Verhütung Text: jb | Bild: leo

Why don’t you care?

Über Zeugungsverhütung für Menschen mit Spermien und was das mit Care-Arbeit zu tun hat.

Es gibt sie…
Seit einigen Jahren befasse ich mich mit dem Thema Zeugungsverhütung für Menschen mit Spermien. Vor etwa zwei Jahren habe ich selbst angefangen (erfolgreich) thermisch zu verhüten und bin mit der Methode sehr zufrieden. Dass es also möglich ist heute im Jahr 2023 ohne nennenswerte Nebenwirkungen und vertretbarem Aufwand als cis-Mann temporär und reversibel zu verhüten, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Entgegen der auch in Fachkreisen weit verbreiteten Meinung, es gebe dazu keine Studien, ist sowohl die Sicherheit wie auch die Reversibilität der thermischen Verhütung seit den 80er Jahren immer wieder wissenschaftlich bestätigt worden. Die Gründe, warum diese (und alle anderen) Kontrazeptionsmittel, die auf den spermienproduziernenden Körper abzielen, nicht auf dem Markt sind und eine breite Anwendung finden, sind vielfältig. Ein wohl nicht zu unterschätzender Grund liegt darin, dass Verhütung Care-Arbeit ist. Verhütung an sich macht meistens keinen Spass. Für niemensch. Egal welche Genitalien, Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung die Person hat. Sie ist jedoch eine notwendige Arbeit, die geleistet werden muss, wenn Menschen Sex haben, bei dem potentiell eine Schwangerschaft entsteht. Wie so oft wird diese Arbeit mehrheitlich von Frauen geleistet. Die Forschung zu Verhütungsmethoden für Menschen mit Spermien dauert bereits genauso lange wie die Forschung für Menschen mit Uterus an. Die erste hormonelle Verhütungspille war übrigens «für den Mann». In den 50er Jahren wurde durch Zufall ein Verhütungsmittel mit dem mässig gut einprägsamen Namen WIN 18,446 entdeckt, jedoch wegen dessen Inkompatibilität mit Alkohol nicht weiter verfolgt. Es gibt mehrere hormonelle Verhütungsmethoden für Menschen mit Spermien, jedoch hat bisher kein Produkt die Marktreife erlangt. Seit rund dreissig Jahren wird an einem Pfropfen für den Samenleiter geforscht, der mit einer speziellen Substanz wieder aufgelöst werden kann und bis zu seiner Auflösung, Spermien daran hindert, in das Ejakulat zu gelangen. Klemens Bimek erfand das sogenannte Samenleiterventil. Und die Designstudentin Rebecca Weiss legte kürzlich eine Studie für ein Verhütungsmittel mittels Ultraschall namens COSO vor. Alles spannende Pisten. Bis zu einer Marktzulassung dauert es aber noch etliche Jahre. Seite rund 50 Jahren lautet der Running Gag in der Branche: In etwa fünf Jahren könnte es soweit sein! Eine vergleichsweise unspektakuläre, da sehr leicht anwendbare und dennoch wirksame Methode, die hier und jetzt angewendet werden kann, ist die thermische Verhütungsmethode.

..die Verhütungsmethode für Menschen mit Spermien
Die Hoden liegen ausserhalb des Körpers, da die Spermienproduktion eine etwas niedrigere Temperatur als die Körpertemperatur erfordert (ca. 34,5°C). Durch eine gezielte Erhöhung der Hodentemperatur um mindestens 2 Grad Celsius kann die Spermienproduktion gestoppt oder zumindest sehr stark eingeschränkt werden, was zu Verhütungszwecken genutzt werden kann. Je höher die Erwärmung der Hoden ist, desto kürzer muss die Anwendung der Wärme erfolgen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Nach Beendigung der regelmässigen Wärmeanwendung erholt sich die Spermienproduktion innerhalb von etwa 2-9 Monaten vollständig. Die Hodentemperatur kann entweder mittels externer Wärmezufuhr erhöht werden, oder es kann die eigene Körperwärme verwendet werden. Die sanfte Erwärmung mithilfe der Körpertemperatur wurde bereits in den 60er Jahren von dem US-amerikanischen Forscher John Rock, der an der Entwicklung der Anti-Babypille für Menschen mit Gebärfähigkeit beteiligt war, erfolgreich erforscht. In den 70er Jahren wurde in feministischen Gruppen in Frankreich die Anwendung der thermischen Verhütungsmethode mithilfe der eigenen Körperwärme aufgegriffen und seither angewandt. Auch die Zürcher Hodenbader bezogen sich damals auf die französischen Kontrazeptions-Aktivist*innen der ARDECOM.

