Vorplatz Text: daf & Maurin Baumann | Bild: daf

Gewalt wird nie alt

Vielleicht sind der Vorplatz und die Schützenmatte die letzten Freiräume in Bern. Dies ist keine neue Geschichte, wie auch die Gewalt dort nichts Neues ist. Doch ist nach fast zwei Jahren Pandemie wirklich alles unverändert? Ein Rundgang.

Der Vorplatz ist laut, dreckig und dicht gedrängt mit jungen Menschen. Einige trinken Vodka aus Plastikbechern, andere tanzen zu Gabber aus Kofferboxen. Sie rauchen Zigaretten, schlängeln sich durch die Menge, sind laut, haben Spass. Der Geruch von Dosenbier, Gras und Urin hängt in der Luft. Ein Blick Richtung Eisenbahnbrücke – «Techno hilft».
Kurz nach 23 Uhr ertönt eine Sirene. Eine Stimme erklingt auf dem Vorplatz der Berner Reitschule. Einige unterbrechen ihre Gespräche und schauen um sich. Eine Stimme ertönt aus den aufgestellten Lautsprechern: «Watch out», heisst es in verschiedenen Sprachen. Die Besucher*innen werden dazu aufgefordert, Verantwortung für den Platz zu übernehmen.
Viele scheinen davon wenig beeindruckt. Zwei Mal pro Stunde ertönt die Sirene. Die Durchsagen verkommen mit der Zeit zu einem Hintergrundgeräusch. Das Treiben geht weiter, die Alkoholpegel steigen und auf dem Pingpong-Tisch – neben tanzenden Körpern – schläft unterdessen jemand.
Plötzlich ist Bewegung in der Masse. Zwei Männer gehen aufeinander los, schlagen sich ihre Fäuste ins Gesicht. Sofort versuchen einige, die Streithähne zu trennen – ohne Erfolg. Menschen, die gerade noch Bier gezapft haben, stürzen sich ins Getümmel. So gelingt es, die Beiden zu trennen. Doch wenig später geraten sie sich auf der Schützenmatte nochmals in die Haare.
Es wird wieder Bier gezapft. Einige haben interveniert, andere beobachtet. Doch ein Teil der Menschenmenge scheint den Konflikt nicht registriert zu haben. Nach einer halben Stunde wird eine Handtasche geklaut. Einige verfolgen den Dieb Richtung Henkerbrünnli. Es wird nicht die letzte Auseinandersetzung gewesen sein. Der pandemische Dornröschenschlaf ist vorbei. Beinahe hätte man vergessen, welche Realitäten auf dem Vorplatz aufeinanderprallen. Doch war das schon immer so?

Ein Platz – viele Perspektiven
Hört man sich vor Ort um, so werden verschiedene Meinungen geäussert. Einige wollen keine veränderte Situation bemerken. «Alles wie gewohnt», heisst es dann. Andere fühlen sich dagegen sehr unwohl. Sie kommen etwa aus dem Inneren der Reitschule und versuchen den Vorplatz möglichst schnell zu überqueren.
Eine Besucherin erzählt von ihrer Jugendzeit in und um die Reitschule. «Früher waren die Konfliktlinien auf dem Vorplatz klar. Es gab die Sprayer von 031, die Polit-Leute und das Partyvolk.» Heute sei die Lage unberechenbarer. Eines ist für sie klar: Gewalt habe es hier immer gegeben – das gehöre dazu.
Drei junge Berner Oberländer stehen auf dem Vorplatz. Sie fühlen sich nicht so wohl. Doch weshalb sind sie dann hier? Sie sagen, was Viele wiederholen werden: Hier sei der einzige Ort in Bern, an dem sie einfach sein können; wo man nichts konsumieren müsse, wo man fürs Kiffen keinen Stress mit den Bullen riskiert.
Und natürlich ist der Vorplatz für sie auch ein Treffpunkt. Zumindest dies dürften sie mit dem Vorplatzbesucher Milad* gemeinsam haben. Dieser sitzt auf der Treppe vor dem Rössli und erzählt von seiner Arbeit in Italien. In der Schweiz fand er keinen Job, weshalb er begann auf dem Vorplatz zu dealen. Die Gewalt sei ein Problem, sagt Milad. Er erzählt von einem angstlösenden Medikament, das leicht zugänglich sei. «Einige missbrauchen die Tabletten, um sich auf dem Vorplatz stark zu fühlen», erklärt Milad. Trotzdem ist er gerne hier, um sich auszutauschen. «Wenn das nicht geht, dann gehe ich», sagt er. Wenig später gerät er in einen Streit. Sein Gegenüber gestikuliert wild, bis die Beiden schliesslich getrennt werden – und Milad geht.

