Popkultur Text: sos | Bild: Sari

Weshalb Blumen und Kuchen die Welt nicht retten werden

Was hat es mit dem Internet-Trend «Cottagecore» auf sich? Weshalb ist seine aktuelle Beliebtheit weder überraschend noch unproblematisch? Und was haben «TradWives», Goblins und Marie Antoinette damit zu tun?

Blumenwiesen, junge weisse Frauen in langen Kleidern und mit Zöpfen, selbstgebackener Apfelkuchen… liebe Leser*in, willkommen bei «Cottagecore»! Der Internet-Trend(1) «Cottagecore», der seit Ende der 2010er-Jahre in den Sozialen Medien anzutreffen ist und mit der Corona-Pandemie weiter an Beliebtheit und Reichweite gewonnen hat, präsentiert sich in sanften Pastellfarben, wohlig-unaufgeregten Bildern und mit ganz viel ländlicher Romantik. Der Begriff setzt sich aus den beiden englischen Wörtern «cottage» (Landhaus) und «core» (Kern, Essenz) zusammen und bringt damit zum Ausdruck, was bei «Cottagecore» Programm ist: Natur, Landleben, altes Handwerk, Selbstversorgung, traditionelle Weiblichkeit und die Sehnsucht nach dem Einfachen, Ursprünglichen, Unverdorbenen. Liebe Leser*in, ich weiss, was du denkst: «… ist das nicht realitätsfremd, oberflächlich, reaktionär?»

Die üblichen Verdächtigen: Kapitalismus, Sexismus und Rassismus
Ja, das Leben auf dem echten Bauernhof beinhaltet weniger Rhabarberkuchen und mehr Kuhmist und ein eigenes Häuschen im Wald sowie Zeit für ausgiebige Picknicks können sich nur Privilegierte leisten. Und obwohl der Einklang mit der Natur und damit eigentlich auch Nachhaltigkeit, Entschleunigung und Konsumverzicht im Vordergrund stehen sollten, sind Wegwerfmode (mit Blumenmustern) und überteuerte Fix-Fertig-Kits (für Handarbeitsprojekte) fester Bestandteil von «Cottagecore». Zudem krankt der Trend an denselben Problemen wie alle Social Media-Phänomene: Individualistische Selbstinszenierung und Ausblenden von allem Störenden, Unästhetischen. «Ästhetisch» ist hier als blosses Synonym für «angenehm» oder «schön» zu verstehen; denn tiefere Gefühle im ursprünglichen philosophischen Sinne des Wortes – die Sinne beziehungsweise Seele bewegend – sollen ja eben gerade nicht geregt werden, da diese die Scheinwelt stören könnten.
Noch problematischer wird es, wenn man sich genauer anschaut, für was «Cottagecore» im Grunde steht: Die Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit im ländlichen England, Frankreich oder Nordeuropa, in der die Welt noch «heil» und «unverdorben» war. Die eingangs erwähnten jungen weissen Frauen in langen Kleidern und mit Zöpfen sind dabei zentral; das Sanfte, Häusliche, Feminine wird zelebriert. Dementsprechend werden traditionelle, patriarchale Bilder von «Frausein» wiedergegeben und gefestigt. Weiter fällt die Abwesenheit von nicht-weissen Menschen und einer kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialismus auf. Für eine Bewegung, die wiederholt den Begriff «Natur» verwendet und die Bedeutung von Land(besitz) und der Rückkehr zur Lebensweise unserer Vorfahr*innen anpreist, ist das alarmierend. So verwundert es denn auch nicht, dass «Cottagecore» sich auch bei Rechten und Vertreterinnen der «TradWife»-Bewegung(2) grosser Beliebtheit erfreut und teils als Plattform für die eigenen Werte und Ideologien missbraucht wird. Clever, kann ich dazu nur zynisch sagen.
Doch halt… das mit der jungen, weissen, (traditionell) weiblichen Dominanz ist doch nicht ganz so eindeutig. Bei einer genaueren Betrachtung der verschiedenen Cottagecore-Inhalte und Accounts zeigt sich nämlich, dass «Cottagecore» mit seinen Untervarianten «Fairycore»(3) , «Goblincore»(4) oder «Cottagegore»(5) insbesondere auch queere, neurodivergente oder anderweitig aus der Norm tanzende Menschen anzieht. Queere Frauen finden in der Fantasiewelt «Cottagecore» eine Möglichkeit, ihre Weiblichkeit losgelöst vom männlichen Blick auszuleben. Nicht-binäre und neurodivergente Menschen sehen Goblins als Vorbilder, ihr Anderssein zu zelebrieren, statt zu verstecken. POCs können sich eine Vergangenheit frei von Kolonialismus und Rassismus erträumen – so werden einige der beliebtesten «Cottagecore»-Accounts auf Instagram von Schwarzen Frauen betrieben. Zudem bieten die sanften, wohltuenden Bilder zumindest vorübergehend eine Verschnaufpause von der kapitalistischen Leistungsgesellschaft und den ständigen schlechten Nachrichten aus der realen Welt. Ja, «Cottagecore» ist eine Scheinwelt. Aber als solche macht sie es gerade gesellschaftlich benachteiligten Menschen möglich, sich eine Fantasiewelt losgelöst von Geschichte und Ideologie, eine Utopie frei von Kapitalismus, Sexismus, Rassismus, und all den anderen -ismen zu schaffen.

