Überbauungen Text: mara | Bild: aja

Ungleichheit hinter der Fassade

Im Jahr 2014 wurde in der Stadt Bern die «Wohn-Initiative» angenommen. Trotzdem wird Wohnraum immer teurer. Eine Spurensuche in und um Bern.

Nach der Annahme der Wohn-Initiative von 2014 in der Stadt Bern bleibt es ein langer Weg bis zu ihrer Realisierung. 2018 veröffentlichte die Präsidialdirektion eine Medienmitteilung, in der sie mitteilt, dass bereits Teile der Forderungen umgesetzt würden. 2019 meldet die Präsidialdirektion, die Anpassungen und Erweiterungen der städtischen Bauordnung seien 2020 in Kraft getreten. Das Initiativ-Komitee bestand unter anderem aus Mitgliedern der politisch linken Seite (SP, GB) sowie dem regionalen und kantonalen Mieter*innenverband Bern.
Die Wohn-Initiative von 2014 verlangt unter anderem, dass bei «Um- oder Neueinzonungen von Wohnzonen mindestens ein Drittel der Wohnnutzung mit preisgünstigen Wohnungen bebaut oder an gemeinnützige Wohnbautragende abgegeben wird». Somit sind zum Beispiel bestehende Wohnblöcke von dieser «Drittelregel» ausgenommen.
Die Initiative besagt des Weiteren, dass bei Neu- oder Umbau das Nutzungsmass um 20 Prozent steigen soll. Dieser Anteil soll «preisgünstig» oder durch eine gemeinnützige Trägerschaft erstellt werden. Preisgünstig zu bauen ist ein wichtiger Ansatz – es stellt sich die Frage, wie das Wort «preisgünstig» interpretiert wird. Generell dominiert unsere gewinnorientierte Wirtschaftsform auch den Wohnungsmarkt. «Preisgünstige» Wohnungen zu finden, ist oft unmöglich, und so werden Menschen mit tieferen Einkommen abgehängt. Bei Teuerungen des eigenen Wohnraumes haben manche Menschen keine Chance, auf günstigere Optionen auszuweichen, weil es schlicht keine mehr gibt.
Was heisst das konkret für Siedlungen in und um Bern? Viele Überbauungen zeigen dieselben, gewinnorientierten Muster, die nicht viel mit den Ansätzen der «Wohn-Initiative» zu tun haben. Überbauungen und Sanierungen sind nicht an die «Drittelregel» gekoppelt. Sie müssen höchstens die Anforderung erfüllen, die neu entstehenden 20% des Wohnraumes «preisgünstig» zu halten. Typisch für diese Problematik sind die Überbauungen Hühnerbühl in Bolligen, Thomasweg im Liebefeld und Kasparstrasse 15 in Bern-Bethlehem. Dort scheinen Wörter wie «preisgünstig» viel Interpretationsspielraum zu bieten. Die Überbauungen sind teils von der Initiative ganz ausgenommen.

Massenkündigung und Info-Kafi

Die Kasparstrasse 15 in Bethlehem wird von 2022 bis 2024 komplett saniert. Bis zum Baustart im Herbst 2022 werden die 165 Wohnungen, wie die «Berner Zeitung» berichtet hat, geräumt. Die Verwaltung betont zwar, dass ehemalige Mieter*innen bevorzugt werden, falls sie zum Zeitpunkt der Fertigstellung zurück an die Kasparstrasse 15 ziehen möchten. Lässt sich aber für die rund 500 Menschen eine passende Zwischenlösung für bloss ein Jahr finden, die zudem preislich im selben Rahmen liegt wie ihre jetzige Wohnung?
Es gibt einen Silberstreifen am Horizont: Die Besitzerin der Siedlung, eine Baugenossenschaft, steht gemäss eigenen Aussagen für Mieten unter dem Marktpreis und für «spekulationsfreien Wohnungsbau» ein. Sobald Konkreteres über die Preise bekannt sei, werden diese im «Kafi Kaspar» veröffentlicht. In diesem Kaffee werden stets die neusten Informationen rund um die Sanierung kommuniziert. Es lässt sich also seitens der Baugenossenschaft immerhin die Bemühung erkennen, die Mieter*innen über den Verlauf des Bauprojekts zu informieren. Das ist eine Seltenheit: viele Umbauprojekte werben bloss in der Öffentlichkeit mit Transparenz – hinter die Fassade blicken lässt man sich aber doch nicht. Entweder bleibt die Transparenz komplett aus, oder die wesentlichen Informationen – beispielsweise bezüglich der neuen Preise – werden absichtlich verschleiert.

