megafon | Draussen auf der Strasse

25. Mai 2020

Draussen auf der Strasse

(Dieses Interview erschien ursprünglich in der Megafon-Ausgabe 11/2016)

«Tanz dich frei» verabschiedete sich nach der dritten Ausgabe 2013 mit lautem Knall von der Bühne. Themen und Hintergründe der Bewegung gingen unter in der medialen Lawine über Gewalt, Sachschaden und politische Verantwortlichkeiten.

Das megafon traf drei Jahre danach zwei der Organisierenden und sprach mit ihnen über Verantwortung, Polizeitaktiken, Selbstkritik und die Zukunft des «Tanz dich frei».

megafon: Fast zwei Jahre lang, 2012 und 2013, war «Tanz dich Frei» (TDF) omnipräsent und prägte die Debatte um Freiräume. Warum habt ihr nach dem TDF 2013 nichts mehr von euch hören lassen?

Lance*: «Tanz dich frei» war ein riesiges Projekt. Es verschlang von allen Organisierenden immense Ressourcen. Im Vorfeld der dritten Ausgabe mussten wir auf viel Unvorhergesehenes reagieren. Für die Nachbereitungsplanung hatten wir keine Zeit. Ausserdem rollte die grosse Repressionswelle an, z.B. mit dem Internetpranger. Wir hatten auch Respekt vor noch härterer Repression – sitzen plötzlich Leute in U-Haft?

Jan*: Schon beim zweiten TDF merkten wir, dass sich der Charakter des Umzugs in eine für uns kritisch betrachtete Richtung bewegte. Viele Menschen kamen wegen einer grossen Freiluftparty, und nicht wegen politischer Inhalte. Von Links bis Rechts gab es Umarmungsversuche, alle fanden TDF plötzlich gut. Da hatten wir keine Lust drauf. Der riesige Polizeieinsatz und die Eskalation 2013 schreckten uns ab: Wir merkten, wie billigend eine Massenpanik von den Einsatzkräften in Kauf genommen wurde. Wir aber wurden bereits im Vorfeld als Schuldige gebrandmarkt.

Lance: Ausserdem gab es wieder neue Projekte und Ideen. TDF hatte sich gewissermassen überlebt. Das Organisations-Kollektiv löste sich auf; die Menschen gingen in andere Arbeitsgruppen.

megafon: Dabei genosst ihr medial wie politisch grossen Respekt: «Die Jugend kann die Stadt Bern an einem Samstag im Juni lahmlegen. Und sie kann es in den nächsten Monaten wieder tun. Welche andere Kraft kann das von sich behaupten?» schrieb der «Bund» 2012. Ihr habt Tausende mobilisiert und den Staat herausgefordert, wie es lange niemandem mehr gelungen war.

Lance: Wir wollten dieses Gefühl erlebbar machen, sich die zentralsten Punkte der Stadt zu nehmen. Sich ohne Bewilligung, ohne Auflagen die Strasse zurückzuholen. Unsere politische Vision wurde uns aber von allen Seiten zerredet. Und es war wirklich auch viel Partyvolk da. Wir merkten, dass uns TDF in dieser Form nicht mehr interessiert. Denn es ging nicht um plumpe Provokation. TDF war kein Selbstzweck.

Jan: Wir haben uns danach umorientiert. Mit der Krise der europäischen Migrationspolitik und anderem wechselten die Prioritäten. Wichtige Ziele haben wir erreicht: Viele Leute wurden politisiert, eine neue, einzigartige Aktionsform ausprobiert und wahnsinnig viel Aufmerksamkeit generiert. Geschätzte 60 junge Menschen schrieben und schreiben Arbeiten über Tanz dich frei – unglaublich.

Was 2011 und 2012 unter den Stichwortenen Freiraum und Nachtleben geschah, war ein Katalysator für die TDF-Bewegung. Die Verfügung von Regierungsstatthalter Lerch, die der Reitschule viel strengere Auflagen machte, provozierte Widerstand. Die Schliessung mehrerer teils sehr bekannter Musiklokale aufgrund von Lärmklagen der Anwohnenden zerstörte wichtige Räume. Verschiedene Organisationen, Vereine und Parteien setzten das Thema Nachtleben weit oben auf ihre Agenda. «Tanz dich frei» vereinte all den aufgestauten Unmut in authentischster Form: Musikalisch, laut, frech, exzessiv – unbewilligt, draussen auf der Strasse.

Lance: Uns vom TDF ging es nie ums Nachtleben, wie es die FDP oder «Pro Nachtleben Bern» suggerierten. Wir stellten andere Fragen – wem gehört die Stadt? Soll Bern wirklich wie die UBS funktionieren?

megafon: Am Ende blieb von TDF die Erinnerung an kaputte Schaufensterscheiben, Tränengas und Verletzte. Inwiefern habt ihr mit der Eskalation gerechnet oder sie sogar gesucht?

