megafon | Isolation um jeden Preis

9. Oktober 2020

Isolation um jeden Preis

Text: Basil Schöni

Während die Klimabewegung den Bundesplatz besetzt, demonstrieren in Bern zum wiederholten Male Geflüchtete gegen ihre Isolation am Rand der Gesellschaft. Die Polizei geht mit Härte gegen die friedliche Kundgebung vor. Nun muss sie sich in mindestens acht Fällen dem Vorwurf der Übergriffigkeit stellen. Das Megafon hat die Geschehnisse dokumentiert – und der Polizei Fragen gestellt.

Geflüchtete wurden unter Gewaltanwendung daran gehindert, für ihre Rechte zu demonstrieren (Bild: jrm).

Bern, Kornhausplatz. Es ist Dienstag, der 22. September 2020. Mehrere hundert Geflüchtete laufen in einer Kundgebung über die Kornhausbrücke. Ihr Ziel: Der Bundesplatz. Ihre Forderung: «Stop Isolation» – Schluss mit der Isolation im Asylsystem. Einem System das ihnen verbietet, zu arbeiten. Verbietet, eine Berufslehre zu absolvieren. Verbietet, sich frei zu bewegen. Kinder können keine Spielgruppe besuchen, Erwachsene müssen jeden Tag eine Unterschrift abgeben. Wer dies nicht tut, riskiert die 8 Franken am Tag, die den Menschen das einzig mögliche Einkommen ist.

Am Ende der Kornhausbrücke trifft die Demonstration auf eine Polizeikette. Polizist*innen in Kampfmontur versperren der Demo den Weg. Sie sind gerüstet mit Gummischrotgewehren, Schildern und Reizgas. An der Schulter tragen sie die Kennnummern 210, 211 und 213. Bereits am Bollwerk hinderten ihre Kolleg*innen die Demonstration daran, in die Innenstadt zu gelangen – einmal mehr werden die abgewiesenen Asylsuchenden isoliert.

Diese Isolation hat Folgen. Laut dem «Migrant Solidarity Network», einer NGO die sich für die Rechte von Migrant*innen einsetzt, begingen bereits zwei Personen Suizid, seit das Asylregime verschärft wurde. Ein weiterer Geflüchteter beging vor dem Bundeshaus einen Suizidversuch, indem er sich mit einer brennbaren Flüssigkeit übergoss und anzündete. Die Hintergründe dazu haben wir im August recherchiert.

Massoud, ein aus dem Iran geflüchteter Kurde, erhielt die Ablehnung seines Asylentscheides am 28. Mai. In der Nacht darauf beging er einen ersten Suizidversuch. Später erfuhr er, dass seine Dokumente vom Staatssekretariat für Migration an einen iranischen Anwalt gesendet wurden, der Hinweisen zufolge auch für den iranischen Staat arbeitet. Zwei Wochen später war Massoud tot. Seine Geschichte hat das Migrant Solidarity Network dokumentiert.

Ein Kundgebungsteilnehmer im Spital

Dass schweizerische Behörden Daten von abgewiesenen Asylsuchenden an ausländische Regimes weitergeben, scheint dabei kein Einzelfall zu sein. Wie «Watson» berichtete, erhält auch die Diktatur in Eritrea Informationen zu Geflüchteten direkt vom schweizerischen Staat. Auch dagegen wird an diesem Dienstagnachmittag protestiert.

Es ist 14:47 Uhr. Die Geflüchteten stehen vor den Polizist*innen, die sie von der Innenstadt fernhalten wollen. Und dafür auch Gewalt anwenden werden. «Stop Isolation»-Rufe ertönen. Um 14:51 kündigt ein Polizist den Einsatz von «Zwangsmitteln» an – einem Euphemismus für sogenannt «weniger tödliche» Waffen wie Reizgas, Gummigeschosse oder Schlagstöcke. Die Ankündigung wird mit Buhrufen und Pfiffen quittiert. Die Wut über das Vorgehen der Staatsmacht ist gross.

Die Wut ist gross. Ein paar Männer laufen der Gewaltandrohung zum Trotz geradeaus in die Polizeikette. Sofort wird Reizgas in die Menge gesprüht. Die Menschen weichen zurück. Ein Mann geht zu Boden. Er stand vorne in der Kundgebung und hatte sich – wie der Rest der Demo – durchwegs friedlich verhalten. 9 Minuten und 50 Sekunden später wird auch die Polizei darauf aufmerksam, dass der Reizgaseinsatz bei ihm einen medizinischen Notfall ausgelöst hat.