Fingierte Transparenz und Baukosten

In Bolligen wird die Siedlung Hühnerbühl etappenweise überbaut. Die Mieter*innen haben die Möglichkeit, während der Sanierung der «eigenen» Wohnung die Hausnummer zu wechseln und eine andere Wohnung des Hühnerbühls zu beziehen. Gemäss «BZ» und «Bern-Ost» wurde die Siedlung seit 22 Jahren nicht mehr renoviert. Nun soll die Siedlung nicht bloss erdbebensicher, sondern auch teilweise aufgestockt und an ein nachhaltiges Wärmenetz angeschlossen werden.
Natürlich ist es nötig, endlich an nachhaltigere Wohnformen zu denken. Doch die Wohnungen werden teurer und Menschen, die vorher diese Siedlung bewohnt haben, bleiben auf der Strecke. In Bolligen gibt es keine Regelung, die der Wohn-Initiative gleichen würde. Die Mieter*innenschaft muss sich selbst helfen und meldet sich mit einem offenen Brief zu Wort. Die Antworten des Eigentümers (einem Anlagefonds der UBS) blieben spärlich: Fragen zu allfälligen Mietpreiserhöhungen können anscheinend nicht beantwortet werden, da die Baukosten variieren würden. Für die Mieter*innen bleibt unklar, was ihnen nach der Sanierung blüht.
Doch weshalb kann an der Kasparstrasse offen kommuniziert werden, dass die Wohnungen bezahlbar bleiben? Die Kosten für Sanierungen oder für generellen Umbau werden oft durch die Einnahmen der Mieten bezahlt. So werden Ziele gesetzt, in welcher Zeit die Kosten gedeckt sein sollen. In einem gewinnorientierten System soll dies eine kurze Zeit sein. So werden möglichst früh wieder schwarze Zahlen geschrieben. Fakt ist jedoch, dass die Wohnungen auch zu tieferen Preisen vermietet werden können, die Ausgaben werden so oder so wieder eingenommen, es dauert bloss etwas länger. Auf die lange Frist werden Mieter*innen mit kleinerem Budget durch diese Variante weniger ausgeschlossen.

Eichenparkett und strukturelle Diskriminierung

Auch in Köniz wurde im Jahr 2016 eine ähnliche Regelung angenommen wie in Bern 2014. Doch wieder stolpern wir über den altbekannten Begriff «preisgünstiges Wohnen»: Was bedeutet das konkret für das Beispiel Thomasweg?
Für die Siedlung im Liebefeld wirbt eine aufwändig gestaltete Website namens «Flo&Fleur» mit Eichenparkett- und Anhydritboden (luxuriöse Böden aus Holz und Stein, über 100 Franken pro Quadratmeter). Die Mieten für eine 1.5 Zimmer Wohnung beginnen bei rund 1’300 Franken, typische 3.5-Zimmer-Studi-Wohnungen starten bei etwa 1’700 Franken, bald befindet man sich aber in Preiskategorien über 2000 Franken.
Die Wohnungen sind gross, hell, modern, nachhaltig – jedoch nicht für Menschen mit tieferem Einkommen konstruiert. Eine Familie aus dem Mittelstand könnte sich mit diesen Preisen abfinden und könnte diese Wohnungen als «preisgünstig» betrachten. Doch das Projekt wirbt mit dem Studenten «Flo» – ob ein real existierender Florian mit seinen Freund*innen eine WG zu diesem Preis beziehen würde, ist hingegen fraglich. Genauso fraglich ist, ob ein allein alleinerziehender Elternteil mit zwei Kindern die Mieten am neuen Thomasweg bezahlen könnte.

Gute Ansätze, fragliche Umsetzung

Wieder zeigt sich dasselbe Muster: Die neue, teurere Siedlung entsteht auf den Fundamenten von günstigem, veraltetem Wohnraum. Menschen, die sich sogenannten modernen, nachhaltigen, urbanen Wohnraum nicht leisten können, werden vergessen und zurückgelassen. Die Reproduktion struktureller sozialer Ungleichheit wird dabei überstrahlt vom mittelständischen, bildungsbürgerlichen, aber auch linksalternativen Hype ums Wohnen als Prestige-Kategorie. Die «Wohn-Initiative» zielt zwar in die richtige Richtung, kann in der Realität aber umgangen werden. So zeigt sich grosse soziale Ungleichheit beim Bau von neuem Wohnraum: Hinter der Fassade kann eben nicht jede*r wohnen, sondern nur, wer das nötige Kleingeld hat.