megafon | By any means necessary!

14. Juni 2020

By any means necessary!

Foto: Black Lives Matter-Demonstration in Bern, 13. Juni 2020

Dieser Text erschien zum ersten Mal im April 2015 im megafon.

Eric Garner, Mike Brown und viele mehr: Die Liste der kürzlich in den USA von weissen Polizisten getöteten Afroamerikaner ist lang. Gesühnt wurde keine der Tötungen – im Gegenteil: Tödliche rassistische Gewalt gegen Afroamerikaner*nnen ist in den USA die Normalität und reiht sich ein in die von Sklaverei und Rassentrennung geprägte Geschichte der USA. Das treibt heute wieder tausende Schwarze und Weisse auf die Strasse. Vor genau 50 Jahren wurde Malcolm X erschossen, der zusammen mit anderen für die Befreiung der Schwarzen von Unterdrückung kämpfte. Grund genug, einen kurzen historischen Abriss über das Leid und die Entwicklung des afroamerikanischen Kampfes für Gerechtigkeit zu machen, um zu verstehen, warum der strukturelle Rassismus in den USA bis heute anhält.

FFG

Hauptsächlich in den Südstaaten Nordamerikas litten Millionen schwarzer Frauen, Männer und Kinder während Jahrhunderten unter Rechtlosigkeit, blutiger Ausbeutung, Folter, Willkür und Terror. Dank der Sklaverei vergrösserten die 13 Kolonien und später die USA ihren Reichtum massiv; tausende Karrieren und Familienimperien gründen auf der Ausbeutung der Schwarzen. Auch die als Demokraten und Bürgerrechtler gefeierten Gründerväter George Washington und Thomas Jefferson waren Sklavenhalter. Heuchlerisch und paradox – so wie die USA noch heute auf der Weltbühne und in der Innenpolitik agieren.

Die Sklaverei endete auf dem Papier 1865, mit dem Ende des inneramerikanischen Sezessionskrieges. Der Kampf für Integration, Gleichberechtigung, Freiheit  und Unabhängigkeit blieb aber von einem Auf- und Ab; von Fort- und Rückschritten geprägt. Nachdem sich die Unionsarmee 1876 aus dem Süden zurückgezogen hatte, konnte der Ku-Klux-Klan (KKK) jahrzehntelang Schwarze terrorisieren und in hunderten bis tausenden Fällen töten. Die offiziellen Stellen stellten derweil durch schikanierende Gesetze die Diskriminierung wieder her und schlossen Schwarze von den Wahlen aus.

Die Afroamerikaner*innen waren sich uneins, wie man diesen neuen Ungerechtigkeiten begegnen sollte. W.E.B. Du Bois mit seiner 1909 gegründeten und bis heute einflussreichen National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP) setzte vor allem auf Gerichtsverfahren, um Gleichberechtigung zu erzwingen. Entschiedene Gegner dieser Taktik waren die schwarzen Nationalisten bzw. Separatisten: Durch das erneute Scheitern ihrer Bemühungen für Gleichberechtigung sahen sie keinen Grund mehr, auf ein friedliches Zusammenleben zu hoffen. Charismatische Führer der separatistischen Bewegung wie Marcus Garvey sahen (langfristig) die massenhafte Auswanderung nach Afrika als einzige Lösung, der Unterdrückung in den USA zu entfliehen. Neben der politischen und rechtlichen Organisierung der Afroamerikaner kam es auch zu einer Blütezeit schwarzer Kultur, der sogenannten „Harlem Renaissance“: Die Schwarzen begannen langsam, sich zu emanzipieren.

Schwarze Bürgerrechtsbewegung, Nation of Islam, Malcolm X, Martin Luther King

Nach mehreren gewonnenen Gerichtsprozessen durch die NAACP begann 1954 eine neue Phase des Protests mit dem Busboykott von Montgomery: Baptistenpfarrer Martin Luther King mit seiner Taktik des zivilen, friedlichen Ungehorsams trat auf den Plan. Mit friedlichen Demonstrationen in den rassistischen Staaten des Südens und der rohen Gewalt von Weissen und der Polizei kam die Bewegung zunächst USA, dann weltweit in die Schlagzeilen. Die Bürgerrechtsbewegung war integrationistisch, d.h. sie setzte sich für die gleichberechtigte Teilnahme von Schwarzen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein.
Längst nicht alle waren mit dem friedlichen und versöhnlichen Programm von King zufrieden. Sein wichtigster Gegenspieler unter den Schwarzen war Malcolm X. Nach anfänglicher Drogen- und Kleinkriminellenkarriere war er 1946 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Im Gefängnis begann Malcolm Little`s (so sein ursprünglicher Name) erste grosse Wandlung: Vom protzigen Paradiesvogel entwickelte er sich zum Intellektuellen – und zu einem brillanten Rhetoriker. Im Knast zur Nation of Islam (NoI) bekehrt, einer schwarz-nationalistischen, muslimischen Sekte, avancierte er nach seiner Entlassung zum wichtigsten Minister der NoI. Unter Führer Elijah Muhammad predigte sie die radikale Segregation von den Weissen und war ebenso rassistisch wie manche Weisse. Von Politik wollte die NoI aber nichts wissen; Muhammad erachtete seine Organisation als rein religiös. Malcolm kritisierte die Bürgerrechtsbewegung regelmässig scharf und bezeichnete King und andere AnführerInnen unter anderem als „Hausneger der Weissen“.