Ein Bernmobil-Angestellter rast mit einem E-Bike heran und bringt einen Defibrillator zum Verletzten. Die Sanität wird gerufen, der Mann ins Spital gebracht. Wie die Polizei am Tag darauf gegenüber dem Megafon bekannt gibt, konnte der Mann das Spital wieder verlassen. «Gemäss unserem Kenntnisstand hatte die Person keine schwerwiegenderen gesundheitlichen Probleme», schreibt die Medienstelle.

Am Kornhausplatz erzwingt die Polizei den Stopp der Demonstration. Kurz darauf wird Pfefferspray eingesetzt (Bild: jrm).

Acht Übergriffsvorwürfe

Dieser erste «Mitteleinsatz» sollte der Auftakt sein für einen Nachmittag polizeilicher Gewaltanwendung, der von Amnesty International, den Demokratischen Jurist*innen Bern, dem Migrant Solidarity Network, dem Solinetz Zürich, dem Verein AntiRep Bern, den Jungen Grünen Kanton Bern, der Alternativen Linken Bern und dem Klimastreik Schweiz kritisiert wurde. Die Alternative Linke und die SP reichten im Grossen Rat des Kantons Bern zwei Vorstösse ein, welche die Verhältnismässigkeit des Einsatzes und die Gewährleistung der Pressefreiheit hinterfragen. Das Migrant Solidarity Network hat Stimmen von Betroffenen gesammelt.

Nach dem ersten Zusammentreffen am Kornhausplatz zieht die Demonstration zuerst auf den Waisenhausplatz weiter, wo sie erneut von einer Polizeikette am Betreten der Innenstadt gehindert wird. Nach einer Weile bewegt sie sich zum Bollwerk, wo sie von Gummigeschossen und einem Wasserwerfer empfangen und auf die Schützenmatte gedrängt wird. Erst als nach einiger Zeit eine Solidaritätsdemo vom gleichzeitig stattfindenden Klimastreik hinter der Polizeikette eintrifft, ziehen sich die Einsatzkräfte zurück und lassen die Stop-Isolation-Kundgebung endlich gewähren. Gemeinsam ziehen die nun vereinten Demos zum Bundesplatz.

Das Megafon war während der gesamten Demonstration mit vier Reporter*innen vor Ort und hat die Ereignisse beobachtet. Zwei weitere Reporter*innen unterstützten unsere Berichterstattung zeitweise. Insgesamt sind uns 8 Fälle von zumindest fragwürdigem Verhalten der Kantonspolizei bekannt. Fünf davon haben unsere Reporter*innen unmittelbar beobachtet. Wir haben die Polizei mit unseren Fragen konfrontiert. Die Antworten finden sich im zweiten Teil dieses Textes.

Niemand übernimmt Verantwortung

Angesichts der Gewaltanwendung die an diesem Tag von der Kantonspolizei ausging, interessierte uns, wer das Ziel des Einsatzes festlegte. Wessen Entscheidung es also war, die Demonstration von der Hauptverkehrsachse und dem Bundesplatz fernzuhalten. Wir haben die Stadt Bern und die Kantonspolizei gefragt, wer diese Entscheidung  traf. Ob es entsprechende Anweisungen des Gesamtgemeinderates oder des Sicherheitsdirektors gab. Oder ob die Kantonspolizei das harte Vorgehen eigenständig beschlossen hat.

Die Kantonspolizei wollte uns darauf keine Antwort geben. Sie verwies dazu auf unsere vorherigen Anfragen (welche die Frage nach der Verantwortlichkeit nicht enthielten) sowie auf die hängigen Vorstösse.

Die Medienstelle der Stadt Bern verwies uns an die Kommunikationsstelle der Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie (SUE). Dort teilte man uns mit, dass es sich bei der Demonstration um keine «planbare Veranstaltung» nach Seite 67 des Gemeindeleitfadens der Kantonspolizei Bern handelte und darum auch kein entsprechendes Dokument existiert, welches die Vorgaben des Gemeinderates an die Kantonspolizei dokumentiert.

