Gassenarbeit Text: rom & xrg | Bild: daf

Uf dr Gass

Ausschnitte aus einem Gespräch mit fünf Frauen über ihr Leben auf der Strasse. Eine Textcollage, die Einblicke bieten soll in Realitäten von Frauen, die von Armut betroffen sind und/oder ohne Obdach leben.

Angekommen zum Interviewtermin, Speichergasse, Kirchliche Gassenarbeit, Dienstagnachmittag – Dienstags ist das Büro nur für Frauen geöffnet. Geplant ist ein Interview mit den Mitarbeitenden, trotzdem die Hoffnung, auch mit den Menschen, die das Angebot der Gassenarbeit nutzen, sprechen zu können. Zuerst entscheidet sich eine der anwesenden Frauen dazu, mit uns zu sprechen, andere kommen hinzu, es entsteht ein Gespräch mit – besser gesagt unter – fünf Frauen. Fünf Frauen unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichen Geschichten. Eine obdachlos, die anderen mit Wohnung oder Wagen. Das Gespräch bietet Einblicke in andere Realitäten, stellt Forderungen, sucht Parallelen untereinander und findet sie auch. Eine Stunde sitzen wir vom m* da und hören zu. Diese Textcollage soll Einblicke in das Gespräch anbieten, ohne dabei den Anspruch zu haben, all dem Gesagten gerecht werden zu können. Die Namen sind alle geändert.

 

Zwischen «Nost» und ASBO

Susanna: Am Morgen muss alles genau nach Zeit gehen, weil die Nost (Notschlafstelle in Thun, d. Red) so funktioniert. Zu einer bestimmten Zeit macht die Küche zu, später ist das Zimmer zu, dann muss man draussen sein und das muss genau aufgehen mit der ASBO (Ambulante Suchtbehandlung Berner Oberland, d. Red), weil die macht dann erst auf und manchmal, wenn das alles nicht genau nach Minuten läuft, habe ich meine Gitarre nicht oder meine sieben Tüten, für die ich mittlerweile schon ein bisschen bekannt bin.

Und dort bin ich immer noch – in dieser Scheiss-ASBO. Das sag ich so, ich bin aber schon ziemlich froh, dass es sie gibt. Ich bin da reingerutscht, war damals eigentlich mehr auf «Coci». Dann hat Tomy, der das verkauft hat, «Coci mit Sugar» herausgegeben. Seither bin ich immer noch «druff» – So bin ich dann auch in die Abgabe gekommen.

[…]

Schön finde ich, dass ich das Ganze nicht als Problem ansehe. Es ist alles anders gekommen als gedacht und das tut ein bisschen weh. Aber damit kann man leben.

Amelie: Das ist halt eine Herausforderung. Und ich denke in deinem Alter, weisst du …

Susanna: Ja genau, mein Alter. Ich vergesse immer, dass ich so alt bin. (lacht)

 

Das Geschlechterverhältnis «uf dr Gass»

Leonie: Es gibt weniger obdachlose Frauen als Männer, das ist mir aufgefallen.

Amelie: Das ist mir auch schon aufgefallen.

Susanna: Weil Frauen eben besser irgendwie Unterschlupf finden können.

Selena: Die werden schnell mal noch irgendwie mitgenommen. Vor zweieinhalb Jahren habe ich auch noch «couchgesurft» für ein Jahr.

Leonie: Ich glaube aber auch, es kommt immer darauf an, wie alt man ist. Wenn du jung bist, hast du mehr Möglichkeiten. Ab einem gewissen Alter…

 

Notschlafstellen

Amelie: Ich bin schon froh, dass es in Thun wenigstens eine Notschlafstelle gibt, die ein Frauenzimmer hat. Wenigstens das…

Leonie: Das haben sie im «Sleeper» (private Notschlafstelle in Bern, d. Red) auch.

Amelie: Dass man nicht mit den Männern im gleichen Raum schlafen muss … Es gibt da wirklich Gestalten.

Eva (Kirchliche Gassenarbeit Bern): Aber es hat nur ein Bad oder?

Leonie: Ja. Und nur ein WC für zwanzig Menschen.

 

Ein «Sleeper» nur für Frauen

Leonie: Schön wäre es, wenn man einen «Sleeper» machen würde nur für Frauen.

Amelie: Ja, das fehlt wirklich.