Malcolms Sinneswandel

Malcolm X war geistig nicht erstarrt, sondern sehr reflektiert und wach. Je länger, je mehr spürte er, dass es mehr als eine rein religiöse Organisation brauchte, um die Schwarzen vom Joch der weissen Unterdrücker zu befreien. 1964 wurde er wegen öffentlicher Kritik an Muhammad und explizit politischen Reden aus der NoI ausgeschlossen und seither massiv von ihr bedroht. Nach dem anfänglichen Schock blühte er in seinem dritten Leben umso mehr auf. Er pilgerte nach Mekka, wo er den „wahren Islam“ kennenlernte. Im Anschluss reiste er durch Afrika. Danach sprach er nicht mehr von unüberbrückbaren Gräben zwischen Weiss und Schwarz, im Gegenteil: „Ich bin kein Rassist. Ich bin gegen jede Form der Diskriminierung. Ich glaube an Menschen und daran, dass alle Menschen als solche respektiert werden sollten, unabhängig von ihrer Hautfarbe“. Malcolm machte sich nun für die Versöhnung der verschiedenen emanzipativen Bewegungen stark. Er verteidigte aber weiterhin das Recht auf bewaffneten Widerstand und betonte die Notwendigkeit einer Revolution, um endlich Gerechtigkeit zu erreichen. Der Kampf müsse mit allen nötigen Mitteln geführt werden („By any means necessary“).

Seinem Engagement wurde im Februar 1965 ein jähes Ende gesetzt. Bei einer Veranstaltung in Harlem wurde er von Attentätern der NoI erschossen (man geht heute davon aus, dass das FBI die Anschlagspläne kannte).

Kings Radikalisierung

Ähnlich wie Malcolm verliess Martin Luther King am Ende seines Lebens den früher eingeschlagenen Pfad – er radikalisierte sich. Seit den Watts-Riots  1965 in Los Angeles mit 36 Toten engagierte er sich immer stärker für soziale Gerechtigkeit, die über die politisch-formelle Gleichberechtigung hinausging. Sass er 1963 noch mit Präsident Johnson im Oval Office, sprach er nun in ungewohnt scharfer Sprache von „internem Kolonialismus“. Auch der Vietnamkrieg geriet in Kings Schusslinie. In seiner Rede „A Time to Break Silence“ beschuldigte er die USA, „der schlimmste Gewaltlieferant der ganzen Welt“ zu sein. Auch von seinem früher gepredigten Pazifismus nahm er offensichtlich Abstand: „Sie lobten unsere gewaltlosen Sitzstreiks; applaudierten, als wir uns ohne Gegenwehr schlagen liessen. (…) Es ist schon eine merkwürdige Inkonsistenz, wenn eine Nation und ihre Presse dich lobt und preist, wenn du sagst: `Seid gewaltlos zu Jim Clark` (der wegen seiner Brutalität berüchtigte Polizeichef von Selma, Alabama), aber dich verdammt, wenn du sagst: `Seid gewaltlos zu kleinen braunen vietnamesischen Kindern!`“

Malcolm X und Martin Luther King, die sich nur ein einziges Mal während all der Jahre des Kampfes begegneten, waren am Ende ihres Lebens inhaltlich erstaunlich eng zusammengerückt. King wurde 1968 in Memphis erschossen. Es lässt sich nur vermuten, was geschehen wäre, wenn die beiden wichtigsten Persönlichkeiten des schwarzen Freiheitskampfes im 20. Jahrhundert gemeinsam marschiert wären.

Und heute?

Die mittlerweile in Teilen revolutionäre Schwarzenbewegung verlor nach der Ermordung ihrer Anführer an Boden. Es gab aber auch berühmte Nachfolgegruppen wie die sozialistische Black Panther Party, die sich mit „Black Power“ und bewaffneter Selbstverteidigung weltweit einen Namen machte. Von FBI-Chef Hoover wurde die Organisation als „grösste innere Bedrohung für Amerika“ bezeichnet und deshalb massiv infiltriert.

Selbstverständlich ist die Situation für Afroamerikaner in den USA heute besser als 1861. Schon was die musikalische, literarische und filmische Rezeption angeht („Malcolm X“ (1992); „12 Years a Slave“; „Selma“), ist die Sensibilität für die Geschichte und Gegenwart der Schwarzen viel grösser geworden. Doch bis heute hat sich nichts grundlegend an ihrer Situation geändert. Die feigen, ungesühnten Tötungen von schwarzen Teenagern durch weisse Cops im Monatstakt erschüttert die Black Community stetig aufs Neue. Wirtschaftlich hinken die Schwarzen den Weissen hinterher, dafür füllen sie die Gefängnisse überproportional; werden wegen kleinster Delikte eingeknastet. Kaum ein*e Politiker*in, auch nicht der schwarze Präsident der USA, setzen sich für eine Veränderung der menschenfeindlichen, rassistischen Situation ein. In den verlogenen Staaten von Amerika geht die Ungerechtigkeit munter weiter – genauso wie der Widerstand dagegen.

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