Auf die Frage nach den «übergeordneten Vorgaben» für «nicht planbare Veranstaltungen» gemäss Seite 68 des selben Dokumentes, erhielten wir keine klare Antwort. Die Kommunikationsverantwortliche der Direktion SUE teilte uns mit, dass es möglicherweise mündliche Absprachen zwischen Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) und der Kantonspolizei gegeben habe. Weil dieser allerdings nicht erreichbar war, konnte uns dies nicht mit Sicherheit bestätigt werden.

Wie so oft bei umstrittenen Polizeieinsätzen in der Stadt Bern bleibt die Frage nach der Verantwortung also ungeklärt. Auch (oder gerade) im aktuellen Wahljahr scheint sich der Gemeinderat immer noch davor zu scheuen, offen zu seinem Einfluss auf das Vorgehen der Polizei zu stehen. Ob das nach den kommenden Wahlen ändern wird? Es bleibt zu bezweifeln.

 


 

Die Vorwürfe – Die Fragen – Die Antworten

1. Hospitalisierung nach Pfeffersprayeinsatz

Das erste Zusammentreffen der Stop-Isolation-Demonstration mit der Kantonspolizei Bern endete – wie oben beschrieben – in einem Notarzteinsatz und der Hospitalisierung eines Demonstrationsteilnehmers. Laut der Medienstelle der Kantonspolizei «musste» wegen den Einzelpersonen, welche die Polizeisperre zu umgehen versuchten, «Reizstoff eingesetzt werden».

Dass unmittelbar nach diesem Reizstoffeinsatz eine Person zu Boden ging, wurde von den anwesenden Beamten nicht bemerkt, wie uns die Polizei bestätigte. Erst nach einer entsprechenden Meldung bewegten sich zwei Polizisten zum Verletzten und unterstützten die Erstversorgung, die von Demonstrationsteilnehmenden begonnen worden war.

Eine Person erleidet nach dem Reizgaseinsatz der Polizei einen medizinischen Notfall und wird von Kundgebungsteilnehmenden erstversorgt. Nach beinahe 10 Minuten wird auch die Polizei darauf aufmerksam und unterstützt die Erstversorgung des Verletzten (Bild: jrm).

In ihrer Antwort auf unsere Anfrage behauptete die Polizei weiter, dass die zwei Polizisten «zur Sicherheit» einen Defibrillator auf sich trugen. Wir teilten der Medienstelle mit, dass diese Information nicht stimmt, da der Defibrillator von einem Bernmobil-Mitarbeiter zum Verletzten gebracht wurde. Auf unsere Nachfrage, wie es zu dieser Falschinformation kam und welche medizinische Ausrüstung die Polizei während eines solchen «Mitteleinsatzes» mitführt, wollte die Kantonspolizei keine Stellung nehmen.

In der Medienmitteilung, welche die Polizei nach dem Einsatz veröffentlichte, erwähnte sie, dass zwei Personen – «ein Kundgebungsteilnehmer sowie ein Polizist» – verletzt und ins Spital gebracht wurden. Das Megafon weiss von mindestens zwei weiteren Personen, die sich selbstständig im City-Notfall in medizinische Pflege begaben. Das Migrant Solidarity Network schreibt zudem von weiteren durch die Polizei verletzten Personen.

Auf unsere Nachfrage teilte die Polizei mit, dass der verletzte Polizist durch einen Steinwurf an der Hand verletzt wurde und dass er als Folge davon eine Woche lang nicht im Aussendienst tätig sein könne. Über die Arbeitsfähigkeit des hospitalisierten Kundgebungsteilnehmers machte sie keine Angaben.

 

2. Angriff auf Passanten mit Kinderwagen

Eine Videoaufnahme die hinter der Polizeikette am Waisenhausplatz entstand und uns in ungepixelter Fassung vorliegt, zeigt einen Polizisten in Kampfmontur, der zuerst einen Passanten mit Wucht umstösst, sodass dieser zu Boden fällt. Ein weiterer Passant mit Kinderwagen kommt hinzu, beschwichtigend die Hand erhoben. Gleichzeitig stossen mehrere Polizisten zum Geschehen, einer zieht seinen Schlagstock. Ein anderer Beamter schlägt dem Mann mit dem Kinderwagen mit der Faust in den Oberkörper. Dabei stösst er beinahe den Kinderwagen um, in welchem sich zwei Kinder befinden.

Ein Passant mit Kinderwagen wird von Polizisten angegriffen.