Jan: Für mich ist klar, dass die Polizei und die Politik die Eskalation gebraucht haben. Nachdem 2012 rund 20`000 Menschen selbstbestimmt durch Bern gelaufen und ein riesiges Fest gefeiert hatten, bekamen einige da oben Angst. Man konnte das nicht jedes Jahr aufs Neue zulassen. Die Gewalteskalation spielte ihnen in die Hände – nun konnte die Repressionswalze losfahren und ein Exempel statuieren. Kritik und Inhalt des TDF wurden verleumdet und als illegitim dargestellt.

Lance: Es braucht für eine Eskalation immer zwei Parteien: Die Polizei war 2012 unsichtbar, also gab es auch keine Angriffsfläche für die Demoteilnehmenden. Beim dritten TDF stand die Polizei provokativ vorm Bundeshaus, Wasserwerfer gut sichtbar, baute den Zaun auf, schuf ein künstliches Nadelöhr. Was wäre geschehen, hätte er das vermieden? Es hätte vielleicht Farbe fürs Bundeshaus gegeben. Man sieht, was für die Politik schwerer wiegt: Mehrere Schwerverletzte, darunter Halbblinde werden in Kauf genommen, um Graffiti an einem ihrer wichtigen Gebäude zu verhindern. Aus Prestigegründen wollte man uns nicht durch die Bundesgasse ziehen lassen.

Jan: Mit der Sanitätspolizei standen wir in regem Kontakt. Uns wirft man vor, wir hätten die Eskalation gesucht. So ein Quatsch. Hätten wir das gewollt, hätten wir uns darauf vorbereitet, dann wäre es viel strüber ausgegangen. Den Sachschaden verursachten wütende Menschen spontan – und nicht zuletzt die Polizei, die mit Gummischrot manches Schaufenster zertrümmerten.

Lance: Hunderte Menschen hatten ihre Musikwagen präpariert. Da steckte so viel Energie und Kreativität drin. Das setzt man nicht einfach so aufs Spiel.

megafon: Ich gehe davon aus, dass ihr als Mitorganisatoren gut vernetzt seid. Auch mit Menschen, die einer gewalttätigen Auseinandersetzung nicht abgeneigt sind. Hättet ihr da nicht mässigend einwirken können?

Lance: Im Vorfeld betonten wir immer wieder, dass wir uns einen friedlichen Umzug wünschen. Wir können und wollen uns nicht alle präventiv zur Brust nehmen.

Jan: Es geht bei «Tanz dich Frei» vor allem um Selbstbestimmung. Als Organisierende können wir bei 10`000 Menschen weder Gewalttaten, noch Drogenkonsum, noch Selbstgefährdung verhindern. Es war jedes Mal ein gelungener Anlass. Die Menschen haben sich weitgehend selbstorganisiert, übernahmen Verantwortung für sich und andere. Sie bastelten die Fahrzeuge und sorgten für den Schutz der Tanzenden, machten Musik, mixten Drinks.

megafon: Die Transparente, die vom Baldachin gehängt wurden, spielten auf die «Bewegung 2. Juni» und Strassenschlachten mit Molotov-Cocktails an. Das hat doch auch einen Einfluss auf die Dynamik der Menschen.

Lance: Du versuchst, uns als Bosse darzustellen. Das ist ein völlig falsches Verständnis der Organisation des TDF. Wir sind nicht dafür da, den Menschen vorzuschreiben, was sie auf ihre Transpis schreiben.

Jan: Ich finde es geil, wenn die Teilnehmenden, ob aus unserem Umfeld oder nicht, sich kreativ einbringen. Übrigens: Niemand warf Mollis, auch wenn das auf einem Transpi abgebildet war.

megafon: Man kann also so einen Anlass organisieren, aufbauen, hypen. Aber bei der Durchführung ist man machtlos und jeder sich selbst überlassen. Laisser-fair, sozusagen.

Lance: Für mich sind das zwei verschiedene Ebenen: Die eine ist inhaltlich, wie prägte man TDF ideell. Die andere ist die praktische Umsetzung. Wollen oder können wir jede und jeden kontrollieren? Bei der Fastnacht tanzen auch Leute aus der Reihe, und vielleicht merkt man es, aber dann zu spät.

Jan: Wir haben z.B. mit allen, die einen Wagen fuhren und schützten, ein gemeinsames Vorgehen bezüglich Übergriffen, Notsituationen und Diskriminierung abgemacht.

megafon: Über Facebook kamen vor, während und nach den Umzügen Rückmeldungen von den Teilnehmenden. Viele würden sich über ein TDF 4 freuen, «aber bitte friedlich» – oder dass es «um Party, und nicht zu sehr um Politik» gehen sollte. Nehmt ihr diese Rückmeldungen ernst, die die Basis macht?

Lance: Ja. Es ging immer ums Politische. Unsere Inhalte wurden uns von Parteien, Medien und vielen Teilnehmenden abgesprochen bzw. verwässert. Das ist auch ein Grund, weswegen wir kein neues TDF organisierten. Und nochmal: Wenn die Polizei Gitter aufstellt und Tränengas verschiesst, können wir nichts machen. Dann ist die Eskalation da.