Klingt gut? Dann habe ich schlechte Nachrichten…

Jeder Krise ihren Eskapismus
Ja, die Form als Online-Phänomen mag neu sein, doch die Inhalte von «Cottagecore» sind es nicht. Mindestens seit der Antike gab es immer wieder Strömungen, welche das einfache Landleben, die Rückkehr zur Natur, die Besinnung auf das Ursprüngliche und Einfache idealisieren. Bereits im antiken Griechenland wurde das einfache Schäferleben als Gegenentwurf zum verdorbenen Stadtleben angepriesen. Im 18. Jahrhundert – kurz vor der französischen Revolution – inszenierte sich Marie Antoinette, die damalige Königin von Frankreich, in einem eigens dafür gebauten Dorf als einfache Schäferin. Die literarische und soziale Bewegung der Romantik entstand als Antwort auf die Aufklärung. Die Arts & Crafts-Bewegung im 19. Jahrhundert war eine Reaktion auf die industrielle Revolution. Und auch im 20. Jahrhundert gab es verschiedene Denker*innen, Trends und Bewegungen, die sich für die Rückkehr aufs Land und zum einfachen Leben stark machten. Genauso wie «Cottagecore» Queers und «TradWives» gleichermassen anzuziehen scheint, liessen sich diese früheren Strömungen ideologisch weder nach links noch nach rechts eindeutig einem bestimmten Lager zuordnen.
So vielseitig diese Strömungen waren, etwas haben sie alle gemeinsam: Sie wurden von verhältnismässig privilegierten Menschen als Reaktion auf das Unwohlsein mit den grossen gesellschaftlichen Umbrüchen ihrer Zeit begründet. Sie waren und sind eine sentimentale Rückbesinnung auf ein fiktionales Früher, eine Flucht vor der Unerträglichkeit des Jetzt, eine Suche nach Sicherheit und Bedeutung in einer unsicher und unverständlich gewordenen Welt. «Cottagecore» reiht sich nahtlos in dieses Erbe ein. In einer Zeit, in der die digitale Revolution unsere Gesellschaft grundlegend verändert, Faschismen gedeihen, und die Klimakrise der Natur den Garaus macht, ja auch irgendwie verständlich. Und damit wären wir beim Eskapismus.
Eskapismus, das ist die Flucht aus der realen Welt in eine Scheinwelt. Sie erfolgt meist als Reaktion auf Entfremdung(7) , Deprivation(8) oder Einsamkeit. Eskapismus – insbesondere wenn er vorübergehend ist – ist nicht grundsätzlich schlecht. Er kann aber dazu führen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den realen Umständen, die eine Flucht in die Scheinwelt überhaupt erst nötig gemacht haben, ausbleibt. Die Entfremdung kann so nicht überwunden, die Deprivation nicht ausgeglichen, die Einsamkeit nicht geheilt werden… und systematische Ungerechtigkeiten und Probleme bleiben, wie sie sind.

Die Bedeutung von Ästhetik und Idealen
Und das, liebe Leser*in, ist das grösste Problem an «Cottagecore». Der Internet-Trend scheut «echte», tiefgreifende Gefühle und Ideale, weil diese zu sehr am Schein der heilen, konfliktlosen Fantasiewelt kratzen würden.
Dabei hätte «Cottagecore» viel zu bieten: Wertschätzung von Natur und Selbstgemachtem, Abkehr von Leistungsdruck und Hektik, Betonung von Nachhaltigkeit und Schönheit. Sichere Räume für benachteiligte Menschen. Platz für Träume. Doch ohne echte Ästhetik bleibt «Cottagecore» bloss oberflächlicher Konsum; es fehlt die Möglichkeit, den Instinkt aufzugreifen, dass mit der Welt etwas ganz und gar nicht stimmt, und ihn in einen Antrieb für Veränderung zu verwandeln. Und ohne Werte und Ideale, die sich mit einem konkreten aktivistischen Programm verknüpfen lassen, bleibt es bei hübschen Bildern und Fantasiewelten; von einer sozialen Bewegung kann keine Rede sein.
So bleibt mir nur zu sagen: Liebe Leser*in, willkommen in der Krise. Wir können endlose Lavendelfelder und Erdbeerkuchen bieten, um sie erträglicher zu machen. Die ideologische Bewirtschaftung aber überlassen wir den Rechten.

 

(1) Ob es sich bei «Cottagecore» um einen Trend, eine Subkultur oder eine Bewegung handelt, ist umstritten. Im Englischen wird häufig der Begriff «aesthetic» verwendet, der eine Vielzahl von Bedeutungen annehmen kann. Mehr zum Ästhetik-Begriff weiter unten im Text.
(2) Rechtskonservative Ideologie und Bewegung, die sich dafür ausspricht, dass Frauen an den Herd zu ihrer traditionellen Geschlechterrolle zurückkehren.
(3) Feen, Zartes und Magisches.
(4) Goblins, Pilze und Makabres.
(5) «Cottagecore», aber in düster.
(6) Der Begriff «neurodivergent» bezeichnet Menschen, die aufgrund von Autismus, AD(H)S oder einer anderen Neurodiversität in ihrer Hirnbiologie von der Norm abweichen.
(7) Verunsicherung die entsteht, wenn die vormals sicheren Beziehungen des Individuums zu sich selbst, zu anderen oder zur Gesellschaft in Frage gestellt werden.
(8) Verlust von etwas Vertrautem, oft verbunden mit einem Gefühl von Benachteiligung.