Gegenüber «Watson» sagte die Kantonspolizei, was sie bei solchen Videoaufnahmen oft sagt: Dass die Bilder nur «eine Momentaufnahme» zeigten, die Personen die Arbeit der Polizei behindert hätten, die Betroffenen ja Anzeige erstatten könnten, und der Vorfall «detailliert abgeklärt» werde.

Da unsere Reporter*innen diesen Vorfall nicht unmittelbar beobachteten und andere anwesende Journalist*innen bereits detailliert berichtet hatten, haben wir der Kantonspolizei keine weiteren Fragen zu diesem Vorfall gestellt.

 

3. Gummischroteinsatz unterhalb der Mindestdistanz

Als die Demonstration vom Waisenhaus zum Bollwerk zog und dort Richtung Bahnhof abzweigen wollte, setzte die Polizei mehrfach Gummigeschosse ein und drängte die Menschen damit nach hinten auf die Schützenmatte. Bei solchen Schüssen gilt (sofern keine Notwehrsituation vorliegt) die sogenannte «praktische Einsatzdistanz» von 20 Metern. Messungen des Megafon aufgrund von uns vorliegendem Videomaterial und den Strassenmarkierungen am Bollwerk ergaben, dass sich zwischen der vorrückenden Polizeikette und der zurückweichenden Demonstration zu diesem Zeitpunkt nur ungefähr 18 Meter befanden. Die «praktische Einsatzdistanz» wurde also knapp unterschritten.

Die Polizei beschiesst die zurückweichende Demonstration mit Gummigeschossen. Dabei unterschreitet sie die «praktische Einsatzdistanz» von 20 Metern.

Wir baten die Polizei um eine Stellungnahme zu dieser Unterschreitung der Mindestdistanz. Wir wollten zudem wissen, wie die Einhaltung der Mindestdistanzen bei Gummischrot- und Wasserwerfereinsätzen sichergestellt wird, d.h. ob tatsächlich eine Messung durchgeführt wird, oder die Entfernung lediglich geschätzt wird. Auch wer für die Einhaltung der Distanzen die Verantwortung trägt, interessierte uns.

Die Kantonspolizei wollte uns auf keine dieser Fragen eine Antwort geben. Sie verwies auf unsere zuvor gestellten Anfragen (welche diesen Vorfall nicht betrafen), sowie auf die zwischenzeitlich eingereichten parlamentarischen Vorstösse zum Polizeieinsatz.

 

4. Behinderung unserer Berichterstattung

Während die Demonstration durch den Einsatz von Gummigeschossen und einem Wasserwerfer Richtung Schützenmatte getrieben wurde, errichtete die Polizei an der Ecke Bollwerk-Speichergasse kurzzeitig eine Polizeisperre. Als diese nach wenigen Minuten wieder aufgehoben wurde, blieben zwei Polizist*innen in zivil zurück und verwehrten unter anderem zwei Reporter*innen von uns den Zugang zum laufenden Polizeieinsatz.

Als der Zivilpolizist von uns darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ein öffentliches Interesse an der Beobachtung dieses Einsatzes besteht, erwiderte dieser nur: «Dir chöit nöime angers häre.» Weitere Reporter*innen des Megafon wurden am unteren Bollwerk daran gehindert, die dortige Polizeiblockade zu passieren.

Die Beobachtung des Polizeieinsatzes war daher zeitweise nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

Auch zum Vorwurf der Behinderung unserer Arbeit wollte die Kantonspolizei mit Verweis auf unsere vorherigen Anfragen (welche diesen Vorfall nicht betrafen) sowie die eingereichten Vorstösse keine Stellung nehmen.

 

5. Vorgabenwidriger Wasserwerfereinsatz gegen passive Sitzblockade

Nachdem die Polizei die Demonstration unter «Mitteleinsatz» zur Schützenmatte getrieben hatte, befand sich auch hinter der Polizeikette am Bollwerk eine Menschengruppe mittlerer Grösse. Zur Neuausrichtung des Wasserwerfers liess die Polizei diesen rückwärts in Richtung Bahnhof fahren. Aus Protest gegen den Einsatz setzte sich eine kleine Gruppe von 6 Personen hinter dem Wasserwerfer auf die Strasse. Der Wasserwerfer fuhr auf wenige Meter an die winzige Sitzblockade heran und beschoss die Personen mit einem direkten Wasserstoss. Er visierte dabei grösstenteils ihre Köpfe an.