Leonie: Ich stelle mir das folgendermassen vor: Oben schlafen sie und am Morgen müssen sie raus. Unten hätten sie einen Raum, in dem sie sein können. Aber es gibt kein Geld für sowas …

 

Ein Ort zum Menschsein

Leonie: Ich finde es einfach echt traurig, dass es hier in der Stadt Bern keine Möglichkeit gibt – egal ob jemand jetzt drogenabhängig ist oder nicht, jung oder alt oder wasauchimmer, mit oder ohne Hund – dass es irgendwie ein Haus geben würde, wo die Menschen hingehen könnten. Die ganze Woche.

Amelie: Aber was passiert denn? Erst vor kurzem in Zollikofen. Die hätten die doch drin lassen können. Das Haus steht leer und bleibt leer. Das finde ich so schade. Dass die Stadt den Menschen das Haus nicht gibt, wenn sie friedlich sind. Wenn’s Prügel gibt, dann begreife ich es (die Räumung, d. Red) aber solange es ruhig ist …

Selena: Das wäre ja schon nicht schlecht. Ein Haus mit so vielen Zimmern könnte man ja zur Verfügung stellen.

Amelie: So ein Haus wird immer wieder verlangt und immer wieder wird es abgeblockt. Also da begreife ich die Politiker nicht.

Eva (KGB): Übernachten ist das eine, das andere ist, dass man einen Ort zum Sein hätte im Warmen.

Amelie: Aber die (Politiker, d. Red) haben Angst vor dem Dreck, sie haben Angst vor dem Lärm, sie haben Angst um die Anwohner.

Monika: Sie haben Angst vor dem Menschsein.

Leonie: Auch die Menschen, die du vorher gekannt hast, als du noch funktioniert hast, als du noch voll in deinem Leben standst. Plötzlich bist du obdachlos, du bist dreckig, du bist nicht schlechter aber es ist einfach passiert. Diese Menschen sind dann plötzlich nicht mehr da. Die nehmen dich nicht eine Nacht auf. Die würden dich nicht mal bei sich duschen lassen oder einen Kaffee auf die Platte stellen für dich.

 

Bürokratischer Hürdenlauf wegen einer Adresse

Amelie (an Selena): Also, hast du jetzt eine Adresse bei deinem Bauwagen?

Selena: Nein. Ich gebe immer meine alte Adresse an. Aber von dort wird das Zeugs dann zurückgeschickt. Ich hätte irgendwann mal den Niederlassungsschein holen sollen. Jetzt bin ich nirgendwo mehr angemeldet. Sie haben mich letzthin angerufen, die KaPo, ich solle mich irgendwo anmelden.

Amelie: Aber wie willst du dich denn anmelden, wenn du nichts hast?

Selena: Ich habe sie gefragt, was ich denn machen solle. Ich habe keinen fixen Wohnplatz. Dann haben sie geantwortet, ich solle ihnen einfach die Adresse geben von da, wo ich jetzt gerade sei. Ich habe damals bei einer Freundin geschlafen für zwei Nächte, habe deshalb geantwortet, dass das nicht ginge, weil ich ja nicht da wohne.

Amelie: Das nächste Mal fragst du sie, ob du Brückenpfeiler 5 angeben könnest. (lachen)

Selena: Oder die fünfte Buche rechts. (lachen)

 

Grundbedarf bei der Sozialhilfe

Monika: Man kriegt nicht den Grundbedarf, der in den Zeitungen dargestellt wird, vom Sozialamt. […] Es heisst dann: «Ihr Sohn ist jetzt achtzehn, der muss keinen Schulabschluss machen. Sie kriegen den Grundbedarf gekürzt und wenn Ihr Sohn noch bei Ihnen wohnt, dann kann er arbeiten gehen.» Und so geht das immer weiter. Jetzt ist mein Sohn ausgezogen und man hat mir wieder das Geld gekürzt um zwanzig Prozent, weil es heisst: «Sie müssen noch Schulden abzahlen». Das ist so, als wäre ich Venezuela oder Kuba oder sonst ein armes Land. Obwohl ich Ressourcen habe – bei mir wären es in minimaler Form die geistigen – werde ich deklassifiziert, werde unter dieser roten Linie des Existenzminimums gehalten. Betteln kann ich nicht, […] Drogen kann ich auch nicht verkaufen, weil mir das Talent fehlt … (lachen) Was bleibt mir noch übrig? Ich soll mit fünfzehn Franken am Tag überleben und ich muss trotzdem meine Wohnung halten können, denn der Weg zur Obdachlosigkeit ist nicht weit.