megafon | Ein Prozess auf Druck der türkischen Regierung?

20. Januar 2022

Ein Prozess auf Druck der türkischen Regierung?

Diese Woche begann in Bern, nunmehr fünf Jahre nach dem fraglichen Ereignis, der sogenannte «Kill Erdogan» Prozess. Anstatt jedoch – wie geplant – innert zwei Tagen mit einem erstinstanzlichen Urteil zu enden, konnte bis zum Ende des zweiten Prozesstages am Mittwoch 19. Januar 2022 erst das Beweismittelverfahren abgeschlossen werden. Die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sowie die Urteilseröffnung werden  am 2. und 9. März 2022 erwartet.

Ein Gastbeitrag des Antirep Bern, 20. Januar 2022

Ursache für diese Verzögerung war vor allem, dass sich der Prozess bisher hauptsächlich um  Rolle und Politik des türkischen Staates drehte: Dies zum Verdruss des vorsitzenden Richters. Die spezifischen Vorwürfe gemäss den als Anklageschrift dienenden Strafbefehlen wurden noch nicht diskutiert. Dass dieser Prozess der türkischen Regierung und insbesondere auch ihrem Präsidenten Recep Tayip Erdogan ein persönliches Anliegen ist und aktiv Druck auf die Schweiz ausgeübt wurde zeigte sich – wie eine der angeklagten Personen in der Einvernahme ausführte – bereits im Vorfeld dieses Prozesses. Zum einen wurde das Transparent, dessen Aufschrift («KILL ERDOGAN – with his own weapons») in diesem Prozess zur Diskussion steht – mehrfach in Reden des Präsidenten erwähnt. Hierbei wurden sowohl der Inhalt als auch der Kontext verfälscht wiedergegeben. Zum anderen kam das Verfahren mehrfach in diplomatischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der Türkei zur Sprache, wie sich anhand mehrerer Aktennotizen des Eidgenössichen Aussendepartements (EDA) in den Verfahrensakten zeigt. So wurde auch der Schweizer Botschafter in der Türkei im Nachgang an die fragliche Kundgebung  von der türkischen Regierung einbestellt.

 

Die türkische Botschaft in der Schweiz erkundigte sich direkt hinsichtlich des Verfahrens und der «Internierung» möglicher Verdächtiger. Dieselbe Botschaft, welche im Sommer 2016 in die versuchte Entführung eines türkischen Geschäftsmannes aus der Schweiz in die Türkei verwickelt war. Die Verteidigung einer der Angeklagten versuchte denn auch mehrfach, bis zum Ende des Beweismittelverfahrens die verantwortlichen Personen des EDA hinsichtlich der versuchten Einflussnahme der Türkei als Zeug*innen vorzuladen. Dies wies der Richter als «sachfremd» ab.

Der scheinbare Journalist

Die Verwendung dieses Prozesses als Propagandamittel durch die türkische Regierung wurde bereits am ersten Verhandlungstag klar sichtbar. Das Gericht hatte über einen Antrag der Verteidigung zum Ausschluss eines Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Anadolu (der in den 1920ern gegründeten staatlichen türkischen Nachrichtenagentur, welche nun als Sprachrohr der AKP und des türkischen Staates gilt) zu befinden. Dieser bezeichnete die Angeschuldigten um 7.00 Uhr, also eine Stunde vor Prozessbeginn, über Twitter als «Terroristen» und verstiess damit nicht nur gegen Prinzipien der journalistischen Ethik, sondern auch gegen die Unschuldsvermutung (Art. 32 BV). Der als  Journalist akkreditierte Mitarbeiter von Anadolu wurde am zweiten Tag dann auch verwarnt, aber nicht ausgeschlossen.

Zeugenperson als Direktbetroffene von Erdogans Machenschaften

Mit Beginn des Beweismittelverfahrens erweiterte sich die Frage nach der Relevanz der türkischen Politik für dieses Verfahrens um die Ebene, inwiefern die Handlungen und Gräueltaten des türkischen Regimes – gerade auch im zeitlichen Umfeld der Kundgebung vom März 2017 – als Kontext für die Botschaft des fraglichen Transparentes relevant sind. Dies zeigte sich bereits bei der Befragung der ersten Zeugnisperson, einer im Frühjahr 2017 aus der Türkei geflohenen politisch aktiven Person, die den islamistisch motivierten Selbstmordattentates im Sommer 2015 in der kurdischen Stadt Suruc im Süden der Türkei überlebt hat. Diese Einvernahme wurde von der Verteidigung zur Erläuterung von persönlichen Erfahrungen mit der Politik der türkischen Regierung beantragt. Auch hier zeigte sich, dass der Richter hauptsächlich an der wörtlichen Bedeutung des Transparentes und den konkreten Vorwürfen gemäss Strafbefehl interessiert war und den politischen Kontext, in dem sich dieser Prozess und die Botschaft des Transparentes abspielt, auszublenden versuchte.  So drehten sich dessen Fragen denn auch weniger um die damalige politische Lage in der Türkei, als vielmehr darum, wie das fragliche Transparent von der «türkischen Bevölkerung» aufgenommen und interpretiert wurde. Ausführungen der Zeugnisperson zur politischen Lage wurden mehrfach unterbrochen.