Gewaltpotential in Wellen
Unterhalb des Daumens sticht ein blauer Faden aus der Haut. Der Daumen gehört zu Leo*, Mitte Zwanzig, Reitschüler mit Erfahrung im «Wellness», dem Sicherheitsteam der Reitschule. Bei seiner letzten Schicht wurde Leo auf dem Vorplatz mit einer abgebrochenen Bierflasche angegriffen – darum die Naht. Leo möchte als Einzelperson sprechen. Das Gewaltpotenzial auf dem Vorplatz verändere sich wellenartig, sagt Leo. Derzeit «tätschts» jedoch häufig, sagt er und meint damit nicht nur Schlägereien. «Was früher ein Trickdiebstahl gewesen ist, ist heute eher ein Raubüberfall.» Nicht selten werde dabei ein Messer gezückt oder Pfefferspray eingesetzt. Auch die pandemisch bedingte Schliessung der Reitschule habe die Situation verändert. «2019 konnten wir in etwa abschätzen, wie die Konflikte gelagert sind. Heute fehlt uns der Bezug zu den verschiedenen Gruppen». Deshalb sei es schwieriger präventiv einzugreifen.
Trotz allem will Leo nicht nur eine Eskalation der Gewalt sehen: «Wir haben noch immer einen Ort, an dem sich allerlei Menschen niederschwellig treffen können.» Damit das so bleibe, setze sich das «Wellness» für das Wohlbefinden der Gäste ein. Als Beispiel nennt er die Watch-Out-Kampagne der Reitschule, betont aber auch, wie wichtig es ist, sich laufend zu reflektieren und weiterzuentwickeln.

Die Oase Medina
Der Abend bringt eine Kälte, die die Menschen in die Innenräume treibt. Im Vergleich zum Wochenende, wirkt der Platz an diesem Donnerstag wie leergefegt. Fast: Vor der Eisenbahnbrücke wärmen sich einige Menschen an einem Feuer. Jemand rührt den Eintopf, der in einem grossen Wok köchelt. Medina versteht sich als ein mobiles Gemeinschaftszentrum; als Treffpunkt für Menschen, denen sonst viele Türen verschlossen bleiben. «Medina ist eine Oase», sagt Samir*, der am Feuer steht. «Hier wird einem geholfen.»
Einer, der hilft, ist Fabrizio. Er verteilt Kartonbecher und kocht Tee. Praktisch jede neu ankommende Person grüsst ihn herzlich. Der 31-Jährige engagiert sich seit rund zwei Jahren bei Medina. «Es hat immer Gruppen gegeben, die mit Gewalt den Platz beansprucht haben», sagt er.
Laut ihm können das Jugendliche auf der Suche nach Reibung, aber auch geflüchtete Menschen sein. Auch Fabrizio erwähnt in diesem Zusammenhang enthemmende Drogen. «Wir versuchen bei brenzligen Situationen natürlich immer zu intervenieren», sagt er. Doch der primäre Anspruch von Medina sei nicht die Sicherheit. «Das können und wollen wir gar nicht leisten.»
Ist die Arbeit auf diesem konfliktgeladenen Platz zuweilen nicht entmutigend? Fabrizio zuckt mit den Schultern. «Es ist frustrierend, wenn jemand auf einem ‹guten Weg› ist und dann ausgeschafft wird oder einen Scheiss baut.» Doch er will dem Frust lieber aktives Handeln entgegensetzen. Dass dies nicht alle Probleme auf dem Platz löse, ist Fabrizio klar. Es ist ihm wichtig zu betonen, dass er bei Medina auch viel Schönes erlebt. Ein Highlight sei, wenn man jemandem wirklich helfen kann; wenn etwa jemand eine Lehrstelle findet.

