora: Eine Frau bekommt manchmal auch eine Vergünstigung beim Drogenkauf, wenn sie kurz das T-Shirt hochhebt und ihre Brüste zeigt oder noch weiter geht. Sexualisierte Gewalt ist also sehr präsent. So wie überall in unserer Gesellschaft – nur noch etwas schlimmer.

Eva: Wenn eine drogenabhängige Frau ihren Drogenkonsum über Sexarbeit finanziert und dabei vergewaltigt wird, ist es auch schwierig bei der Polizei eine Anzeige einzureichen. Ihr könnt euch vorstellen, was die Reaktionen sind: «Du bist ja Sexarbeiterin, du wolltest ja deinen Schuss». Eine solche doppelte Stigmatisierung ist schon sehr schwierig.

Gibt es Möglichkeiten, gegen solche Stigmatisierungen vorzugehen?

Nora: Eigentlich ist das ein Kulturfrage. Ich weiss nicht, ob wir etwas daran ändern müssen, dass Menschen weniger stigmatisiert werden. Wir sollten etwas ändern, damit Menschen gar nicht in Armut leben müssen. Du kannst lange sagen, wir diskriminieren diese Menschen nicht. Die Umstände, dass Menschen in Armut leben müssen, sind problematisch.

Eva: Ja stimmt. Gleichzeitig wünsche ich mir schon eine Gesellschaft, die auch mal auf eine Bettlerin zugeht und fragt, wer sie ist und wie es ihr geht. Heute darfst du als Bettlerin in Bern die Leute nicht einmal mehr ansprechen, sondern nur noch den Hut hinlegen und schweigen. Ich fände es ungemein schön, wenn Passant*innen von sich aus mit den Menschen auf der Gasse sprechen wollten. Aber da sind wir in unserer Gesellschaft weit davon entfernt.

Ihr habt auf Facebook geschrieben, dass die Gestaltung des öffentlichen Raum problematisch ist. Was meint ihr damit?

Eva: Es gibt bauliche Massnahmen, die dazu führen, dass sich Menschen an gewissen Orten nicht aufhalten können. Es sind kleine Eingriffe, welche die normalen Bürger*innen gar nicht bemerken. Zum Beispiel hat es auf dem Fenstersims vor der Ryfflihofapotheke Metallspitzen, damit niemand hinsitzen kann. Es gibt auch den politischen Verdrängungsmechanismus. Vor ein paar Monaten wurde mit dem neuen Polizeigesetz der Wegweisungsartikel nochmals verschärft. Für unser Leute ist es ein grosses Problem, wenn sie ohne Begründung und ohne aufschiebende Wirkung bei einem Einspruch 48 Stunden von einem Ort weggewiesen werden. Die Verdrängung betrifft nicht nur unsere Klient*innen sondern auch Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund und andere Gruppen, die als störend betrachtet werden. Dazu kommt, dass wir uns heutzutage nirgends ohne Konsumzwang aufhalten können. Im Sommer werden alle öffentliche Räume durch Pop-Up-Bars bespielt. Wenn du kein Geld hast, kannst du an all diesen Dingen nicht teilhaben. Das ist ein totaler Ausschluss von der Gesellschaft.

Die Stadt sagt immer, es gebe Nutzungskonflikte. Heute werden bei solchen Konflikten diejenigen mit Geld und wirtschaftlichen Interessen bevorzugt. Im öffentlichen Raum sollten sich alle aufhalten können, egal welches Alter, welche Herkunft sie haben und welches Portemonnaie sie dabeihaben. Ich wünsche mir, dass ein Raum geschaffen wird, wo alle mitreden können. Die Stadt hätte zum Beispiel die Leute fragen können, welche Art von Bänken sie wollen und wo die Bänke hingestellt werden sollen. Es gibt viele Ideen. Der öffentliche Raum könnte ganz anders gestaltet werden, wenn die Leute eine Möglichkeit zur Mitgestaltung bekommen würden.

Die Gassenarbeit unterstützen

Der Verein ist auf Spenden angewiesen:

Kirchliche Gassenarbeit Bern, Speichergasse 8, 3011 Bern, PC 30-30602-2 (Vermerk Verein)

Ausserdem werden auch Sachspenden, vor allem Männerkleider und Winterschuhe in gutem Zustand Socken, Unterwäsche, Schlafsäcke, und Hygieneprodukte gerne entgegengenommen. Meldet euch unter mail@gassenarbeit-bern.ch!

Sachspenden werden während den Büroöffnungszeiten am Donnerstag jeweils von 14.00 bis 16.00 entgegengenommen. Bei grösseren Mengen bitte vorher anrufen (Tel.: 031 312 38 68). Menstruationsprodukte können auch im Restaurant Sous le pont abgegeben oder in den Briefkasten geworfen werden.