Polizeigewalt Text: jrm

Wenn niemand hinschaut…

Polizeiliche Willkür und damit verbundene Gewalt ist auch in der Schweiz verbreitet. In den bisherigen Texten dieser Serie wurden Fälle beleuchtet, bei denen akribisches Dokumentieren, oft mit Videos, den Betroffenen zu ihrem Recht verhalfen. Doch fehlen kritische Augen, sind Geschädigte meist chancenlos.

Frühjahr 2021: Luzia verbringt mit einem Freund einen gemütlichen Abend in der Berner Innenstadt. Irgendwann ist ihr der Alkohol etwas zu viel des Guten, sie will aufbrechen; ihr Freund geht nach Hause. Starke Medikamente verstärken bei ihr die Wirkung des Alkohols. Die muss Luzia aufgrund ihres psychischen Zustands einnehmen. Zwischen dem Abschied von ihrem Freund und dem, was jetzt folgt, klafft bei Luzia eine Erinnerungslücke. Doch im nächsten Moment findet sie sich in polizeilicher Gewalt wieder: «An jedem Arm und Bein hielt mich ein Polizist fest.» Warum sie von der Polizei angehalten wurde, weiss sie nicht. «Plötzlich wurde mir warm im Gesicht, dann verlor ich das Bewusstsein.» Kein Wunder – zu diesem Zeitpunkt wird Luzia mit Handschellen im Rücken von den vier Beamten zu Boden gedrückt. Dabei tritt ihr ein Uniformierter mit dem Stiefel mitten ins Gesicht.

Vergebliches Warten auf Hilfe
Luzia hat Angst. Sie befindet sich nun auf einem Polizeiposten und kann sich nicht erklären, warum die Polizei sie regelrecht überfallen hat. In ihrer Zelle im Polizeiposten fordert sie medizinische Betreuung ein: «Meine Nase blutete, die Maske, die ich trug, war durchtränkt. Geholfen hat mir niemand.» Auf Anfrage verweist die KAPO darauf, dass nach einer Festnahme bei Anzeichen gesundheitlicher Probleme der Notfallärztlichedienst herangezogen werde. In diesem Fall müssen das die Beamt*innen nicht für nötig befunden haben. «Aus Protest habe ich mich ausgezogen – um zu zeigen, dass ich ihnen gar nichts anhaben kann, mit nichts dabei ausser meinem Körper.» Die Aktion verärgert die Beamt*innen. «Trotz meines Zustands nahmen sie mir die Fingerabdrücke ab und verhörten mich.» War sie zu diesem Zeitpunkt in der Verfassung, sich den Fragen der Beamt*innen zu stellen? «Nein! Ich habe vollständig dissoziiert. Irgendwoher wusste ich noch: ‘Sag nichts, unterschreibe nichts’.» Mitten in der Nacht wird sie entlassen. «Am nächsten Tag ging es mir beschissen. Glücklicherweise konnte ein Kollege zu mir schauen.» Luzia wird ebenfalls regelmässig von der Spitex begleitet. Dort rät man ihr, sofort einen Notfall aufzusuchen. «Die Ärztin war geschockt, als sie erfuhr, dass mir die Polizei die Verletzungen zugefügt hatte.» Dem m* liegen sowohl die Feststellungen der Ärztin, als auch ihre Bilddokumentation vor.

Schläge waren «ein Reflex»
Wir möchten wissen, warum sie mit diesem Übergriff an die Öffentlichkeit will. «Polizeigewalt geht einfach nicht. Ich habe fast zwei Jahrzehnte in Deutschland gelebt und wurde grün- und blau geprügelt. Damals traute ich mich nicht darüber zu sprechen. Nun hatte ich genug.» Luzias Wut auf die Polizei wächst nach dem Gang auf den Polizeiposten weiter. «Ich wollte wissen, warum mir das angetan wurde. Am Schalter reagierte die Beamtin unglaublich abweisend. Man gab mir die Nummer eines Beamten, der angeblich mehr über meinen Fall wusste.» Zum Vorfall will sich dieser ihr gegenüber nicht konkret äussern. Auf die Schläge angesprochen bezeichnet er diese als «Reflex». «So etwas könne halt passieren.» Luzia ist ausser sich. «Eine Person gegen vier Polizisten! Für sie konnte ich gar keine Bedrohung sein. Im Übrigen haben Polizist*innen keinen Schimmer, wie sie Menschen begegnen sollen, die psychisch nicht der Norm entsprechen oder unter Einfluss von bewusstseinsverändernden Substanzen stehen.» Wir wollen von der Kantonspolizei wissen, welche Massnahmen gegen unverhältnismässige Gewaltanwendung ergriffen werden. «Für uns ist eine umfassende Aus- und Weiterbildung Grundlage für eine korrekte und damit auch verhältnismässige Polizeiarbeit.», schreibt Polizeisprecher Gnägi.
Einen Strafbefehl hat Luzia bis heute nicht bekommen. Aber man lässt sie wissen, dass sie die Beamten ‘beschimpft’ hätte, was den Einsatz ausgelöst habe. «Kein Grund jemanden zusammenzuschlagen», kontert Luzia. Bei der Verhaftung habe sie sich angeblich gewehrt. «Logisch passiert das, wenn du einfach so überfallen wirst.»

Machtlose Opferhilfe
Sie will sich wehren, doch bei der Opferhilfe weiss man ihr nicht weiterzuhelfen. Die Polizei direkt zu konfrontieren – das habe sich in der Vergangenheit bereits als sinnlos entpuppt. Zeug*innen waren nicht anwesend, auch Filmmaterial fehlt. Luzias Erlebnis steht dabei exemplarisch für ähnliche Fälle, bei denen Aussage gegen Aussage steht. Wie bisherige megafon-Berichte zeigten, wird die Polizei konsequent von Staatsanwaltschaften und Gerichten gedeckt. Solche Situationen machen es quasi unmöglich, Massnahmen gegen polizeiliche Übergriffe zu ergreifen. «Mir geht es mittlerweile wieder gut. Ich hatte Glück, Freund*innen und eine Therapeutin zu haben, die mich unterstützen.», folgert Luzia. Mit der Veröffentlichung ihrer Geschichte will sie die Ohnmacht bekämpfen und dazu beitragen, dass solche Übergriffe endlich ein Ende finden. Die Verhältnismässigkeit eines Einsatzes zu prüfen, das müsse die Justiz, hält Polizeisprecher Gnägi fest. Das dies passiert, ist wenig wahrscheinlich. Eine Anzeige gegen die Beamt*innen hat Luzia nicht eingereicht – ihr wurde davon abgeraten, zu schlecht seien die Aussichten.

 

Mit der Auflösung der Stadtpolizei Bern im Jahr 2008 verschwand die Polizei aus dem Zuständigkeitsbereich der städtischen Ombudsstelle. Versuche, eine unabhängige Ombudsstelle für die Kantonspolizei einzuführen, scheiterten auf kantonaler Ebene mehrmals am Widerstand bürgerlicher Kräfte. Anzeigen gegen die Polizei führen schweizweit kaum je zu Verurteilungen von Beamt*innen, dafür sehr oft zu Gegenanzeigen gegen Betroffene, wie die Organisation humanrights.ch festhält.