Twerking Text: daf | Bild: Celine Künzle

«Ich möchte zu jener Frau werden, die ich damals gebraucht hätte.»

Yanil Altagracia ist Tänzerin und Begründerin der Twerking-Bewegung in der Schweiz. Die Bernerin trotzt der ständigen Konfrontation mit Vorurteilen und Anfeindungen gegen ihre Kunst und erzählt dem
Megafon, wie sie durch Twerking zu feministischer Stärke und Selbstbestimmtheit fand.

Im Alter von sechs Jahren zog Yanil, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern von der Dominikanischen Republik in die Schweiz um. Nur weil Yanils Mutter ihr versprach, dass sie in der Schweiz werde tanzen dürfen, stimmte die kleine Yanil dem Umzug zu. Ballett war damals ihr grosser Traum. In der Schweiz angekommen, sah sich die Familie dazu gezwungen, sich ständig anzupassen. Es galt die Devise, möglichst nicht aufzufallen. «Ich vermisste das Leben in der Dominikanischen Republik. Wir waren sehr arm. Dort hat sich die ganze Familie um uns Kinder gekümmert; Grossvater, Onkel, Tanten – alle waren für uns da.» Während ihrer Lehre als Köchin erreichte Yanil einen persönlichen Tiefpunkt. Mit den Folgen von sexuellen Übergriffen, denen Yanil in ihrem Arbeitskontext ausgesetzt war, stand sie allein da. Von ihrem Umfeld kam keine Unterstützung. «Zu dieser Zeit habe ich mir geschworen, dass ich, wenn ich diesen Scheiss überlebe, eines Tages die Frau sein werde, die ich gebraucht hätte.» Nach der Lehre arbeitete die Sous-Chefin unglücklich weiter, obwohl das Kochen Yanil eigentlich nach wie vor viel Freude bereitete. Auch den Glauben an ihre Tanzkarriere hatte sie verloren. Mit 27 Jahren sei man dafür zu alt, dachte sie. Diese Ansicht änderte sich für Yanil abrupt, als sie eines Tages das Video einer russischen Tänzerin sah; eine Choreografie mit den Twerking-Basics. «Die Bewegungen und die Körperbeherrschung dieser Frau, haben mich so fasziniert. Ich beschloss, auch so tanzen zu lernen.» Yanil trainierte von da an täglich – manchmal bis zu vier Stunden. Zu dieser Zeit im Jahr 2016 gab es noch keine Twerklehrer*innen in der Schweiz. Yanil besuchte Workshops in ganz Europa. Doch ihr Umfeld sah dies nicht nur positiv – Yanil wurde immer wieder mit Kritik konfrontiert. Ihr Tanz sei billig und es gehöre sich nicht, sich so zu bewegen. Diese Vorwürfe, die mehrheitlich von Frauen kamen, hinderten Yanil allerdings nicht weiter zu tanzen. Die Twerking-Community wurde für Yanil immer wichtiger. «In der Twerking-Szene zählt weder die Hautfarbe, noch das Geschlecht. Hauptsache, du hast einen Hintern, dann bist du frei ihn zu bewegen.» Ihr hartes Training zahlte sich aus – 2018 tanzte sich Yanil sogar auf den ersten Platz der European-Twerk-Championships in Madrid.

Fehlende schriftliche Überlieferung

Was ist Twerking genau? Die Internetrecherche stellte sich als nicht sehr ergiebig heraus. Twerking entwickelte sich nämlich ausserhalb von Institutionen wie Tanzakademien. Die Tanzform hat ihren Ursprung in einem traditionellen Tanz aus der Elfenbeinküste namens «Mapouka». Mapouka wird vorwiegend von Frauen und zu traditioneller Musik der Elfenbeinkünste getanzt. Twerking ist technisch zwar ähnlich wie Mapouka, doch es kann zu unterschiedlichen Musikstilen getwerkt werden. Durch die Versklavung von Menschen aus der Elfenbeinküste wurde der Tanz Mapouka und die damit verbundene Kultur über Süd- nach Nordamerika gebracht und wurde so auch in den USA populär. Der Tanz beeinflusste dort viele populäre Tanz- und Musikstile wie den Perreo aus Puerto Rico, Reggeaton aus Kuba, Pregafunk aus Brasilien, Bouncing und Hip Hop aus den USA. Für Yanil war es schwierig, an Informationen zu gelangen, da wenig schriftlich überliefert ist. Das Wissen wird in der Twerking-Community mündlich weitergegeben. Diese fehlende Geschichtsschreibung ist auch ein Grund dafür, wieso Twerking oft nicht als Kunstform Wertschätzung und Anerkennung erfährt. So ist auch unsere Wahrnehmung im globalen Norden verzerrt. Durch die koloniale und rassistische Struktur unserer Gesellschaft erfährt Twerking eine Entwertung.
Was der westliche Mainstream unter Twerking versteht, wurde durch die weisse Sängerin Miley Cyrus an den MTV Music Awards 2013 geprägt, als sie zum Song «We Can’t Stop» die typischen Bewegungen des Twerking imitierte. Diese Performance sorgte für einen Skandal. Ihre Tanzeinlage wurde kommentiert und als obszön, lasziv, oder sexuell provokant verurteilt. So hielt der Begriff auch Eingang in die Alltagssprache und wurde noch im selben Jahr im Oxford Dictionary aufgenommen: «Dance to popular music in a sexually provocative manner involving thrusting hip movements and a low, squatting stance.» Der tänzerische Ausdruck einer Frau wird somit auch rein sprachlich sexualisiert. Wieso wird Twerking sexualisiert und was hat dies mit Rassismen zu tun?