Und wieso interessiert das keine Sau?
Seit mindestens vierzig Jahren ist die Methode also gut dokumentiert und grundsätzlich für ein breites Publikum zugänglich. Wie kann es also sein, dass die meisten Urolog*innen, Sexualpädagog*innen, Reproduktionsmediziner*innen, wie auch Beratungspersonen der sexuellen Gesundheit, denen ich bisher begegnet bin noch nie davon gehört haben? Ganz zu schweigen von den allermeisten potentiellen Anwender*innen. Kulturelle Normen und Vorurteile spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. In den meisten (Sub-)Kulturen definiert sich Männlichkeit in der Unterscheidung von Weiblichkeit und umgekehrt. Da Verhütung als klar weiblich vergeschlechtlicht wurde, wird männliche Verhütung dementsprechend als unmaskulin angesehen, teils belächelt oder auch beschimpft. Als ich die thermische Methode in einem kurzen Video-Beitrag auf watson Ende 2021 vorstellte und mich als Anwender outete, quollen die Kommentarspalten von negativen und vor allem versändnislosen oder belustigten Beiträgen nur so über. Von «da verrecksch!» über «die Welt ist am verblöden» bis hin zu ableistischen Beleidigungen, die ich hier nicht wiedergeben muss, zeigte eine qualitative Auswertung der Kommentare ein eher ernüchterndes Bild. Dass das in der watson-Kommentarspalte so klingen wird, hat mich nicht sonderlich überrascht. Was mich hingegen etwas enttäuscht, ist die Tatsache, dass sowohl in meinem näheren wie auch in meinem weiteren Umfeld bisher nur zwei spermienproduzierende Personen auf mich zugekommen sind und angefangen haben (thermisch) zu verhüten. Als ehemaliger Reitschüler und in einer linken, emanzipatorischen Bubble unterwegs, hatte ich da die Hoffnung, dass dies in meinem persönlichen Umfeld auf offenere Ohren stossen wird.

Wie war das nochmal mit der Care-Arbeit?
Carearbeit ist meistens die Arbeit, die unsichtbar nebenbei gemacht wird. Kaum jemand betritt eine WG und klatscht, wenn dort das Abwaschmittel aufgefüllt wurde oder die Handtücher nicht stehen vor Dreck. Klo Putzen, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Gesundheitsfürsorge, emotionaler Support, Beziehungsarbeit und nicht zuletzt: Verhütung! Nicht alle Personen sind im gleichen Masse von den Konsequenzen betroffen, wenn diese Arbeiten nicht erledigt werden. Aber gemacht werden müssen sie. Und das übernehmen häufig dieselben Personen…Genau dort liegt einer der Knackpunkte, warum es die Forschung um Kontrazeption für Menschen mit Spermien so schwer hat. Aus rein medizinischer Perspektive haben Hodenträger*innen nichts zu befürchten, wenn sie eine Schwangerschaft auslösen. Während auch heutzutage eine Schwangerschaft noch ein potentielles Gesundheitsrisiko für Gebährfähige darstellt. Aus diesem Grund gehen einige Pharmakonzerne und auch viele Androlog*innen davon aus, dass ein männliches Kontrazeptiva keinerlei Nebenwirkungen haben darf. Die Nebenwirkungen müssen stets mit den möglichen Konsequenzen in ein Verhältnis gesetzt werden. Wegen eines Heuschnupfen würde keine*r eine Chemotherapie in Kauf nehmen. Das leuchtet durchaus ein. Medizinische «Eingriffe» können jedoch auch durch soziale Indikationen gerechtfertigt werden. So wäre die lebenslange Verantwortung für ein Kind, die dafür aufgewendete Zeit und die finanziellen Konsequenzen einer unabsichtlich ausgelösten Schwangerschaft unter Umständen durchaus als negativ zu bewerten. Dies müsste in die Überlegungen nach möglichen Nebenwirkungen miteinbezogen werden. Auf der anderen Seite sollte allen spätestens nach der Pandemie bewusst sein, dass wir gewisse medizinische Massnahmen auch für andere Menschen über uns ergehen lassen, die potentiell einem grösseren Gesundheitsrisiko ausgesetzt werden (Stichwort: Impfung).