Eine passive Sitzblockade wird vom Wasserwerfer beschossen. Der «Wasserstoss» soll laut Kantonsregierung nur gegen «gewalttätige Störer» angewendet werden.

Wir wollten von der Polizei wissen, was die Mindestdistanzen für einen solchen Wasserwerfereinsatz sind. In ihrer Antwort schrieb die Medienstelle, dass ab einem Wasserdruck von 10 bar eine Mindestdistanz von 10 Metern und ab 18 bar eine Entfernung von 20 Metern vorgeschrieben ist. Unter 10 bar verringere sich zudem die Einsatzdistanz um einen Meter pro bar. Der Wasserdruck lässt sich gemäss Kantonspolizei von 3.5 bis 18 bar einstellen.

Auf unsere Nachfrage, welcher Wasserdruck bei diesem konkreten Beschuss eingestellt war, antwortete die Polizei, dass der Wasserdruck «gemäss ersten Abklärungen auf der geringsten Stufe eingestellt» war. Somit ergäbe sich eine Mindestdistanz von 3.5 Metern. Ob diese Entfernung eingehalten wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Schätzungen unserer anwesenden Reporter*innen ergaben eine Distanz von rund 3 Metern, was entweder ein knappes Einhalten oder eine knappe Unterschreitung der Mindestdistanz bedeutet.

Der Einsatz des direkten «Wasserstosses» gegen eine rein passive Sitzblockade ist aber unabhängig des eingestellten Wasserdrucks problematisch. Als im Jahr 2017 im Kantonsparlament über die Beschaffung des an diesem Tag eingesetzten Wasserwerfers beraten wurde, zeichnete der Regierungsrat des Kantons Bern nämlich ein anderes Bild der Einsatzbestimmungen dieses Gerätes.

In seinem Geschäftsvortrag zuhanden des Grossen Rates präsentierte die Kantonsregierung die 6 «Eskalationsstufen» des Wasserwerfers. Zur «Durchsetzung polizeilicher Verfügungen bei passivem Widerstand» – wofür diese Sitzblockade ein Paradebeispiel darstellen dürfte – ist laut Regierungsrat nur der sogenannte «Wasserregen» bestimmt. Der zum Einsatz gelangte «Wasserstoss» hingegen werde als «intensivste Einsatzart […] nur gegen gewalttätige Störer» angewendet.

Die vom Regierungsrat vorgelegten Eskalationsstufen des Wasserwerfers.

Die Kantonspolizei missachtete mit dem Einsatz des «Wasserstosses» gegen eine passive und nicht gewalttätige Sitzblockade also die Einsatzbestimmungen, wie sie dem Kantonsparlament vorgelegt wurden.

Zwar seien diese Eskalationsstufen bloss «nach Möglichkeit» einzuhalten; wenn dies aber bei einer lehrbuchhaften Situation wie jener Sitzblockade nicht eingehalten wird, muss sich die Polizei den Vorwurf gefallen lassen, die vorgesehenen Einsatzarten mutwillig zu missachten.

Dies schien nach einiger Zeit auch der Wasserwerferbesatzung klar zu werden, als sie nach mehreren Beschüssen schliesslich doch noch auf den «Wasserregen» umschaltete.

Auf unsere Frage, ob dieser Einsatz des Wasserwerfer tatsächlich das mildestmögliche Mittel gemäss Verhältnismässigkeitsprinzip war, antwortete die Polizei, dass ein Wegtragen nicht möglich gewesen sei, weil zu viele Personen im Gebiet anwesend waren und die Polizei mit Steinen angegriffen worden sei. Unsere Reporter*innen haben die gesamte Situation von Beginn der Sitzblockade an auf Video aufgezeichnet. Zu keinem Zeitpunkt kam es auf dieser Seite der Sperre zu Angriffen auf die Polizist*innen. Alle Anwesenden verhielten sich stets friedlich. Deshalb wollten wir wissen, wann und wo es auf dieser Seite der Kette angeblich zu Steinwürfen gekommen sei. Die «Antwort» der Medienstelle: «Es kam zu Steinwürfen auf Polizisten im Einsatzgebiet, was Auswirkungen auf das Dispositiv hatte.»

Auf die mutmassliche Vorgabenwidrigkeit des Einsatzes angesprochen, wollte die Polizei keine Stellung nehmen. Sie verwies stattdessen auf unsere vorherigen Anfragen (welche diesen Verstoss nicht zum Thema hatten) sowie auf die hängigen Vorstösse.

