Musik Text: Stöpsu | Bild: Lisa Kast

Glyphosat und abstürzende Tiere

Die Fun-Punker der Abstürzenden Brieftauben erweisen dem Rössli die Ehre und lassen keine Achselhöhle trocken. Dabei treffen gekonnte Unterhaltung auf seriöse politische Kost. Zumindest beim zweiten Hinhören.

Von ganz hinten auf der Treppe schauend, wirken die dicht gedrängten Menschen im Rössli wie ein grosser, unruhiger Organismus, vor der Bühne sich bewegend und gegen hinten gefestigter. Die Tentakel des Organismus zucken von links nach rechts, wiegen auf und ab im Rhythmus der Basstrommel. Auf der Bühne, zwei kopfbreit über der Menge, singt, spricht und schreit Norm Anderspunk ins Mikrofon, am Schlagzeug neben ihm sitzt Micro. «Das müsst ihr jetzt verkraften» ist der Name der Tour der Abstürzenden Brieftauben, die sie von Hannover nach Bern gebracht hat. Und verkraftbar ist das problemlos, dass sich die zwei Altpunks hier in den Pferdestall verirrt haben. Ein kalter Sonntagabend ist‘s, doch hier im Innern, hinter den Türen, erinnert nichts an die übliche Wochenend-Melancholie, die so gut zum harten Wind draussen passen würde.

Zwei Hochzeiten

Kurz zuvor eine Etage höher und einige Meter westlicher im Frauenraum. Das Barometerpublikum ist kurz vor zehn Uhr im Endspurtstress, aus dem sozial motivierten Treffen ist ein ekstatischer Vibe geworden, der Menschen durchschüttelt und die Haare in den Nacken werfen lässt. Durch die schweissig-feuchte Luft sticht der chemisch-industrielle Geruch von Alkylnitriten. Tanzen auf zwei Hochzeiten an diesem Wochenendende. Während im Frauenraum gefühlsmässig der Anbruch der Flitterwochen gefeiert wird, findet im Ross die geschätzte vierte Vermählung einer Band ihren Höhepunkt, die genug erlebt hat, um Stoff für tausend Hochzeitsreden zu liefern.

Klebrige Bierseligkeit

Gründungsmitglied Micro, Sänger, Schlagzeuger und Gitarrist in Personalunion, ist nun seit fast zwei Jahren mit Norm Anderspunk als die Abstürzenden Brieftauben unterwegs. Ihr Programm an dem Abend folgt einem Ablauf, eine Routine, an der es wenig zu rütteln und wenig auszusetzen gibt. Auch hier im Ross wirkt die Szenerie wie gemalt, ohne Überraschungen. Der Altersdurchschnitt ist etwas höher als üblich, die dunkel gekleideten Menschen grölen Texte mit, unterbrochen von grossen Schlucken aus grossen Flaschen Bier. Auf der Treppe, dem Aufgang zum geschlossenen Dachstock, lassen sich müde Glieder nieder um durchzuatmen. Alkylnitrite und Prosecco-klebriger Holzboden sind hier ersetzt durch Zigarettenrauch und Hopfengetränke auf hartem Untergrund.

Schlepfmoscht sind trash

Als Vorband waren Chlepfmoscht angekündigt, mussten aber kurzfristig absagen, eingesprungen sind die New Kids from the Docks. Dabei hatten die Abstürzenden Brieftauben sie doch extra noch per Video ein paar Tage zuvor angekündigt: «Schlepfmoscht. Oder wie man das auch ausspricht. Also die sind trash! Echt trash!» Gemeint ists als Kompliment, auch sich selbst nehmen die Brieftauben an dem bierseligen Abend nicht wirklich ernst, wie zu erwarten von einer Band, die als Vorreiter des deutschen Fun-Punks gilt. «Machs noch einmal Gabi, Gabi du bist toll», stimmt Norm Anderspunk an und die Menschen singen mit als wärs ein Stelldichein unter alten Freunden und Freundinnen.

dumm geboren, kahl geschoren

Wer hinter all dem aber nur seichte Punk-Lagerfeuerromantik vermutet, wird eines Besseren belehrt in jenen Momenten in denen die meist akustisch kaum verständlichen Textpassagen etwas ruhiger und klarer durch die Luft dringen, etwa bei neuerem Material wie «Glyphosat» oder in älteren Stücken wie «Räubermärchen»:

«dumm geboren, kahl geschoren

im Winter meistens tiefgefroren

im Sommer einen Sonnenstich

und ansonsten widerlich»

Auch bei diesen Highlights ähnelt sich der Ablauf, ein Refrain zum Mitsingen, anschliessend gemeinsames Pogen zu schnell pochender Basstrommel und schrillen Riffs, ein einziger verflossener Soundteppich. Es sind bewährte Rezepte, mit denen die Brieftauben verzücken an dem Abend, so dass die Realität erst wieder einsetzt als Micro, mittlerweile vom Schlagzeug zurück an die Gitarre gewechselt, ankündigt, nun werde es langsam Zeit zum Ende zu kommen. Das zögert sich glücklicherweise noch etwas hinaus, Stagediving-Einlage inklusive. Good times im Ross. «Kommt gut nach Hause und frohe Weihnachten wünsch ich euch nicht», heissts zum Abschied. Gleichfalls.