Jan: Bei den Leuten blieb das Positive zurück: TDF war toll, auch wenn es am Ende in Gewalt mündete. Wie nach absolvierten Militärdienst, sozusagen. (lacht)

megafon: Hätte es ohne Eskalation weitere TDFs gegeben?

Jan: Wahrscheinlich nicht. Das Interesse nahm bei uns aufgrund der Entwicklung sowieso ab.

megafon: Wie wurde mit der Repression umgegangen? Konntet ihr von der Staatsanwaltschaft Verfolgten zur Seite stehen?

Jan: Teilweise ja. Wir wussten aber natürlich nicht von allen Schicksalen.

Was war vor «Tanz dich frei»? Lange nichts. An die «Reclaim the Streets» (RTS)-Tradition anknüpfend, versuchten die TDF-Organisierenden, Bewegung ins politisch etwas eingerostete Bern zu bringen. Die Themen Gentrifizierung, Stadtaufwertung, Kommerzialisierung und Überwachung beschäftigten grosse Teile der Gesellschaft. Die ausserparlamentarische Linke probierte neue Formen des Protests und des Engagements aus und traf im fröhlich-wilden Tanzumzug den Nerv der Zeit. Auch in Aarau, Zürich (z.B. vor der Binz-Räumung) und Winterthur finden ähnliche Umzüge statt. Luzern kennt die Tanzumzüge schon länger. Die Reaktionen von Polizei, Politik und Medien sind ähnlich wie in Bern: Abwartend, überfordert, repressiv. Ein Ausmass wie in Bern erreichte die RTS-Form nirgends. Das lag am Zusammenspiel von politischem Druck, geschlossenen Clubs, Veränderungswillen der Jugend.

megafon: Wie entstand der Name «Tanz dich frei»?

Lance: Wir wollten was Neues. Unbelastetes. Es hört sich fröhlich, entspannt und friedlich an. Eben nicht «Schlag die Stadt kaputt»…

megafon: Inhaltlich fand ich das, was ihr veröffentlicht habt, zu wenig.

Lance: Ja, das stimmt teilweise. Wir hatten schlicht zu wenige Ressourcen, um alles gut zu machen. Videos, Reden und einzelne Texte gab es aber. Die kann man sich nach wie vor anhören.

megafon: Ich glaube, dass es schwieriger geworden ist, Menschen zu politisieren und ihnen Inhalte einer alternativen Weltsicht näherzubringen. TDF war ein Versuch. Viele Menschen interessierten sich aber nicht für Inhalte.

Jan: TDF war ein sehr widersprüchliches Projekt. Es brachte viele Probleme mit sich: Oberflächlichkeit, Sexismus, Drogenkonsum. Von ausserparlamentarischen Kreisen wurden wir oft belächelt und uns der politische Anspruch abgesprochen. Dabei hätten sich die politischen Leute viel mehr einklinken müssen, um das Projekt stärker zu prägen. Die Partykultur ist heute nun Mal das, was die Menschen zusammenbringt.

Lance: Perfekt kriegst du es nie hin. Das Leben ist voller Widersprüche. Und der Staat machts einem auch nicht leicht. Ich finde es wichtig, dass man sich von der Komplexität der heutigen Zeit nicht abschrecken lässt und weiter die Bruchstellen des Systems sucht. Auch vom Szenen-Getue müssen wir weg. Lieber kleine Gruppen, als alles auf die Reitschule zu konzentrieren.

Jan: Ich glaube, Menschen politisieren sich dann wirklich, wenn sie Teil einer Bewegung oder eines Projekts werden. Wir hatten Leute, die ans TDF mit ihren Traktoren aus dem Gürbetal kamen. Die wählten vielleicht mal SVP. Durch die Integration und Öffnung für solche Menschen verbreitert man eine Bewegung.

megafon: Letzte Frage: Seid ihr rückblickend zufrieden mit dem Projekt «Tanz dich frei»?

Lance: Es war einmalig. In dieser Dimension und der Art und Weise kaum einzuordnen. Unser Hauptanliegen war ein Inhaltliches. Das müsste man nächstes Mal sicher mehr akzentuieren.

Jan: Anfangs war TDF für die linke Bewegung in Bern gedacht. Was dann geschah, überstieg unsere Vorstellungkraft: Unsere Botschaften wurden kantonal, national, ja sogar international beachtet. Politisch hätte man mehr herausholen können. «Tanz dich frei» war eine der grössten Protestbewegungen seit den 80er Jahren. Wir haben gesehen, welche Kräfte sich mobilisieren lassen, wenn zum Beispiel die Reitschule unter Druck gerät. Wenn Menschen sich selbst organisieren und solidarisieren, können sie sich die Strasse nehmen. Auch in diesem unfassbaren Ausmass. Das ist ein gutes Gefühl.

* Namen geändert

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