Teil 2 – Das Lügenkonstrukt einstürzen lassen Text: ffg | Bild: daf

Wer Zivilcourage zeigt, bekommt es mit der Polizei zu tun

Videomaterial von Polizeieinsätzen kann Beschuldigte im Strafprozess entlasten, wie zwei Fälle aus dem Juni-Heft des m* gezeigt haben. In diesem Teil unserer Serie stehen die Fälle um Luise und Sarah im Zentrum: Nur dank eines Videos konnten bei Luise Aussagen der Polizei gegen sie als falsch entlarvt werden. Bei Sarahs Fall wird klar: Wer sich bei Einsätzen couragiert einmischt, gerät selbst ins Visier der Behörden.

Gerade ist Luise von einer Weltreise zurückgekehrt und freut sich, ihre Freund*innen in Bern wiederzusehen. An einem lauen Aprilabend im Jahr 2018 steht sie mit einem Bier in der Hand auf dem Vorplatz der Reitschule Bern. Doch die feierliche Stimmung trügt: Als die Sonne untergeht, hören sie und andere Geschrei. Drei Männer rennen einem anderen Mann hinterher, bekommen ihn zu fassen und drücken ihn unter der Eisenbahnbrücke zu Boden. Luise überlegt nicht zweimal: Sie rennt hin, ruft, dass sie aufhören sollten und versucht, einen der Angreifer wegzuziehen. Einige ihrer Freund*innen folgen ihr und wollen helfen – da tauchen zwei Polizisten in orangen Leuchtwesten auf. Sie kommen den drei Angreifern zu Hilfe. Da begreift Luise: Dieser Angriff ist eine Festnahme durch drei Zivilpolizisten. Sie lässt von der Szene ab, entfernt sich langsam. Weit kommt sie nicht: Nach der erfolgten Festnahme nehmen sich die Polizisten ihr an und führen sie mit aufs Revier ab. Luise wird verhört und verweigert die Aussage.
Vier Monate später erhält Luise den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft wegen «Hinderung einer Amtshandlung». 2`000 Franken soll Luise bezahlen. «Die beteiligten Polizisten verdrehten im Strafbefehl alles, was passiert war, und gingen nicht darauf ein, dass ich sie schlicht nicht erkennen konnte.», sagt Luise. Tatsächlich behauptet die Polizei, Luise habe «nicht von der Drittperson abgelassen» (sie also befreien wollen), «wie verrückt im Polizeigriff gezappelt», sich «gegen die Festnahme gewehrt» und «herumgeschrien». Ausserdem behauptet die Polizei, Luise hätte vom Ort des Geschehens «weggezerrt und weggetragen» werden müssen. «All das ist so nicht passiert.», sagt Luise. Sie erhebt Einsprache.

Staatsanwaltschaft – der verlängerte Arm der Polizei?
Die Staatsanwaltschaft legt Luise in ihrem Antwortschreiben nahe, die Einsprache zurückzuziehen: In einer Antwort, die wohl standardmässig so an Einsprechende versendet wird, taxiert der Staatsanwalt die Anzeige und das Strafmass als «angemessen» und weist auf die zusätzlich anfallenden Verfahrenskosten hin, sofern die Angeklagte den Prozess vor Gericht verlieren sollte. Doch Luise lässt nicht locker und zieht vor Gericht. Denn: Sie hat ein Ass im Ärmel. An jenem Aprilabend nämlich hatte ein anwesender Freund die Geistesgegenwart, sein Handy zu zücken, und die Ereignisse festzuhalten. «Ich habe mich penibel auf die Gerichtsverhandlung vorbereitet. Ich beschloss, mich selbst zu verteidigen, und präsentierte dem Gericht das Video mitsamt einer akribischen Analyse.» Tatsächlich vergleicht Luise mittels Standbilder des Videos die Aussagen der Polizei mit den ihrigen. «Da war kein Würgegriff, kein Wegtragen, kein Herumzappeln zu sehen – also all das, was die «Hinderung einer Amtshandlung» legitimiert hätte», meint Luise. Die Falschaussagen der Polizisten fallen in sich zusammen. Anderthalb Jahre nach dem Vorfall wird Luise vollumfänglich freigesprochen – dank dem Video und dank ihrer sauberen Analyse davon.