Gewinner*innen arbeiten gratis
Medina hat 2020 den Sozialpreis der Stadt Bern gewonnen. Gelobt wurde insbesondere das «niederschwellige Angebot» sowie die «Vernetzungsarbeit» des Vereins. Doch weshalb muss diese Arbeit hier gratis geleistet werden? Wäre dafür nicht die Stadt verantwortlich? Lukas Schwab, Mediensprecher der Stadt Bern, verneint dies auf Anfrage. Man könne nicht von einer Aufgabe der städtischen Sozialarbeit sprechen, da es sich bei den Personen auf der Schützenmatte «zu grossen Teilen auch um Personen aus anderen Gemeinden und Kantonen handelt», so Schwab. Die städtische Sozialarbeit könne nicht an Dritte delegiert werden. «Hingegen ergänzt Medina die bestehenden Aufgaben von Pinto (Interventionsgruppe der Stadt Bern für den öffentlichen Raum, Anm. d. Red.) in geeigneter Weise.»

Heute ruhig, morgen vielleicht anders
«Vielleicht haben wir durch das Pandemie-Jahr 2020 schlicht vergessen, wie sich das Leben auf dem Platz anfühlt», sagt Christoph Ris, genannt Pumba. Sein Verein «PlatzKultur» koordinierte bis April 2020 im städtischen Auftrag die Zwischennutzung auf der Schützenmatte. Diese musste jedoch vor Lärmklagen kapitulieren. In gewisser Weise habe der Sommer 2021, bezüglich Gewalteskalation, direkt an den Sommer 2019 angeknüpft, sagt Ris. Damals stellte «PlatzKultur» einen privaten Sicherheitsdienst. «Es ist uns auch nicht lieb, aber wenn um drei Uhr nachts die Gewalt eskaliert und Messer im Spiel sind, erreichst du mit einem sozialarbeiterischen Ansatz nichts mehr.» Ginge es nach Ris wäre auch jetzt ein Sicherheitsdienst auf der Schütz im Einsatz. Doch vorerst verunmöglicht dies ein neues Gesetz.
Sozialarbeit ist für Ris deshalb aber keineswegs unnötig. Die Besuchenden müssten eingebunden werden und es bräuchte eine sichtbare Anlaufstelle, schlägt er vor. «Ein Safe Space mit Awareness-Charakter wäre ideal.» Insbesondere in den frühen Morgenstunden – wenn Jugendliche nach Hause gehen- sei die Situation heikel. «Das Ziel wäre, dass zwei junge Frauen auf dem Platz eine Flasche Wein trinken können, ohne dabei belästigt zu werden», sagt Ris.
Vor dem Medina-Container ist der Eintopf im grossen Wok mittlerweile fast ausgeschöpft. Der Essensgeruch ist dem klebrig-süssen Duft eins Luxusparfums gewichen, das Samir den umstehenden Menschen anbietet. Er erzählt von Übergriffen der Polizei und vom Transit-Charakter des Platzes; viele ehemalige Besucher*innen seien ausgeschafft worden, andere seien unterdessen gestorben. Er erzählt das, als wäre es das Normalste der Welt.
«Heute ist es ruhig», sagt er mit breitem Grinsen. Währenddessen nähert sich langsam ein Polizeiauto. Schleichend passiert es den Container. Die Gespräche verstummen, misstrauische Blicke werden ausgetauscht. Als der Wagen weg ist, wiederholt Samir: «Heute ist es ruhig.» Das könne sich jedoch ändern. «Morgen ist es vielleicht wieder ganz anders.»