Text und Fotos: daf
Durch ein neues Lebensgefühl, diese neue Realität, die sich innerhalb von wenigen Tagen breit gemacht hat, wird vieles obsolet. Texte zu gesellschaftlichen Themen verlieren von einem Tag auf den anderen an Relevanz, weil gewisse Entwicklungen nicht mitgedacht wurden. Diese Entwicklungen sind aber so relevant geworden, dass, ohne sie mitzudenken, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen ins Leere läuft. Welche Prämissen müssen wir ändern? Welche behalten wir? Ein Problem, dem sich dieser Text widmet.
Angefangen bei den Begrüssungsformen. Wie begrüsse ich Freundin* X oder Freund* Y? Männer* mit Handschlag. Frauen* mit Küsschen wie an einer Preisverleihung – voll sexistisch, Begrüssungsformen an das Geschlecht zu knüpfen – egal, diese Überlegung erübrigt sich. Wir halten zwei Meter Abstand.
Ich nehme das Buch über Beziehungsformen auf dem Nachttisch in die Hand. Da steht etwas über Krankheiten, die über ungeschützten Sex übertragen werden, doch dieses Wissen genügt nicht mehr. Schon eine Umarmung oder allgemein fehlender Abstand reicht, um als intimer Kontakt zu gelten. Du musst dich rechtfertigen, um Menschen nahe zu sein, sollst wissen, woher du kommst, mit wem du nahe warst. Keine Angst, ich habe meine Hände desinfiziert!
Wir müssen Bücher neu schreiben. Ein neues Epistem ist geboren. Diesem wird sich angepasst, nicht überall gleich, doch überall. Wie muss in Zukunft der Kontakt zwischen Kindern in der Schule geführt werden? Wird Quartierli-Geist wichtiger, überschaubare soziale Kontakte, um Ansteckungsketten zurückzuverfolgen? Lokale Produktion von Gütern, um autarker zu sein? Wissen, woher das Zeugs kommt, gleich wie: zu wissen woher du kommst, mit wem du nahe warst. Wie hältst du es mit der Hygiene? Ich zeig dir mein Trackingsystem, seit einem Monat war ich keinem Menschen näher als zwei Meter für mehr als zehn Sekunden. Ich bin safe.
Reisen ist schwieriger, viele Staaten verbieten Einreise ohne Quarantäne von mindestens zwei Wochen und Blutprobe beim Zoll. Reisen wird teurer, weniger Flugis überqueren den Atlantik. Reisende werden wieder mehr zu Abenteurer*innen. Homeoffice ist Pflicht, Meetings nicht online zu machen, wird als leichtfertig abgestempelt und ist nicht mehr zeitgemäss. Direkter Kontakt zu Menschen ist nur noch dort erlaubt, wo unbedingt nötig: In der Produktion von Gütern, im Gesundheitswesen, bei der Carearbeit und in Paarbeziehungen. Ein offenes Liebesleben wird zum Problem. Soziale Unterschiede werden grösser. Isoliert zu sein, muss man sich leisten können.
Die neuen Bedingungen schränken uns ein, isolieren uns voneinander. Dies zeigt sich auch in der Kulturszene. Partys werden exklusiver, Konzerte werden nur noch selten besucht, denn in einer Gruppe von Unbekannten fühlen sich viele nicht mehr aufgehoben. Private Raves, wo sich alle kennen, sind beliebt. Feiern unter sich.
Der Rahmen des Leichtsinns verschiebt sich. Eigene Massstäbe an das Verhalten ändern sich und werden von juristischen Schranken umzäunt. Demonstrationen werden nicht mehr bewilligt, die Teilnahme daran wird härter bestraft und die eigene Einschätzung verändert sich durch den gesellschaftlichen Diskurs. «Personenansammlungen sind grobfahrlässig», lernt man schon im Kindergarten. Das Private wird wieder politisch, wie 1968 und doch völlig anders. Damals ging es um die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, nun geht es um den gesellschaftlichen Zwang zur Distanz im Namen des öffentlichen Interesses.
Wir passen uns an, Tag für Tag.