Festnahme auf der Schützenmatte
Auch Sarah kann eine ähnliche Geschichte erzählen. Wie bei Luise bekommt Sarah eine Festnahme durch zwei Kantonspolizisten mit. Gemeinsam mit einer Angehörigen sitzt sie im Juni 2019 im Restaurant O`Bolles. Gegenüber, bei den WC-Anlagen der Schützenmatte, beobachten sie, wie die zwei Polizisten einen Mann zu Boden werfen. Im Wissen darum, dass es in Bern leider oft unverhältnismässige und überzogene Festnahmen gibt, die kein Nachspiel haben, springen die beiden auf und rennen über die Strasse. Sarah hat ihr Handy bereit, sie beginnt zu filmen. «Wieso nehmen Sie ihn fest?», fragt sie und sagt: «Tun Sie ihm nicht weh, das ist unverhältnismässig». Einer der beiden Polizisten fixiert den am Boden liegenden Mann; einer wendet sich Sarah und ihrer Angehörigen zu. Er versucht, das Filmen des Einsatzes zu verhindern und drängt die beiden weg. Wenige Minuten später kommen zwei Kastenwagen mit rund zehn zusätzlichen Polizisten hinzu. Sie stossen Sarah weg. «Einer kam mir viel zu nah, drängte mich mit seinem ganzen Körper ab», sagt sie. Sarah und ihre Angehörige werden kontrolliert und von den Polizisten verbal provoziert und beleidigt.
Aufgrund ihres beherzten Einsatzes erhalten die beiden einen Strafbefehl – wieder lautet die Anklage «Hinderung einer Amtshandlung». Die Anzeige wird von einem der anfangs beteiligten Polizisten selbst geschrieben. Sarah ist empört: «Das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen. Wir haben die Festnahme gefilmt und auf die Polizisten eingeredet. Nicht gehindert! Die Behauptungen der Polizisten stimmten nicht.» Das Video des Einsatzes reicht Sarah als Beweismittel bei der Staatsanwaltschaft ein. Sie und die anklagenden Polizisten konnten es also vor der Verhandlung sichten. Ausserdem bekommen die beiden Angeklagten eine Aufforderung zur ED-Behandlung: Die Polizei will ihnen Fingerabdrücke abnehmen. «Unsere anwaltliche Vertretung hat sofort reagiert und die erkennungsdienstlichen Massnahmen als unverhältnismässig zurückgewiesen.» Sie hören nichts mehr von der Polizei. «Wir lebten monatelang in Ungewissheit, ob vielleicht plötzlich die Polizei vor der Haustüre steht und uns kurzzeitig festnimmt». Erst Monate später finden sie in den Akten ein Schreiben der Staatsanwaltschaft, in dem die Polizei zurückgepfiffen wird. Die beiden Angeklagten darüber zu informieren, hielt keine der Behörden für nötig.

Fragwürdiges Urteil
Anderthalb Jahre später steht die Gerichtsverhandlung an. «Wir waren erstaunt darüber, wie die Polizei an ihren Aussagen im Strafbefehl festhielt. Trotz des Videos, dass ihre Behauptungen widerlegte.» Der Richter kommt zum Schluss, dass das Video die von der Polizei behaupteten Handlungen nicht zeigt. «Freigesprochen wurden wir einerseits aus formellen Gründen, weil das Video unsere Version der Geschichte bestätigte. Andererseits, weil wir als weisse, mittelständische Frauen wahrgenommen wurden.», hält Sarah fest. «Der Richter ging in seiner Urteilsbegründung auf unsere `emotionale, aufgeregte` Reaktion ein und nannte unser Verhalten `entschuldbar`. Ich vermute: Wären damals zwei Männer oder zwei People of Colour vor Ort gewesen, wären sie wohl trotz Videobeweis verurteilt worden.» Einer der Wermutstropfen ist also, dass nach wie vor unklar ist, ob das Filmen an sich schon `Hinderung einer Amtshandlung` darstellen kann, oder nicht. So ein Urteil hätte den Charakter eines Präzedenzfalles.
In diesem, wie auch in den anderen geschilderten Fällen konnte eine Video-Aufnahme beweisen, dass die Polizei unvollständige oder sogar falsche Aussagen machte, um die Betroffenen anzuzeigen. Die Staatsanwaltschaft folgte in allen Fällen den Anträgen der Polizei. Das zwang die Angeklagten, Gerichtsverhandlungen zu führen. Dank den einschlägigen Beweisen durch Video-Aufnahmen und gute Verteidigungsstrategien konnten Freisprüche statt Geldbussen erreicht werden. In den in der Maiausgabe des megafons geschilderten Fällen führten Video-Beweise zumindest zu teilweisen Strafminderungen. Die Richter*innen liessen die Videos als Beweismittel zu und folgten den Anträgen der Angeklagten.
Es zeigt sich also: Hinschauen, Mitfilmen und das Video vor Gericht nutzen kann polizeilichen Lügen Paroli bieten.