Ein vorenthaltenes Recht?
Leider ist es ein Fakt, dass die Pharmaindustrie offensichtlich kein Interesse daran hat, eine Art «Pille für den Mann» auf den Markt zu bringen. Sämtliche nicht-hormonellen Projekte stehen vor schier unüberwindbaren finanziellen Hürden für eine Zulassung. Als Hodenträger bleibt mir also im Grunde genommen nur das Kondom oder die Vasektomie. Da ich bereits zwei Kinder habe und Mitte dreissig bin, steht es mir offen, mir den Samenleiter zu durchtrennen und für immer unfruchtbar zu sein. Im Gegensatz zu einer spermienproduzierenden Person um die zwanzig ohne Kinder. Sie hätte es unglaublich schwer, eine*n Urolog*in zu finden, die diesen folgenschweren Eingriff in diesem Alter durchführt. Eine schwierige Debatte, aber verübeln kann ich es den Urolog*innen nicht. Auf jeden Fall bleibt für einen nicht unbeträchtlichen Teil von Menschen mit Spermien im zeugungsfähigen Alter ausschliesslich das Kondom als Verhütungsmittel. Als Sexualpädagoge bin ich die allerletzte Person, die irgendetwas gegen das Kondom sagen will. Leute, benutzt Kondome! Vor allem, wenn ihr mit unterschiedlichen Leuten vögelt! Echt! Aber, wenn es um die Verhütungssicherheit von Kondomen geht, dann stehen sie doch relativ mies da. Je nach Studie liegt der PEARL-Index bei 13. Das heisst, es wurden bis zu 13% der Gebärfähigen schwanger, die ein Jahr lang ausschliesslich mit Kondom verhütet haben. Es gibt Ärzt*innen, die gewisse Medikamente nicht an Menschen mit Uterus verschreiben, wenn sie in einer heterosexuellen Partner*innenschaft leben und ausschliesslich mit Kondomen verhüten, wenn die Medikamente beispielsweise zu Missbildungen und Komplikationen in der Schwangerschaft führen. Das bedeutet, dass es bis heute kein reversibles, sicheres und dafür zugelassenes Verhütungsmittel für Menschen mit Spermien gibt, obwohl nach Artikel 9 der sexualitätsbezogenen Menschenrechte (nach IPPF) «alle Menschen Anspruch auf sichere, effektive, akzeptable und finanzierbare Verhütungsmethoden haben». Dass rund die Hälte der Weltbevölkerung keinerlei Möglichkeiten hat, eine solche Methode zu wählen und damit ihre Verantwortung und ihren Beitrag zur nötigen Care-Arbeit in diesem Feld wahrzunehmen, ist eigentlich nicht hinnehmbar. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Es braucht mehr Forschung und dafür müssen öffentliche Gelder bereitgestellt werden.

Also was tun?
Es gibt die Möglichkeit, hier und jetzt deine Fruchtbarkeit zu kontrollieren, auch wenn du Spermien produzierst. Die thermische Verhütungsmethode gibt es seit den 80ern und es ist an dir, dich darüber zu informieren und sie anzuwenden. Es gibt tausende, die das bereits tun. Es gibt Nähanleitungen für Verhütungsunterhosen, DIY-Kits zur Herstellung von Silikonringen oder du kannst dir einen Andro-Switch kaufen, der mangels Zulassung aktuell noch als Talisman verkauft wird. Du kannst dich der Genossenschaft entre.lac anschliessen, Teil von slow.contraception werden. Oder noch viel besser: du schnappst dir ein paar Freund*innen, die ebenfalls Spermien produzieren und gründest mit ihnen ein eigenes Verhütungs-Kollektiv. So wie das Kollektiv «Unverhütbar» das sich einmal im Monat in der anarchistischen Bibliothek in Leipzig trifft. Entre.lac hat im März dieses Jahres die Finanzierung einer klinischen Studie für den Andro-Switch erhalten. Damit stehen die Chance sehr gut, dass im Jahr 2028 das erste reversible, Langzeit-Verhütungsmittel für Menschen mit Spermien eine Zulassung bekommen wird. Also etwa in fünf Jahren. Diesmal wirklich!