Mangelhafte Übersetzung

Erschwert wurde diese Einvernahme auch dadurch, dass sich der beigezogene Übersetzer der Zeugnisperson gegenüber eher herablassend verhielt und deren Aussagen oft verkürzt oder gar inkorrekt übersetzte. Dies zeigte sich etwa daran, dass allgemeine Aussagen (iSv: Das Transparent sollte allgemeine Kritik formulieren) oftmals in der 1. Person Plural (iSv: Wir wollten mit dem Transparent eine allgemeine Kritik formulieren) übersetzt wurden. Was dann auch dazu führte, dass der Richter begann, Fragen hinsichtlich einer möglichen (strafrechtlich relevanten) Beteiligung der Zeugin zu stellen, was von der Verteidigung danach in ihrer Befragung korrigiert werden musste. Durch diese inadäquate Übersetzung wurde somit eine Person in die Nähe potentieller Straftaten gerückt, deren Familie bereits im Vorfeld der Verhandlung aufgrund eines Tweets zu diesem Prozess in der Türkei mit einer Hausdurchsuchung konfrontiert worden war.

Worum es geht, darüber ist man sich nicht einig

Den beschuldigten Personen war es in erster Linie ein Anliegen, auf diesen weiteren politischen Kontext aufmerksam zu machen und sie verweigerten weitere Aussagen zu den konkreten Vorwürfen. Die erste angeklagte Person erwähnte dabei vor allem das völkermörderische Verhalten der türkischen Regierung – etwa durch den Angriffskrieg in Nordsyrien, Giftgaseinsätze auch gegen die Zivilbevölkerung, die jahrzehntelange Inhaftierung vermeintlicher politischer Gegner*innen oder die Unterdrückung der kurdischen Sprache sowie weitere Formen der ethnischen Säuberung – und widmete den Ermordeten dieser Politik eine Schweigeminute, der alle Angeklagten, Besuchenden und einige Journalist*innen folgten. Ausserdem verwies die beschuldigte Person darauf, dass die Schweiz als wichtiger Investor (aktuell Platz 7) in der Türkei ein grosses Interesse an einer guten Beziehung zu deren Regierung hat und dafür die Augen vor jeglichen Verbrechen verschliesse. Eine weitere Person fokussierte auf die sexistische und frauenfeindliche Politik der AKP – etwa durch Kündigung der Istanbul-Konvention, die Senkung des Heiratsalters oder die Entkriminalisierung von Vergewaltigungen – während eine weitere angeklagte Person versuchte anhand des Bauprojekts für den Istanbul-Kanal auf die klimaschädlichen Auswirkungen der türkischen Politik einzugehen. Der Richter reagierte jedoch zunehmend ungehalten und begann die Angeklagten immer häufiger zu unterbrechen. Dies endete erst, als die Verteidigung bei der letzten Einvernahme darauf hinwies, dass sich die angeklagte Person gerade zu Punkten äussere, die sich auf konkrete Aktenstücke beziehen und dies deshalb nicht als sachfremd abgebrochen werden könne. Trotz den Versuchen des Richters, die politische Ebene des Prozesses auszublenden und als isolierte Frage zu betrachten, liessen sich die Angeklagten und deren Verteidigung nicht beeindrucken und konnten den Inhalt der Verhandlung bisher weitestgehend dominieren.

Experte für visuelle Kommunikation im Zeugenstand

Hinsichtlich der Frage der konkreten Botschaft des fraglichen Transparents äusserte sich neben der erwähnten Zeugnisperson (die aussagte, dass dieses Transparent eher als eine allgemeine Kritik, denn als konkreter Handlungsaufruf verstanden wurde), vor allem die zweite vorgeladene Zeugnisperson noch ausführlicher. Als Fachperson im Bereich der Bildsprache und visuellen Kommunikation wies sie darauf hin, dass gerade bei Transparenten und ähnlichen politischen Parolen immer der jeweilige Kontext einzubeziehen sei und oftmals mit verkürzten Botschaften, Wortspielen und Metaphern gearbeitet wird (wie etwa einer brennenden Erdkugel als Symbol für die Klimaerwärmung). Die Aussage auf dem Transparent kann in diesem Kontext deshalb nur schwer wörtlich verstanden werden, auch weil es wohl eher auf die zugrunde liegenden Institutionen (Erdogan in seiner Funktion als Präsident des türkischen Staates) und weniger auf die spezifische Person zu beziehen sei.

Das Beweisverfahren endete schliesslich wieder mit der Frage nach der Einmischung der türkischen Regierung in dieses Verfahren. Die Angeklagten machten darauf aufmerksam, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren kaum Interesse an diesem Prozess zeigten und nur aufgrund politischen Druckes überhaupt vor Gericht stünden. Die letzte Einvernahme einer angeklagten Person, der vorgeworfen wird, auf dem Wagen, an dem das Transparent angebracht war eine Musikbox ausgerichtet zu haben und sich somit dem Aufruf zu Gewalt schuldig gemacht zu haben, endete dann auch mit der Frage der angeklagten Person an die Staatsanwaltschaft, weshalb diese überhaupt persönlich in diesem Prozess auftrete. Dies, weil nicht nur das geforderte Strafmass weit unter der üblichen Schwelle für ein persönliches Erscheinen der Staatsanwaltschaft liegt, sondern der zuständige Staatsanwalt im Vorfeld auch mehrfach betonte, dass er nicht persönlich erscheinen werde. Dieser vertröstete die angeklagte Person mit der Aussage, dass er auf diese Frage im Rahmen seines Plädoyers zu sprechen komme, welches den Auftakt zum zweiten Teil dieses Prozesses bilden wird.

Quellen:
www.heise.de -> Krieg-im-Nordirak-Schwere-Giftgas-Vorwuerfe-gegen-Tuerkei

www.seco.admin.ch -> tuerkei.pdf

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