megafon | Nach Afrin-Demo-Urteil: «Veränderungen beim Paragraf Landfriedensbruch wünschenswert»  

11. April 2022

Nach Afrin-Demo-Urteil: «Veränderungen beim Paragraf Landfriedensbruch wünschenswert»  

Interview mit Dominic Nellen, Rechtsanwalt bei der «Anwaltskanzlei Kiener & Nellen», zum Präzedenzurteil des Obergerichtes wegen der «Afrin-Demo» 2018 – und was Betroffene jetzt tun können.

Interview: ffg

Herr Nellen, im Januar 2022 wird eine Teilnehmerin einer Demonstration vom Obergericht vom Vorwurf des «Landfriedensbruch» freigesprochen. Worum ging es bei dieser Demonstration?

Die Demonstration fand 2018 im April statt. Es ging um ein Zeichen gegen die Besetzung des kurdisch-syrischen Kantons Afrin durch das türkische Militär. Rund 240 Personen wurden damals beim Bahnhof durch die Kantonspolizei Bern eingekesselt. Sie alle erhielten etwa ein Jahr später Strafbefehle mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs.

Eine Betroffene machte Einsprache. Im September 2020 wurde sie vor dem Gericht freigesprochen.

Genau. Die Person wurde vom Regionalgericht Bern-Mittelland freigesprochen. Parallel dazu hatten aber bereits dutzende Personen keine Einsprache gegen ihren Strafbefehl gemacht und waren somit rechtskräftig verurteilt. Nachdem eine weitere damals festgenommene Person von diesem Urteil erfuhr, stellte sie einen Revisionsantrag.

Der akzeptiert wurde?

Nein. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin machte die Betroffene eine Beschwerde dagegen beim Obergericht des Kantons Bern. Im Januar 2022 entschied das Obergericht, dass die Beschwerde berechtigt sei. Ausserdem war im Rahmen des «Kill-Erdogan»-Prozesses, wo im März die Urteile ergingen, die Afrin-Demo ebenfalls Thema – auch hier wurden die Beschuldigten wegen des Vorwurfes des Landfriedensbruchs freigesprochen.

Wie argumentierte das Obergericht?

Betreffend Landfriedensbruch muss man wissen: Es ist ein sogenannter Gummiparagraf, der viel Interpretationsspielraum beinhaltet. Ausserdem ist es ein «Mitgehangen, mitgefangen»-Artikel im Strafgesetzbuch – par exellence. Wenn nur eine Person Gewalt anwendet, können die Strafverfolgungsbehörden alle zu diesem Zeitpunkt sich in der Nähe aufhaltenden Menschen wegen Landfriedensbruch anzeigen. Das Obergericht argumentierte, dass an der Demo damals «keine friedensbedrohende Grundstimmung» und «keine aus der Demonstration hervorgehende Gewaltausübung» festgestellt werden konnte. Das Obergericht stützte sich auch auf den Polizeirapport, der von «Feststimmung» im Polizeikessel sprach.

Was bedeutet das für die über 200 Menschen, die ja immer noch als «verurteilt» gelten?

Grundsätzlich unterliegen alle Demo-Teilnehmenden der gleichen Situation. Aufgrund des Urteils des Obergerichts existiert jetzt ein Revisionsgrund für jede betroffene Person. Wichtig ist: Dieses Revisionsgesuch muss selbstständig beim Obergericht eingereicht werden. Und zwar bis maximal drei Monate nach der «Kenntnisnahme» des neuen Urteils.

Was ist daran problematisch?

Obwohl alle damals Eingekesselten nun de jure freigesprochen werden würden, muss de facto jede Einzelperson um diese Revision ersuchen. Tut sie es nicht, bleibt sie verurteilt. Das ist enorm problematisch. Vereinfachend und gerecht wäre es, wenn die Justiz die Betroffenen kontaktieren und auf die Revisionsmöglichkeit aufmerksam machen würde. Oder die Revisionsverfahren sogar von Amtes wegen einleiten würde.

Was bedeutet das für die Finanzen der Betroffenen – und diejenigen des Kantons? Gibt es die Hoffnung, dass sich die Staatsanwaltschaft das nächste Mal besser überlegt, ob sie 250 Menschen anzeigt?

Wer jetzt ein Revisionsgesuch stellt, der oder die erhält Busse, Verfahrenskosten und Anwaltskosten zurückerstattet und eventuell eine Entschädigung. Das lohnt sich also bereits finanziell. Zudem wird der Strafregistereintrag gelöscht. Für den Kanton könnten alle Revisionsverfahren jedoch enorm teuer werden – rund 200`000 Franken, schätze ich, fallen an Gesamtkosten für Verfahren, Revisionen, Anwält*innen, etc. an. Ich erhoffe mir schon sehr, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Lehren ziehen und zurückhaltender verurteilen. Ist es in einer Situation wie im April 2018 wirklich angebracht ist, Hunderte festzunehmen und danach die riesige bürokratische Maschine anzuwerfen, wenn die Erfolgsaussichten für eine Verurteilung gering sind? Und ich würde mir wünschen, dass sich die Gerichtspraxis ändert, und all diejenigen, die in derselben juristischen Situation stecken, schnell und unkompliziert freigesprochen werden.

Du willst ein Revisionsgesuch machen zu jenem spezifischen Fall? Schick uns eine Mail an megafon@reitschule.ch.

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