 

6. Vorgabenwidriger Wasserwerfereinsatz gegen sich entfernende Person

Im gleichen Zeitraum wie der Wasserwerfereinsatz gegen die Sitzblockade, ging die Polizei gegen die eigentliche Demonstration vor, welche sich am Rand der Schützenmatte befand. Videoaufnahmen zeigen dabei einen erneuten direkten «Wasserstoss» gegen eine sich entfernende Person. Von der Wucht des Stosses getroffen, wird die Person zu Boden geschleudert.

Eine sich entfernende Person wird vom Wasserwerfer beschossen und zu Boden geworfen.

Auch dieser Einsatz des Wasserwerfers widerspricht den vom Regierungsrat dargelegten Einsatzbestimmungen, nach welchen der direkte «Wasserstoss» ausschliesslich gegen «gewalttätige Störer» eingesetzt werde. Dass der Beschuss dieser sich friedlich verhaltenden Person aus Versehen und aus der unübersichtlichen Lage heraus getätigt wurde, scheint dabei unrealistisch. Zum einen stand die Person weder inmitten einer Personengruppe, noch erfolgten aus der unmittelbaren Umgebung irgendwelche Angriffe gegen die Polizei. Zum anderen ist der Wasserwerfer (das Modell PSV 9000 der Firma Ziegler) an den Dachkanonen mit Kameras ausgestattet, welche einen zielgenauen Einsatz ermöglichen dürften.

Auch auf diesen Vorfall und den Widerspruch zu den Einsatzarten, wie sie dem Parlament unterbreitet wurden, wollte die Polizei nichts sagen. Auch hier mit Verweis auf die vorherigen Anfragen (welche diesen Vorfall nicht betrafen) und die eingereichten Vorstösse.

 

7. Einschränkung der Bewegungsfreiheit nach rassistischen Kriterien

Wie Barbara Keller, Geschäftsleitungsmitglied von SP Frauen Schweiz und Juso Schweiz auf Facebook bekannt gab, wendete die Polizei an mindestens einer Polizeikette rassistische Kriterien an. Keller schreibt, dass es ihr jederzeit möglich war, die Polizeisperre zu durchqueren, ohne dass sie von den Beamten beachtet worden wäre. Andere Personen wurden währenddessen am Passieren gehindert. Als sie fragte, wieso ihr im Gegensatz zu den anderen Personen der Durchgang gewährt wurde, antwortete ein*e Polizist*in: «Weil du von da bist.»

Das Megafon war bei diesem Vorfall nicht unmittelbar anwesend. Trotzdem wollten wir von der Polizei wissen, was sie zum Vorwurf sagt, dass «migrantisch» aussehende Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden seien, während «schweizerisch» Aussehende in ihren Rechten offenbar nicht tangiert wurden. Auch auf diese Frage wollte uns die Kantonspolizei keine Antwort geben. Auch hier verwies sie auf unsere vorherigen Anfragen (welche diesen Vorfall nicht betrafen) und auf die eingereichten Vorstösse.

Barbara Keller (Juso) beobachtete rassistische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.

 

8. Behinderung und Wegweisung weiterer Medienschaffenden

Laut «Watson» behinderte die Kantonspolizei am Waisenhaus zwei Journalist*innen an ihrer Arbeit. Einer Journalistin einer Schweizer Tageszeitung wurde während des Vorfalls mit dem Kinderwagen offenbar von einem Polizisten die Hand auf die Kameralinse gedrückt, sodass sie beim Filmen des Faustschlags gestört wurde. Der «Watson»-Journalist selbst wurde von der Polizei für 24 Stunden weggewiesen.

Gegenüber «Watson» erklärt die Polizei, dass sich auch Journalist*innen an «Polizeianweisungen und -absperrungen» halten müssten, und dass es «nicht immer einfach» sei, Journalist*innen als solche zu erkennen. Wie mehrere Medienschaffende «Watson» zufolge beobachteten, waren die anwesenden Reporter*innen allerdings «mit Presseausweisen gut erkennbar». Mindestens zwei Journalist*innen reichten im Nachgang des Einsatzes Beschwerde ein.

Da wir diese Vorfälle nicht unmittelbar beobachtet haben und «Watson» bereits tiefgehend berichtete, haben wir der Polizei keine weiteren Fragen zu diesen Vorwürfen gestellt.

 

zu allen Neuigkeiten

Abo