Du hast es im Blut

Als Yanil sich für ein Projekt im öffentlichen Raum beim Tanzen filmte, machte sie eine Polizistin nach einigen Minuten darauf aufmerksam, dass es unangebracht sei, so zu tanzen. «Ich fragte die Polizistin, in welcher Hinsicht ich hier gegen das Gesetz verstösse. Die Polizistin wusste keine Antwort auf die Frage. Leider wurde ich auch schon von sogenannten Feminist*innen angegangen, die mir unterstellten, dass mein Tanz sexistisch sei. Ich finde dies sehr schade, da es doch darum gehen sollte, dass wir uns als Frauen gegenseitig unterstützen, egal wie du tanzt oder wie du dich anziehst.» Gerade deswegen beschäftigte sich die Tänzerin seit Jahren mit Feminismus und entwickelte eine eigene Haltung, die sie auch in ihren Stunden an die Schüler*innen vermittelt. «Für mich soll Feminismus dafür einstehen, dass alle sich entwickeln und ausdrücken dürfen, wie sie möchten. Und zwar, ohne dabei auf eine Rolle reduziert zu werden. Dass wir als Frauen genau so viel Freiheit in unseren Körpern besitzen dürfen, wie sie sich bereits  die Männer* genommen haben, finde ich wichtig. Allen Körpern muss das Recht zugestanden werden, dass sie sich frei bewegen und selbstbestimmt aussehen können.» Yanil ist es wichtig, viel über Twerking zu sprechen und Menschen davon zu erzählen, denn nur durch den Dialog kann diese Tanzform verstanden und schliesslich auch akzeptiert werden.
Es ist nicht bloss ihr Frausein, auch ihre Identität als Domenikanerin und Latina werden im Kontext des Twerking stereotypisiert. «Du hast das im Blut› – falsch. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und musste hart trainieren und habe mir alles autodidaktisch angeeignet. Mein Können hat weder mit meiner Herkunft noch Hautfarbe zu tun und schon gar nicht mit meinem Blut.» Dass ihre Leistung aufgrund ihrer Herkunft abgewertet wird, nervt Yanil. Dass Twerking durch westliche Gesellschaften kommerzialisiert und kulturell angeeignet wird, beschäftigt sie ebenfalls. Zu sagen, woher Twerking ursprünglich stammt und dass dieser Tanzstil eine koloniale Geschichte hat, ist für Yanil das Minimum, was sie als Lehrerin aufbringen muss, um der Twerking Kultur an Respekt zu zollen. «Jeder Tanz hat seine Geschichte und es ist wichtig, diese zu erzählen.» Yanil findet es problematisch, wenn Menschen ohne Wissen über die Kultur und mit fragwürdiger Technik Twerking unterrichten. «Es geht darum, die Essenz des Twerking weiterzugeben und Menschen damit zu empowern».

Sexistisch tanzen?

Twerking ist nicht sexistisch. «Wenn ich tanze, will ich meine weiblichen Gefühle, meine Power und meinen Sexappeal ausdrücken. Für mich ist Erotik und Sex nicht dasselbe.» Das Verhältnis zwischen unseren Körpern und unserer Sexualität ist oft distanziert. Twerking könnte hier eine Brücke bauen und somit einen Beitrag leisten, diese Trennung aufzuheben. Yanils Schüler*innen lernen, sich während dem Tanzen sinnlich zu berühren. Ihr Ziel als Lehrerin ist es, Bewegungen zu enttabuisieren und den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, sich schamlos und guten Gewissens frei bewegen zu dürfen. Das ist nicht immer einfach. «Viele Twerk-Anfängerinnen haben so viel Mist erlebt und schämen sich. Sie haben diese Abwertungen verinnerlicht und geben sie unbewusst auch weiter.» Für Yanil ist Twerking Empowerment. Twerking ist feministisch.
«Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft mehr ‹Mensch› sind. Dass wir lernen, individuell und selbstbestimmt zu sein. Wir alle sind einzigartig geboren, um einzigartig zu leben. Toleranz, Akzeptanz und Empathie sind für mich Grundvoraussetzungen des Menschseins. Wenn ich durch das Tanzen Frauen eine Möglichkeit geben kann, sich besser kennenzulernen und eine tiefere Beziehung zu ihren Körpern und ihrem Selbstwert aufzubauen, macht mich das unglaublich glücklich.»